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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
23./30. Mai 1904

Auf dem Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine in Hannover stellt der Redakteur Goldschmidt - er spricht anstelle des erkrankten M. Hirsch - beim Tätigkeitsbericht des Verbandes in Abrede, daß die Aufhebung des Reverses irgend etwas an den Grundsätzen der Gewerkvereine geändert habe. Diese Grundsätze sind nach wie vor die der politischen und religiösen Neutralität und Unabhängigkeit. Von den anderen Gewerkschaften scheide die Gewerkvereine der Umstand, daß erstere partei- oder kirchenpolitische Zwecke verfolgen; von einer Verschmelzung mit ihnen könne keine Rede sein, höchstens von einem idealen Bündnis, beruhend auf gegenseitiger Anerkennung und Achtung.
Nach lebhafter Diskussion fordert der Verbandstag mit 40 gegen 17 Stimmen anstelle von paritätischen Arbeitskammern reine Arbeiterkammern, die auch für die Angestellten des Handelsgewerbes gelten sollen.
Der Verbandstag verlangt Ausdehnung der Arbeiterschutzgesetze, der Arbeiterversicherungsgesetze und Gewerbegerichte auf die gesamte Hausindustrie und Heimarbeit, Unterstellung der Heimarbeit unter die Aufsicht der Gewerbeinspektoren, Erlaß von Vorschriften über die Beschaffenheit und Einrichtung der Arbeitsräume in Verbindung mit Wohnungsinspektion, Verbot für Unternehmer, an Fabrik- und Werkstättenarbeiter Arbeit mit nach Hause zu geben. Von allen Heimarbeitern hat der Unternehmer und Zwischenmeister ein Verzeichnis mit Wohnungsangabe für die Gewerbeinspektion zu führen. Der Verbandstag richtet an die Staats- und Gemeindebehörden das Ersuchen, bei Submissionsvergebungen die Übernahme vertragsmäßig zu verpflichten, mindestens die in Staats- und Gemeindewerkstätten üblichen Lohnsätze zu zahlen und nicht die Arbeiten durch Zwischenmeister von Heimarbeitern anfertigen zu lassen.
Nachdem der Generalrat von Delegierten kritisiert worden war, am Heimarbeiterschutzkongreß nicht teilgenommen zu haben, verpflichtet der Verbandstag den Zentralrat, alle Kongresse, die die Förderung der allgemeinen Arbeiterinteressen bezwecken und zu denen die Organisationen der Gewerkvereine eingeladen werden, in ausreichendem Maße zu beschicken.
Zu den Tarifverträgen beschließt der Verbandstag: "In der Überzeugung, daß in dem Abschluß von Tarifverträgen eines der wirksamsten Mittel zur Milderung der Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, eine wichtige Vorbedingung zur Erhaltung unserer nationalen Konkurrenzfähigkeit und ein segensvoller Schritt zur Förderung der materiellen und sittlichen Hebung des Arbeiters und seiner Lebenshaltung gefunden werden muß, empfiehlt der Verbandstag den deutschen Arbeitgebern und Arbeitern, mit allem Nachdruck auf den Abschluß von Tarifverträgen hinzuwirken. Der Tarifvertrag gibt dem Arbeiter eine gewisse Stetigkeit seines Einkommens und wirkt so ordnend und bessernd auf seine Lebenshaltung.
Der Tarifvertrag übt aber auch denselben wohltätigen Einfluß auf den Unternehmer aus; dieser ist dann imstande, bei der Herstellung seiner Fabrikate und bei dem Abschluß von Lieferungsverträgen besser zu disponieren und umgibt seine Existenz mit größerer Sicherheit.
Nicht minder wichtig ist aber auch die ethische und moralische Bedeutung der Tarifverträge, denn sie bilden zugleich ein freiwilliges Anerkenntnis der Achtung und der Gleichberechtigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitern; sie wirken der Schürung des Klassenkampfes entgegen und zeigen den Weg zum sozialen Frieden."
Künftig sollen alle Frauen Mitglied im Gewerkverein der Frauen werden. "Zur Durchführung einer energischen Agitation können sich für größere zusammenhängende Bezirke Ausbreitungsverbände bilden, und zwar für folgende Bezirke: Rheinland-Westfalen, Süddeutschland, Mitteldeutschland, Schlesien mit Posen, Brandenburg mit den östlichen Bezirken. Diese Verbände erhalten eine jährliche Beihilfe."
Der Zentralrat ist berechtigt, solche Ausbreitungsverbände, die das Ansehen der Gewerkvereine schädigen, aufzulösen.
Der Verbandstag ersucht, "in Anbetracht der enorm wachsenden Arbeitgeberorganisationen, die sich in den letzten Monaten centralisiert und auf politischem wie wirtschaftlichem Gebiete den Kampf gegen die organisierte Arbeiterschaft aufgenommen haben (und in fernerer Erwägung der mit großen Schritten vorwärts eilenden freien Gewerkschaftsbewegung) - dieser Satz wird in der endgültigen Fassung gestrichen - die einzelnen Berufsgewerkvereine, in verschärfter Weise in die Agitation einzutreten und mit allen Mitteln eine vermehrte Anteilnahme am öffentlichen Leben herbeizuführen".



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