Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den
Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger
Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der
Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999
Der Verbandstag der Gewerkvereine in Köln hält es für erwiesen, "daß in den Städten sowohl als auf dem Lande fast allgemein die Wohnungsverhältnisse für die minderbemittelte Bevölkerung, insbesondere für die Arbeiterfamilien durchaus unzureichend sind. Zur Abhülfe dieses großen sozialen Schadens richtet der Verbandstag an die Staatsregierungen das Ersuchen, der Wohnungsfrage vollste Aufmerksamkeit zu schenken und alle auf die Förderung des Arbeiterwohnungswesens gerichteten Bestrebungen, sofern dieselben der Freizügigkeit nicht entgegenstehen, zu unterstützen, insbesondere 1. durch den Bau von Wohnungen für die in den Staatsbetrieben beschäftigten unteren Beamten und Arbeiter; 2. durch Unterstützung und Förderung der auf Selbsthülfe beruhenden Baugenossenschaften; 3. durch Einrichtung von Wohnungsinspektionen.
Stichtag:
27. Mai / 3. Juni 1901
Der Verbandstag richtet an die Gemeinden und Gemeindeverbände das Ersuchen, in der gleichen oben gezeichneten Richtung thätig zu sein, insbesondere in größeren Städten durch die Entwickelung der Verkehrsmittel (Straßenbahnen, womöglich mit Übernahme in eigene Regie), Betheiligung an gemeinnützigen Baugesellschaften und Unterstützung von Baugenossenschaften, Ablassung von Bauterrain zu billigen Preisen oder vermittelst des Erbbaurechts, Erschließung von Baustellen, Gewährung billigen Kredits und event. Übernahme der Bürgschaft, Erleichterung des Bauens von kleinen Wohnungen vermittelst Ermäßigung der Realsteuern, bezw. des Wassergeldes, der Kanalisationsgebühren usw., zweckmäßige Gestaltung der Grund- und Gebäudebesteuerung (Besteuerung nicht nach dem Reinertrag, sondern nach gemeinem Werth), um die aus Spekulationsrücksichten unbebaut liegenden Grundstücke zur schnelleren Bebauung zu bringen."
Die Gewerkvereine fordern weibliche Gewerbeinspektoren, Arbeiterdelegierte für die Grubeninspektion und die Anstellung von Handelsinspektoren und protestieren gegen die drohende Beschränkung bzw. Beseitigung der freien Hilfskassen.
Ein Antrag von M. Hirsch wird angenommen, in dem die politische Neutralität als wesentliches Erfordernis und maßgeblicher Grundsatz der Gewerkvereine betont wird.
Der Verbandstag erklärt mit 27 gegen 20 Stimmen:
"Die Neutralität der Arbeiterberufsvereine, d.h. ihre Trennung und Unabhängigkeit von parteipolitischen und kirchlichen Bestrebungen, bildet ein wesentliches Erfordernis, um ihre wahren, die wirtschaftlich-sozialen Aufgaben unverfälscht und mit konzentrierter Kraft zu erfüllen.
Dieser Grundsatz ist für die deutschen Gewerkvereine seit ihrer Entstehung unverbrüchlich maßgebend gewesen.
Die Behauptung, daß sie von einer politischen Partei für ihre Zwecke gegründet und in Abhängigkeit gehalten sei, ist eine hundertmal nachgewiesene Unwahrheit, die nur aus Unkenntnis oder Böswilligkeit noch heute wiederholt werden kann.
Der als Beweis für die politische Parteinahme angeführte 'Revers' beweist vielmehr das Gegenteil. Er wurde seit 1876 eingeführt zur notgedrungenen Abwehr gegen die von der Sozialdemokratie geplante Sprengung oder Ausbeutung der Gewerkvereine zu Parteizwecken. Die statuarische Bestimmung, wonach Anhänger der Sozialdemokratie nicht beitreten können, gilt nicht der politischen, sondern der sozialen, die Kollektivwirtschaft erstrebenden Partei. Ein prinzipielles wirtschaftlich-soziales Programm aber steht nicht im Widerspruch mit dem Wesen der Arbeiterberufsvereine, sondern bildet ihre wesentliche Grundlage, ihren wahren Charakter.
Ein großer Teil der Gewerkschaften, sowohl sozialdemokratischer als auch christlicher Richtung, verfolgt dagegen grundsätzlich wie tatsächlich partei- oder kirchenpolitische Zwecke. An sie, nicht an die längst neutralen Gewerkvereine, ist daher die Aufforderung zur Neutralisierung zu richten.
Das allgemeine praktische Arbeiterinteresse, insbesondere die wirksame Vertretung gegenüber den Arbeitern, gebietet keineswegs die Verschmelzung, sondern nur ein Bündnisverhältnis, beruhend auf gegenseitiger Anerkennung und Achtung. Die deutschen Gewerkvereine haben, wie von Anfang an, so besonders in letzter Zeit, ein solches Verhältnis tatsächlich erstrebt und nach Kräften innegehalten; sie werden ebenso auch in Zukunft handeln."
Mit 26 gegen 21 Stimmen stimmen die Delegierten einem Antrag zu, daß in der Frage des Reverses - mit dem neue Gewerkvereinsmitglieder schriftlich erklären müssen, nicht Sozialdemokrat zu sein - nur die Generalversammlungen der einzelnen Gewerkvereine beschlußberechtigt sind. Ein Jahr später schafft die Generalversammlung der Maschinenbauer - des größten Gewerkvereins - den Revers ab.
Der Verbandstag erklärt sich nochmals mit aller Entschiedenheit für die Aufrechterhaltung der zur Beschäftigung eines großen Teils der Arbeiter notwendigen langfristigen Handelsverträge und gegen jede Erhöhung der die Lebenshaltung der Arbeiter herunterdrückenden Getreidezölle. Der Verbandstag protestiert feierlich gegen diesen Versuch, die Besitzenden auf Kosten der hart arbeitenden Masse des Volkes und der Wohlfahrt des Ganzen zu bereichern.
Die statuarische Anerkennung der regionalen sog. "Ausbreitungsverbände" wird abgelehnt.
Den Düsseldorfer Mitgliedern wird empfohlen, einen Ortsverband neu zu gründen. Der Zentralrat soll dieses Bestreben nicht behindern.