Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den
Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger
Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der
Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999
Der 4. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands in Stuttgart - auf dem 156 Delegierte 58 Zentralverbände vertreten - behandelt neben dem Rechenschaftsbericht der Generalkommission folgende Themen: das Submissionswesen, die Hausindustrie, die Arbeitersekretariate, Arbeitslosenversicherung, Gewerkschaftskartelle, Unterstützungsfonds für Gewerkschaftsbeamte. Auf dem 4. Kongreß der Gewerkschaften in Stuttgart wird die Einführung einer Arbeitslosenversicherung mit Reichszuschüssen unter Selbstverwaltung der Arbeiter gefordert.
Stichtag:
16./21. Juni 1902
Zum ersten Mal nimmt ein Vertreter des Reichsamtes des Inneren an einem Gewerkschaftskongreß teil. Auch die württembergische Regierung und die Gewerbeinspektion ist vertreten. Aus 10 Ländern sind Gewerkschaftsvertreter anwesend.
Der Aufgabenbereich der Generalkommission wird mit dem "Stuttgarter Regulativ" neu festgelegt:
Einberufung und Vorbereitung der Gewerkschaftskongresse; Förderung der gewerkschaftlichen Agitation und des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses zu leistungsfähigen Zentralverbänden; Führen einer gewerkschaftlichen Statistik, insbesondere einer Streikstatistik; Sammlung und Nutzung von Agitationsmaterial für die Gewerkschaften; Herausgabe des "Correspondenzblattes" als Mittel, um sie enger miteinander zu verbinden; Herausgabe anderer geeigneter Publikationen für die Agitation unter den Arbeitern, insbesondere eines Jahresberichts der Generalkommission; Errichtung eines Zentralarbeitersekretariats; Aufklärung der Arbeiter über die Bedeutung der staatlichen Arbeiterversicherung und über die Wahl von Arbeitervertretern zu den in Verbindung mit der Sozialgesetzgebung entstandenen Körperschaften; Förderung der Gründung von Arbeitersekretariaten; Pflege der internationalen Beziehungen zu den Gewerkschaften anderer Länder.
Die Generalkommission konstituiert sich jeweils am Beginn jeder Geschäftsperiode des Gewerkschaftsausschusses in einer gemeinsamen Sitzung beider Gremien, auf der auch die Gehälter für die hauptamtlichen Funktionäre der Generalkommission festgelegt werden. Der Gewerkschaftsausschuß bildet aus seiner Mitte eine dreiköpfige Revisionskommission, die jährlich die Kassengeschäfte der Generalkommission zu überprüfen hat. In den Sitzungen des Gewerkschaftsausschusses haben die Mitglieder der Generalkommission volles und die in ihr arbeitenden Funktionäre beratendes Stimmrecht. Der Gewerkschaftsausschuß wird eine ständige Einrichtung.
Der Sitz der Generalkommission wird nach Berlin verlegt. Der Beitrag der Gewerkschaften zur Generalkommission wird erhöht. Konkurrenzorganisationen zu den bestehenden Gewerkschaften können nicht Mitglied der Generalkommission werden.
Über alle Anträge zu Grenzstreitigkeiten geht der Kongreß zur Tagesordnung über.
Der Kongreß stimmt der Errichtung eines Pensionsfonds für die Gewerkschaftsangestellten zu, der die Unterstützung von Invaliden, Witwen und Waisen und auch die Gewährung von Sterbegeldern bezweckt. Die Gewerkschaften werden ersucht, auf die Beteiligung ihrer Angestellten an diesem Fonds hinzuwirken. Die Beiträge sind zur Hälfte von den Angestellten aufzubringen. Der Kongreß gibt den Gewerkschaften Anregungen zur Gehaltsregelung der Gewerkschaftsangestellten.
Die Generalkommission wird beauftragt, die Arbeitsverhältnisse der Angestellten in Gewerkschaftshäusern zu untersuchen.
Den Gewerkschaftskartellen ist es nicht gestattet, in die einzelnen Zwecke der Zentralorganisationen einzugreifen, insbesondere nicht in das Bestreben, bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen zu erreichen. Das Leipziger Kartell wird wegen seiner Haltung gegen den Buchdruckertarifvertrag ausgeschlossen. Es soll erst wieder zugelassen werden, "wenn es sich den Frankfurter Beschlüssen unterwirft".
Der Kongreß lehnt die Aufnahme von Streikklauseln in Arbeits- und Lieferungsverträge (Submissionsbedingungen) ab. Mit Mehrheit wird die Errichtung eines Zentralarbeitersekretariats beschlossen.
Nach einem ausführlichen Referat mit drastischen Beispielen über die elende Lage der Hausgewerbetreibenden, ihrer Arbeitszeit, Verdiensthöhe und Gesundheitszustand und dem Scheitern aller Organisationsversuche stellt der Kongreß fest, die Hausindustrie sei "mit ihrer unbegrenzten Arbeitszeit, ihren niedrigen Löhnen und ungesunden Arbeitsstätten" nur dazu angetan, die in ihr beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen "wirtschaftlich und geistig zu verelenden". Die Schäden könnten "einzig und allein durch ein vollständiges gesetzliches Verbot der Hausindustrie" behoben werden.
Die Generalkommission wird beauftragt, einen Heimarbeiterschutzkongreß durchzuführen.
Nach einer kontroversen Diskussion erachtet es die Mehrheit des Kongresses als Pflicht von Reich, Staat und Gemeinde, den ohne eigenes Verschulden Arbeitslosen Unterstützung zu gewähren, verwirft jedoch jedes andere System als das auf freier Selbstverwaltung der Arbeiter und auf Gewährung eines Reichszuschusses an Arbeitslosenunterstützung zahlende Gewerkschaften beruhende, und empfiehlt den Gewerkschaften die Einführung der Arbeitslosenunterstützung als Vorbedingung eines solchen Reichszuschusses. Als weitere Voraussetzung einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung fordert die Resolution das uneingeschränkte Koalitionsrecht für alle Arbeiter, die Gewährung der Rechtsfähigkeit an die beruflichen Organisationen ohne Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, die Vornahme regelmäßiger Arbeitslosenzählungen und die reichsgesetzliche Regelung der Arbeitsvermittlung durch Organisation von Arbeitsbörsen.
Der Kongreß hält es für notwendig, daß die Organisationen mehr Wert als bisher auf die Gewinnung der Arbeiterinnen legen.
Die Agitation unter den Arbeiterinnen soll durch Frauen geschehen.
Gegen die Versuche einzelner Behörden, die Arbeitersekretariate unter Polizeiaufsicht zu stellen, wird protestiert. Der Kongreß empfiehlt den organisierten Arbeitern, ihre Sekretariate in ausgiebiger Weise zu unterstützen und dadurch deren Leistungsfähigkeit zu erhöhen.
Die Delegierten verlangen die Sicherung des Koalitionsrechts für Eisenbahner und Landarbeiter sowie gesetzliche Bestimmungen, daß die Straßenbahner der Gewerbeordnung unterstehen.
Der Vorsitzende des Kongresses W. Bömelburg erklärt - nachdem über Polemiken seitens des Buchdruckerorgans gegen die SPD diskutiert worden war - unter Zustimmung der Delegierten: "Die deutsche Gewerkschaftsbewegung und die deutsche Sozialdemokratie sind eins. Zwei Wege gibt es hier nicht. Die deutschen Gewerkschaften werden niemals ablassen von der Forderung einer grundsätzlichen Umgestaltung der Verhältnisse, weil sie wissen, daß sonst eine endgültige Lösung der sozialen Frage nicht möglich ist."
Der Kongreß protestiert entschieden gegen den geplanten Zolltarif und seine Auswirkungen auf die Arbeitnehmer.
Die Zahl der Mitglieder der Generalkommission wird erweitert. Gewählt werden bei 150 gültigen Stimmen: G. Sabath (136), C. Legien (128), Silberschmidt (121), R. Schmidt (112), A. Knoll (107), E. Döblin (94), A. Cohen (85), H. Kube (83) und J. Sassenbach durch Stichwahl (78).
Emma Ihrer erhält 38 Stimmen.