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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
1900

In den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende vollzieht sich in Deutschland endgültig die Wende vom Agrarstaat mit starker Industrie zu einem Industriestaat mit starker agrarischer Basis. 1882 lebten noch rund 40% der deutschen Bevölkerung vom agrarischen Erwerb, 1907 sind es noch 28%
Die Zahl der Industriearbeiter wächst zwischen 1882 von rund 1,6 Millionen auf 5,8 Millionen.
Zwischen 1882 und 1907 verdreifacht sich der Anteil der Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten und 1907 verdienen schon 42 Prozent aller in Industrie und Handwerk Erwerbstätigen ihren Lebensunterhalt in solchen Betrieben.
Der Anteil der Kleinbetriebe mit weniger als 5 Beschäftigten wird in diesem Zeitraum halbiert.
Doch arbeiten 1907 mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Betrieben, die zur Größenklasse der noch handwerklich geprägten Klein- und Mittelbetriebe mit bis zu 50 Arbeitskräften gehören.
Die Großbetriebe konzentrieren sich auf den Bergbau, das Hüttenwesen, Maschinenbau und Chemie, Elektro- und Textilindustrie. Der Monopolprozeß wächst weiter. In dieser Zeit bestehen bereits rund 300 Kartelle.
Für die Gewerkschaften, deren Organisationszentren hauptsächlich in Mittelbetrieben angesiedelt sind, stellt die Verlagerung des Arbeitskräftepotentials in größere Betriebe eine große Herausforderung dar, denn sie müssen die Arbeitnehmer in den Großbetrieben gewinnen. Dabei stoßen sie vor allem in der Montanindustrie auf den entschlossenen Widerstand der Unternehmer. Diese wirtschaftliche Entwicklung ist aber auch durch riesige Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften in die Industriezentren gekennzeichnet. Ursache ist der Rückgang der Arbeitsmöglichkeiten in der Landwirtschaft und die Aussicht auf bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Diese Bewegung setzt vor allem nach 1871 ein und ebbt erst im 1. Weltkrieg ab. Zwischen 1875 und 1910 verdoppelt sich die Zahl der Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern.
1890 wohnt erst ein fünftel der deutschen Bevölkerung in Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern, diese Quote steigt bis 1910 auf über ein Drittel der Bevölkerung.
1907 sind von den über zwei Millionen Einwohnern drei Fünftel in einem anderen Ort geboren.

Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es ca. 70-80 Firmen - zum überwiegenden Teil des polygraphischen Gewerbes - bei denen auch die Arbeiter Urlaub erhalten.
In fast allen diesen und vielen späteren Fällen geht die Initiative zur Gewährung vom Firmeninhaber aus. Den Anstoß dazu geben - neben der Einsicht des Nutzens für die Arbeiter und auch für den Betrieb - häufig Firmenjubiläen oder besondere Ehrungen des Besitzers, handelt es sich durchweg um kleinere, allenfalls mittlere Betriebe. Häufig wird aber Urlaub nicht regelmäßig, sondern nur nach Gutdünken des Betriebsinhabers bewilligt; außerdem kommen auch keineswegs immer alle beschäftigten Arbeiter in den Genuß von Urlaub.
Die Gewährung von Urlaub ist gelegentlich an Bedingungen gebunden, die trotz des äußeren sozialen Anstrichs letztlich auf eine Disziplinierung der Arbeiter hinauslaufen. Dazu gehört vor allem die z.T. äußerst lange Wartezeit - in einer Reihe von Fällen war eine bis zu 25jährige Betriebszugehörigkeit gefordert -, bis der Arbeiter Urlaub erhalten konnte. Häufig wird die Gewährung auch von guter Führung, genügender Leistung oder sogar Pünktlichkeit abhängig gemacht. Manchmal muß der beurlaubte Arbeiter Belege beibringen und genau nachweisen, wie und wo er seinen Urlaub verbracht hat.

Der "Kaufmännische und gewerbliche Hilfsverein für weibliche Angestellte" hat sich mehr zu einer kaufmännischen Vereinigung entwickelt und nennt sich um in "Kaufmännischer Hilfsverein für weibliche Angestellte".

Der "Verband der Gold- und Silberarbeiter" schließt sich dem "Deutschen Metallarbeiterverband" an.

Vertreter der christlichen Textilarbeitergewerkschaften aus Belgien, den Niederlanden und Deutschland vereinbaren in Aachen, sich jährlich zu treffen.

Die Generalkommission unterstützt die Aufklärung der Arbeiter über die Bedeutung der staatlichen Arbeiterversicherung mit der Herausgabe der Broschüre "Die Vertreter in der Arbeiterversicherung".

Die Aufgaben der Gewerkschaftskartelle liegen u.a. in der "Förderung der Agitation zur Aufklärung über die wirtschaftliche Klassenlage; der Unterstützung und Regelung der wirtschaftlichen Kämpfe der Arbeiter, der Erzielung möglichst günstiger Durchführungen der für die Arbeiterklasse durch Reichsgesetz getroffenen Einrichtungen. Dies soll erreicht werden mittels der Durchführung der Arbeiterschutzgesetze, der Vorbereitung der Vertreterwahlen in das Gewerbegericht, zur Ortskrankenkasse und zum Schiedsgericht der Unfallkasse, die Unterhaltung eines Auskunftsbüros für gewerbliche und Unfallstreitigkeiten; Förderung des gewerkschaftlichen Bibliothekswesens und die Wahrung des Koalitions- und Versammlungsrechts bei Benutzung öffentlicher Lokale."

O. Hue, Redakteur der "Deutschen Bergarbeiterzeitung" erhebt in seiner Broschüre "Neutrale oder parteiische Gewerkschaften" die Forderung nach parteipolitischer Neutralität der Gewerkschaften: "Wohin die gewerkschaftliche Neutralität die Arbeiter politisch führt, das kann und muß dem Gewerkschaftsführer gleichgültig sein!"
In seiner Broschüre "Gewerkschaftsbewegung und politische Parteien" distanziert sich A. Bebel deutlich von der früher gängigen Auffassung, die Gewerkschaften seien eine Rekrutenschule der Partei. Auch Karl Kautsky, Redakteur der "Neuen Zeit", der theoretischen Zeitschrift der SPD, rückt von dieser These ab, die nur insofern richtig sei, als ein politisch indifferenter Arbeiter in der Regel leichter der Gewerkschaft als der Partei zuzuführen sei und er in der Gewerkschaftsarbeit am ehesten dahin komme, Sozialdemokrat zu werden.

Sozialdemokratische Journalisten gründen den Verein "Arbeiterpresse", die Interessenvertretung aller Journalisten der Arbeiterpresse.

Die deutschen Arbeiter haben im letzte Jahrzehnt gewisse Verbesserungen ihrer sozialen Lage erkämpft. Die Reallöhne in Industrie und Landwirtschaft sind gestiegen. Die Arbeitszeit beträgt im allgemeinen 11 Stunden, in einzelnen Industriezweigen 10 bzw. 9 Stunden.

Der "Kaufmännische und gewerbliche Hilfsverein für weibliche Angestellte" nennt sich nun "Kaufmännischer Hilfsverein für weibliche Angestellte".


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