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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
29. Juni / 2. Juli 1902

Auf dem Kongreß der christlichen Gewerkschaften in München vertreten 43 Delegierte 21 Organisationen mit rund 85.000 Mitgliedern.
Der Kongreß empfiehlt die Gründung von Konsumvereinen als ein wichtiges Mittel zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter, gleichzeitig auch die allergrößte Vorsicht bei den Gründungen, da Mißerfolge schädlich für die gesamte Gewerkschaftsbewegung wirken müssen.
Der Kongreß bedauert, daß die Beschäftigung von Frauen, vor allem in der Großindustrie, verhältnismäßig zugenommen hat. Er ist jedoch der Auffassung, daß Fabrikarbeit von Arbeiterinnen aus hygienischen, sittlichen und wirtschaftlichen Gründen eingeschränkt werden soll.
Der Kongreß ist entschieden dafür, daß die Gesetzgebung gründlicher in den Arbeiterinnenschutz eingreifen muß als das bisher geschehen ist.
"Die Beschäftigung von Arbeiterinnen in Bergwerken und im Baugewerbe sowie in sämmtlichen Betrieben, deren Eigenart von schädlichem Einfluß in sanitärer und sittlicher Beziehung für die Arbeiterinnen ist, muß gesetzlich verboten werden.
Der gesammte gesetzliche Arbeiterinnenschutz ist nach Möglichkeit auf die Hausindustrie zu übertragen. Ferner ist den Arbeitgebern zu verbieten, den Arbeiterinnen, die im Gewerbebetriebe thätig sind, nach beendigter Arbeitszeit noch Beschäftigung mit nach Hause zu geben.
Da der bisherige Wöchnerinnenschutz von vier bzw. sechs Wochen unzulänglich ist, ist der Kongreß der Meinung, daß Wöchnerinnen während zwei bis vier Wochen vor und während acht Wochen nach ihrer Niederkunft nicht beschäftigt werden sollten.
Der Kongreß ist ferner entschieden der Ansicht, daß die Fabrikarbeit verheiratheter Frauen möglichst eingeschränkt werden muß. Es muß hier zunächst der achtstündige Maximalarbeitstag, welcher durch stufenweise allmähliche Einschränkung durch Halbtagsbeschäftigung ersetzt werden müßte, eingeführt werden.
Den Gewerbeinspektoren sind möglichst überall Assistenten und Assistentinnen zur Seite zu stellen, die aus dem Arbeiterstande hervorgegangen sind.
Der Kongreß erachtet die gewerkschaftliche Organisation der gewerblich thätigen Arbeiterinnen als eine zwingende Nothwendigkeit, sowohl aus sittlichen, als aus wirthschaftlichen Gründen. Diese Nothwendigkeit ist besonders vorhanden in denjenigen Berufen, wo die billigere weibliche Konkurrenzarbeit in großem Umfange eingedrungen ist und den Werth der Männerarbeit herabgedrückt hat, z.B. in der Textil- und Tabakindustrie. Die Abschaffung aller Fabrikarbeit der verheirateten Frauen wird als Ziel anerkannt, das aber zurzeit nicht zu verwirklichen sei, deshalb soll zunächst der Grundsatz, 'Gleiche Leistungen, gleicher Lohn', durchgeführt werden, um der Herabdrückung des Lohnes durch die Konkurrenz der Frauen entgegenzuarbeiten. Die Arbeiterinnenorganisation soll eine gewisse Selbständigkeit erhalten. Bei der Agitation, welche zwecks Erziehung einer intensiveren Betheiligung der Arbeiterinnen am Gewerkschaftsleben entfaltet werden muß, ist jedoch aus prinzipiellen und taktischen Gründen auf die sittliche Stellung der Frau in der Gesellschaft, zumal in der Familie, und die oft eigenartigen Bedürfnisse der Arbeiterinnen die weitgehendste Rücksicht zu nehmen. Es empfiehlt sich sehr, innerhalb der Organisation baldigst eine hinreichende Zahl von weiblichen Vertrauenspersonen zu ernennen, welche den Vorständen zur Seite stehen. Für jugendliche Arbeiter ist das gesetzliche "Schutzalter" von 16 auf 18 Jahre heraufzusetzen."
Nach heftigen Auseinandersetzungen des Gewerkschaftsausschusses und dem Vorsitzenden des Metallarbeiterverbandes Wieber beschließt der Kongreß mit 29 gegen 6 Stimmen: "So lange der derzeitige christlich-soziale Metallarbeiterverband das persönliche Verhalten und die Kampfesweise seines Vorsitzenden Wieber, die mehrfach gegen den Ausschuß und die Interessen des Gesammtverbandes gerichtet waren, gutheißt, welches seitens der heutigen Leitung geschehen ist, kann der Metallarbeiterverband dem Gesammtverband nicht angehören. In Konsequenz dieses Beschlusses wird der Ausschuß beauftragt, die Bildung eines neuen Metallarbeiterverbandes baldigst in die Wege zu leiten."
Zur Frage der landwirtschaftlichen Arbeiter erklärt der Kongreß: "Die starke Abwanderung der ländlichen Arbeiter in die Industriestädte und ihr Ersatz durch ausländische Arbeiter ist ein ungesunder Zustand, der unser gesammtes nationales Wirthschaftsleben und besonders die Industrie-Arbeiterschaft auf das Empfindlichste schädigt. Die Industrie-Arbeiter werden durch das Überangebot von Arbeitskräften der unorganisierten sozialpolitisch unaufgeklärten Landarbeiter gehindert, dauernd gute Lohn- und Arbeitsverhältnisse zu erreichen. Auch wird durch den regellosen Zuzug ausländischer Arbeiter der gesammte einheimische Arbeitsmarkt überlastet und auf diese Weise, besonders in Zeiten wirthschaftlichen Niederganges, das Heer der Arbeitslosen vergrößert und die wirthschaftliche Lage der gesammten Arbeiterschaft Deutschlands verschlechtert.
Um jenen übermäßigen Zustrom der Landarbeiter zu steuern, erachtet der Kongreß die Schaffung einer Berufsorganisation der Landarbeiter dringend nothwendig, die auf christlicher Grundlage die wirthschaftliche, geistige und sittliche Hebung des Landarbeiterstandes erstrebt. Zur Ermöglichung einer solchen Berufsorganisation fordert der Kongreß auf das Nachdrücklichste die Beseitigung der Koalitionsverbote, die heute noch für die Landarbeiterschaft bestehen."
Nach einem Referat über "Die Geistesbildung der Arbeiter" bezeichnet der Kongreß in einer Resolution die Förderung der Geistesbildung als Aufgabe der christlichen Gewerkschaften, die durch Vereinstätigkeit, Fachorgan, Bibliotheken und Schriftvertrieb sowie Beteiligung an volkstümlichen Kursen erreicht werden soll.
Auf der anschließenden Generalversammlung wird nach heftigen Diskussionen beschlossen, ab 1. Oktober ein Generalsekretariat mit Sitz in Köln und ein Sekretariat für Süddeutschland in Freiburg zu schaffen.
Mit 26 gegen 9 Stimmen wird der Metallarbeiterverband aus dem Gesamtverband ausgeschlossen, solange er unter der Leitung von Wieber steht.
Wieber hatte Zölle als gegen das Interesse der Arbeiterklasse gerichtete Maßnahmen scharf angegriffen; der Ausschuß sieht dagegen Zölle als politische Frage, die von den Gewerkschaften nicht zu erörtern ist.



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