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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
22./27. Juni 1908

Auf dem 6. Gewerkschaftskongreß der Generalkommission in Hamburg erklärt C. Legien in seinem Eröffnungsreferat: "'Wenn Deutschland heute das hervorragendste Industrieland ist und selbst England auf dem Weltmarkte verdrängen konnte, so danken wir dies nicht den Rüstungen, nicht der Vermehrung der Kanonen und Kriegsschiffe, nicht dem stehenden Heere, sondern zum größten Teile der Intelligenz der deutschen Arbeiter.' Heute gelten die Gewerkschaften als Machtfaktor, sowohl im Wirtschaftsleben, als auch im politischen Leben. Selbst die amtliche Statistik kann die Gewerkschaften nicht mehr entbehren, kann ohne sie keine Arbeiterstatistik treiben. Auf die Dauer sei ein Zustand nicht haltbar, daß die eine Reichsbehörde die Hilfe der Gewerkschaften in Anspruch nehme, während die andere sie als nicht vorhanden betrachte. Die Gewerkschaften werden sich aber die Anerkennung ebenso wie im Wirtschaftsleben, so auch auf rechtlichem Gebiete erzwingen. Sie bitten nicht darum und haben deshalb auch Abstand genommen, Regierungsvertreter zu diesem Kongreß einzuladen. Die Macht der Gewerkschaften sei gegeben; sie ist unabhängig davon, ob Regierungsvertreter an diesem Kongreß teilnehmen."
Zum ersten Mal wird die soziale Gesetzgebung in einem besonderen Referat behandelt, ein einheitliches Arbeitsrecht gefordert und ein 15 Punkte umfassendes sozialpolitisches Programm aufgestellt. Darin werden Arbeiterkammern, volle Koalitionsfreiheit, eine gesetzliche Grundlage für kollektive Arbeitsverträge, der achtstündige Arbeitstag, eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in der Woche, durchgreifende gewerbliche Hygiene, Unfallverhütung sowie Vereinheitlichung und Ausdehnung der Arbeiterversicherung unter der Selbstverwaltung der Versicherten gefordert. In der Präambel zu diesem Programm heißt es:
"Durch die technische und kapitalistische Entwickelung wird die Produktivität der Arbeiter gesteigert. Um alle Vorteile der Entwickelung ausnutzen zu können, vereinigen sich die Unternehmer in Kartellen, Arbeitgeberverbänden und ähnlichen Organisationen. Die Unternehmerverbände sind Machtfaktoren im wirtschaftlichen und politischen Leben, die den Kapitalprofit steigern, den politischen Einfluß der Unternehmer heben, aber die Arbeiter oft zu modernen Leibeigenen des Kapitals herabdrücken.
Die Abhängigkeit der Arbeiter vom einzelnen Unternehmer wird gesteigert durch Mietverträge bei Überlassung von Wohnungen, durch Pensionskassen und andere sogenannte Wohlfahrtseinrichtungen, die aus den für Arbeitslohn bestimmten Summen unterhalten werden. Die staatsbürgerlichen Rechte der Arbeiter, Freizügigkeit, Koalitionsrecht usw. werden beschränkt und oft völlig vernichtet durch Verträge der in Unternehmerverbänden organisierten Kapitalisten.
Der große Einfluß der Unternehmerverbände auf Gesetzgebung und Verwaltung wird ausgenutzt, um die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter zu steigern. Jedes Gesetz sucht der Centralverband zu formen, wie es dem Ausbeuterinteresse entspricht.
Dem Beispiele der Unternehmerverbände müssen die organisierten Arbeiter folgen und alle Gesetzesvorlagen darauf prüfen, wie sie für die Arbeiter im allgemeinen und für die einzelnen Berufe im besonderen wirken."
Der von der Regierung vorgelegte Entwurf von Arbeitskammern wird abgelehnt.
Der Boykott wird vom Kongreß als gewerkschaftliches Hilfsmittel bezeichnet, das die Arbeiterschaft als Konsument zur Unterstützung von Arbeitskämpfen benutzen solle. Die Beschlußfassung steht dem Gewerkschaftskartell, nach dem die betreffende Gewerkschaft einen Boykott angemeldet hat, zu, möglichst unter Hinzuziehung der politischen Arbeiterorganisation. Der Beschluß ist auch für die Arbeiterschaft anderer Orte bindend.
Den gewerkschaftlichen und wirtschaftlichen Bestrebungen der kaufmännischen und technischen Angestellten wird volle Sympathie bekundet. Der Kongreß beauftragt die Generalkommission mit der Einberufung einer Dienstbotenkonferenz. Die Kartelle sollen die Gründung von Dienstbotenvereinen fördern. Die Beseitigung der Gesindeordnungen und Dienstbücher und die völlige Koalitionsfreiheit für die Dienstboten und ländlichen Arbeiter sei dringend notwendig.
Der Kongreß erneuert die Forderung der Arbeiterschaft nach reichsgesetzlichem Heimarbeiterschutz und verlangt die reichsgesetzliche Regelung des Kost- und Logiszwanges. "Die in den Gewerkschaftsorganisationen organisierten Mitglieder sind zu verpflichten, ihre Frauen und Töchter, welche in gewerblichen Betrieben oder Heimarbeit beschäftigt sind und durch ihre Nichtorganisation den Fortschritt in den in Frage kommenden Gewerben hemmen, den in diesen Gewerben existierenden Gewerkschaftsorganisationen zuzuführen."
Der Kongreß erachtet die Beseitigung des § 115, Abs. 2 der Gewerbeordnung, so daß die Arbeitgeber in Zukunft verpflichtet sind, die Löhne bar auszuzahlen und bis zu dieser Regelung eine landesgesetzliche und kommunale Wohnungsreform als notwendig.
Der Kongreß stimmt dem Übereinkommen zwischen Generalkommission und Parteivorstand über den 1. Mai zu, wonach beide Organisationen gemeinsam für eine würdige Feier sorgen sollen unter Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen und beruflichen Verhältnisse. Die Unterstützungsfrage bei Aussperrungen soll indessen noch einmal überprüft werden, nachdem gegen die Übereinkunft, die Unterstützungen sollten von den örtlichen Gewerkschaften und Parteiorganisationen getragen werden, heftig protestiert worden war. Zu den immer wieder ausbrechenden Grenzstreitigkeiten erklärt der Kongreß: "Die gewerkschaftliche Entwickelung vollzieht sich unverkennbar in der Richtung des Zusammenschlusses der Organisation zu großen, leistungsfähigen Verbänden. In diese sich von selbst vollziehende Entwickelung von außen her, durch Konferenz- und Kongreßbeschlüsse einzugreifen, würde nur erschwerend und störend wirken und erweist sich deshalb eine endgültige Grenzregulierung durch solche Beschlüsse als untunlich.
Um ein gedeihliches Nebeneinander- und Zusammenwirken der Gewerkschaften zu gewährleisten, wird denselben unter Anerkennung des gegenwärtigen Organisationsstandes empfohlen, strittige Agitationsgebiete durch besondere Vereinbarungen mit den Centralvorständen der in Betracht kommenden Verbände abzugrenzen und alle Fragen der beruflichen wie gemeinsamen Agitation, des Uebertrittes von Mitgliedern und des Zusammenwirkens bei Lohnbewegungen durch feste Bestimmungen (Kartellverträge) zu regeln."
Der Kongreß stimmt der schon von den Gastwirtsgehilfen erhobenen Forderung nach gänzlicher Beseitigung der gewerbsmäßigen Stellenvermittelung und deren Ersatz durch öffentliche gemeinnützige Arbeitsnachweise voll zu.
Der Kongreß stimmt der Vereinbarung zwischen der Generalkommission und dem Vorstand des Verbandes der Konsumvereine zu, ohne auf den Zusatzbeschluß des Eisenacher Genossenschaftstages einzugehen.
In seinem Grundsatzreferat zur Jugendfrage wendet sich Robert Schmidt gegen "alle Vereinsspielereien und Vereinsmeiereien". "Um das Interesse der Jugend für die Arbeiterbewegung zu wecken, bedarf es keiner Vereine. Hier ist eine freie Betätigung durch Vorträge, im Sommer durch Ausflüge, zu entfalten, ohne irgendwelche große Vereinsorganisationen." In der gegen eine Stimme angenommenen - und vorher mit dem SPD-Parteivorstand abgestimmten - Resolution wird die gewerkschaftliche Jugendarbeit auf Bildungsveranstaltungen, auf Sport, Geselligkeit und Unterhaltung beschränkt. Selbständige Jugendabteilungen werden abgelehnt. Ausdrücklich wird festgestellt, daß "die wirtschaftliche Interessenvertretung und die Entscheidung über politische Parteifragen allein die Aufgabe der gewerkschaftlichen bzw. politischen Organisation" ist.
Die Generalkommission wird von 11 auf 13 Mitglieder erweitert. Als neue Mitglieder werden Gustav Bauer und Hübsch gewählt.



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