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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
26./29. Mai 1901

Der Kongreß der Christlichen Gewerkschaften in Krefeld wird mit einer Versammlung eingeleitet. Sie erklärt in einer einstimmig angenommenen Resolution, "die gewerkschaftliche Vereinigung der Arbeiter zu ihrem Schutze im gewerblichen Leben, zur Verbesserung ihrer Lohn- und Arbeitsbedingungen für unbedingt nothwendig.
Diese Gewerkschaften müssen sich von Parteipolitik freihalten, desgleichen haben sie keine religiösen Aufgaben zu lösen, andererseits aber haben diese Gewerkschaften in der Verfolgung ihrer wirthschaftlichen Ziele die christliche Gesellschaftsordnung zu respektieren.
Um diese Garantie zu schaffen, haben wir uns in christlichen Gewerkschaften organisiert. Wir werden auch in Zukunft nur eine solche Gewerkschaftsbewegung gutheißen, welche die religiöse Ueberzeugung ihrer Mitglieder achtet. Das hindert uns aber nicht, für eine möglichst geschlossene Gewerkschaftsbewegung zu Gunsten der gesammten Arbeitergenossenschaft einzutreten.
Die Versammlung verspricht, mit aller Energie für die Organisation der christlichen Arbeiter einzutreten und dem christlichen Gewerkschaftsgedanken weiteste Verbreitung zu verschaffen."
Der Kongreß nimmt dann mit Mehrheit eine ergänzende Resolution an, in dieser erklärt er "sich mit der Stellungnahme des Ausschusses des Gesammtverbands bezüglich der Frage der interkonfessionellen und paritätischen Gewerkschaften, wie er sie in der Kölner Erklärung vom 8. November 1900 zum Ausdruck gebracht hat, einverstanden, da die Frage der einheitlichen Organisation der deutschen Arbeiter vor der Hand keine praktische Bedeutung hat und die Verwirklichung derselben in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Eine abweichende Meinung in dieser Frage schließt die Betheiligung an den Gewerkschaftskongressen und dem Gesammtverbande der christlichen Gewerkschaften Deutschlands nicht aus."
In der Diskussion äußert der Arbeitersekretär J. Giesberts, "daß jetzt schon den Sozialdemokraten die Thüren der christlichen Gewerkschaften offen ständen, denn neun Zehntel der Sozialdemokraten stünden trotz ihrer politischen Anschauungen noch auf christlichem Boden".
Der Kongreß beschließt die Statuten für den Gesamtverband der Christlichen Gewerkschaften:
§ 1 Unter dem Titel "Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands" treten die auf christlicher Grundlage bestehenden Arbeiterberufsorganisationen Deutschlands zu einer Kartellvereinigung zusammen.
§ 2 Der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands erstrebt:
1. Die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen der arbeitenden Stände durch die gewerkschaftliche Organisation und Herbeiführung eines friedlichen Ausgleichs der Gegensätze zwischen Arbeiter und Arbeitgeber unter Anerkennung der selbständigen Mitwirkung der organisierten Arbeiterschaft bei Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen.
2. Die Verbindung und Fühlung der einzelnen Gewerkschaftsverbände untereinander zu vermitteln, zwecks gemeinsamen, solidarischen Handelns bei besonderen, die allgemeinen gewerkschaftlichen Interessen betreffenden Fragen.
Als solche gelten vornehmlich:
a) Wahrung und Durchführung des auf den gemeinsamen Kongressen der christlichen Gewerkschaftsverbände aufgestellten Programms und zwar bis auf weiteres die auf dem ersten Kongreß in Mainz aufgestellten Leitsätze.
b) Herbeiführung der gesetzlichen Anerkennung der Arbeiterberufsvereine.
c) Schaffung gesetzlicher Instanzen zur Schlichtung und Beteiligung von Streitigkeiten über Lohn- und Arbeitsbedingungen zwischen Unternehmer und Arbeiter unter Mitwirkung der organisierten Arbeiterschaft.
d) Vermittlung gegenseitiger Unterstützung bei außerordentlichen Anlässen.
e) Anregung und Herbeiführung statistischer Erhebungen über die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter in den einzelnen Berufen.
§ 3 Zur Durchführung der Aufgaben des Gesamtverbandes dient u.a.:
- Die Herausgabe eines Korrespondenzblattes für die christlichen Gewerkschaften, welches als Informationsorgan von den Vorsitzenden, Vertrauensmännern und Bezirksvorstehern der einzelnen Gewerkschaften benutzt wird.
- Erteilung von Auskunft und Rat in allen gewerkschaftlichen Fragen, sowie Sammlung von statistischem Material und Förderung der Agitation zur Gründung neuer Gewerkschaften.
- Beratung und Entscheidung über auftretende Meinungsverschiedenheiten, über Fragen der Organisation und Taktik, welche die Gewerkschaften im Allgemeinen berühren.
§ 4 Zur Durchführung der Aufgaben des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften wird ein Ausschuß gebildet, in welchem soweit wie möglich, die einzelnen christlichen Gewerkschaften entsprechend ihrer Mitgliederzahl, oder doch mindestens die verwandten Berufsgruppen durch Delegierte vertreten sind.
§ 7 Die Mittel der Kosten werden von den einzelnen Gewerkschaften aufgebracht.
§ 9 Zur Durchführung der im allgemeinen Interesse der Arbeiterschaft liegenden Aufgaben der Gewerkschaften soll der Ausschuß des Gesamtverbandes nach einem friedlichen Verhältnis zu den anderen Gewerkschaftsverbänden streben und das Zusammengehen der verschiedenen Berufsverbände von Fall zu Fall zu fördern suchen, soweit solches mit den Grundsätzen der christlichen Gewerkschaften vereinbar erscheint.
Die Delegierten sind sich einig darin, daß die Unterstützungskassen nur eine Nebenaufgabe der Gewerkschaften seien, die deren Hauptaufgabe, für Besserung der Arbeitsbedingungen, insbesondere Einführung des Kollektiven Arbeitsvertrages, Sorge zu tragen, nicht beeinträchtigen dürften, vielmehr nur den Zweck hätten, den Arbeitern einen Anreiz zum Beitritt zu bieten und auf Stabilität in dem Mitgliederbestande hinzuwirken. Man erklärt, daß man sich dadurch von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen unterscheide. Aus diesen Gründen wollte man auch besondere Kassenorganisation möglichst vermeiden und alle Unterstützungen aus der einheitlichen Gewerkschaftskasse bestreiten. Der Kongreß beschließt ein Sterbegeld und Reise- und Krankenunterstützung.
Mit der Annahme der Statuten sind auch die Organisationsgrundsätze der christlichen Gewerkschaften entschieden. Ihr Aufbau gliedert sich so: Die Einzelgewerkschaften verfügen über zentrale Generalversammlungen, die den Vorstand wählen; die nächsten Ebenen bilden Bezirks- oder Gauverbände und schließlich die örtlichen Zahlstellen, die - besonders in größeren Städten - zu Ortskartellen zusammengeschlossen werden; diese Ortskartelle verstehen sich als lokale Vertretungen des Gesamtverbandes und sorgen für einheitliches Vorgehen der Einzelverbände in Fragen der Agitation, aber auch bei Wahlen zu den Vertretungsgremien von Krankenkassen und Gewerbegerichten. Oberste Instanz des Gesamtverbandes sind die Generalversammlungen, denen die Wahl der Ausschußmitglieder, die Festsetzung der Beiträge und Statutenänderungen obliegen.
Die Exekutive des Gesamtverbandes ist der Ausschuß aus Vertretern der Gewerkschaften, der die Kongresse einberuft.
Der Ausschuß wählt aus seiner Mitte einen Vorstand, der aus erstem und zweitem Vorsitzenden, einem Schriftführer, einem Kassierer und einem Beisitzer besteht. Der Vorstand erledigt die laufenden Geschäfte und führt die Beschlüsse des Ausschusses aus.
Vor allem für die Aufgabe der Agitation zugunsten der Neugründung der Gewerkschaften wird dem Vorstand ein Sekretär zugeordnet.
Erster Generalsekretär wird Adam Stegerwald, der Vorsitzende des christlichen Holzarbeiterverbandes.
Den kleinen Organisationen wird empfohlen, sich den Zentralorganisationen anzuschließen oder zumindest einen "Zentralverband für verschiedene Berufe" anzustreben.
Die Gewerkschaften sollen hohe Beiträge erheben, um den Mitgliedern Kranken- und Sterbegeld sowie Arbeitslosen- und Reiseunterstützung gewähren zu können.
Der Kongreß verlangt die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine und das volle Koalitionsrecht für alle Personen über 14 Jahre sowie die Änderungen der Vereinsgesetze, vor allem in bezug auf die Bestimmungen über politische Vereine.
Die örtlichen Kartelle und Arbeiterschutzverbände sollen bestrebt sein, nach Möglichkeit die gewählten Arbeiterverteter der Krankenkassen, Gewerbegerichte, Schiedsgerichte etc. in Arbeitervertretervereine zu sammeln und für die Schulung und Aufklärung in der sozialen Gesetzgebung Sorge zu tragen.
Als grundsätzliche Forderungen für eine Reform der Krankenversicherung sind festzuhalten:
Aufrechterhaltung der Selbstverwaltung der Krankenkassen und der Zusammensetzung der Vorstände zu zwei Dritteln aus Arbeitern und einem Drittel aus Arbeitgebern.
Möglichste Zentralisation der Krankenkassen und Durchführung einer einheitlichen Krankheitsstatistik.
Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle der Invalidenversicherung unterstellten Personen.
Ausdehnung der gesetzlichen Unterstützungsdauer auf mindestens 26 Wochen unter Erhöhung des Krankengeldes auf zwei Drittel des Lohnes und Ausdehnung der Unterstützung der Wöchnerinnen auf mindestens 6 Wochen.
Der Kongreß sieht in der Reform des Gesetzes betr. die Gewerbegerichte, besonders in der Erweiterung der einigungsamtlichen Thätigkeit derselben durch Einführung des Verhandlungszwanges vor dem Einigungsamte, einen erfreulichen Fortschritt zur friedlichen Beilegung der gewerblichen Streitigkeiten.



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