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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
1895

Die wirtschaftliche Depression, die 1873 eingesetzt hatte und nur von schwachen Auftriebsphasen unterbrochen worden war, dauert bis in die Mitte der 90er Jahre an; erst ab 1895 zeichnet sich ein wirtschaftlicher Aufschwung ab, der, abgesehen von den kurzfristigen Zwischenkrisen 1901/02 und 1907/08, bis 1912/13 anhält. Vor allem die Schwerindustrie - schon durch die Schutzzollpolitik begünstigt - kann ihre Produktion erheblich ausbauen. Dazu trägt die Rüstungsindustrie wesentlich bei. Hatte im Jahr 1890 die Eisenproduktion Englands mit ca. 8 Millionen Tonnen die des Deutschen Reiches (4,1 Millionen Tonnen) um fast 100 Prozent überstiegen, so zieht bis zum Jahre 1910 die deutsche Produktion mit etwa 14 Millionen Tonnen an der englischen (gut 10 Millionen Tonnen) vorbei. Der Anstieg der deutschen Stahlproduktion, die von 2,1 Millionen Tonnen im Jahre 1890 auf 13,1 Millionen Tonnen (1910) anwächst, während die englische Stahlherstellung im selben Zeitraum nur von 3,6 auf 6,4 Millionen Tonnen gesteigert wird, ist noch beeindruckender. In diesem Zeitraum erhalten auch durch Erfindungen und die Entwicklung technischer Verfahren die elektrotechnische und die chemische Industrie neben dem Maschinenbau Weltgeltung.
Die Industrialisierung zeigt sich auch am Konzentrationsprozeß. Die Zahl und Bedeutung der Kartelle wächst deutlich. Um 1897 gründen die Hütten das Rheinisch-Westfälische Roheisen-Syndikat. Die Elektroindustrie wird von den Branchen-Riesen AEG und Siemens und die chemische Industrie von vier bis fünf Großkonzernen beherrscht. Fünf Großbanken - darunter die Deutsche Bank und die Dresdner Bank - verfügen über fast 50% der Bankeinlagen; nicht nur als Kreditgeber, sondern auch als Aktienbesitzer üben die Banken enormen Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung aus.

In der Industrie steigt seit 1882 der Anteil der Erwerbstätigen von 35,1 auf 39,1% - von 4 auf 5,9 Millionen Arbeiter; in Handel und Verkehr von 10 auf 11,5% - von 720.000 auf 1,2 Millionen. In diesem Zeitraum wächst auch die Zahl der Angestellten beachtlich an. Sie beträgt 1895 3,2%.
Zwischen 1882 und 1895 werden jährlich fast 140.000 neue industrielle, aber nur 7.700 neue handwerkliche Arbeitsplätze geschaffen. Trotzdem stellt das Kleingewerbe mit 92,7% noch den Löwenanteil alle Betriebe.
Betriebe mit bis zu fünf Erwerbstätigen umfaßten 1882 in Industrie und Handwerk noch knapp 60 Prozent aller Beschäftigten, 1895 aber nur noch 41,8%; die mittleren Betriebe mit 6 bis 50 Beschäftigten nehmen dagegen von 17,4% auf 24,7% und die Großbetriebe mit über 50 Beschäftigten von 22,8% auf 33,5% zu.
"Riesenbetriebe" - so in dieser Zeit genannt - mit über 1.000 Beschäftigten erhöhen ihren Anteil von 1,9% auf 3,3%.
Die Gewerkschaften gewinnen in den großen Betrieben noch kaum Boden. Nicht nur wegen der besonders ausgeprägten autoritären - Herr im Hause - antigewerkschaftlichen Einstellung der Unternehmer, sondern auch wegen der geringen Resonanz gewerkschaftlicher Ziele bei dem großen Anteil ungelernter und angelernter Arbeitskräfte, die zudem leichter auf dem Arbeitsmarkt austauschbar sind. Die Fluktuation unter ihnen ist besonders hoch.
Der Facharbeiter und der Handwerker bleiben die organisatorische gewerkschaftliche Basis.
Die Arbeiter der neu entstandenen Industriezweige - Chemie, Elektroindustrie - sind noch kaum, wegen ihres hohen Anteils un- und angelernter Arbeiter, gewerkschaftlich organisiert.
Auch der Sektor Handel und Verkehr ist gewerkschaftlich noch weit unterdurchschnittlich organisiert. Die vier zu diesem Wirtschaftsbereich gehörenden Gewerkschaften der Hafenarbeiter, Handelshilfsarbeiter, Gastwirts- und Handlungsgehilfen haben von 828.404 beschäftigten Arbeitern nur 9.178 (1,1%) organisiert. Weiterhin stehen fast 1,8 Millionen Beschäftigte in häuslichen Diensten - vor allem Dienstmädchen - aber auch die Beamten und Arbeiter des Staates praktisch völlig außerhalb der gewerkschaftlichen Bewegung. Für Postbeamte und Polizisten hätte ein Eintreten für gewerkschaftliche Bestrebungen die sichere Entlassung bedeutet.

Bei den Schuhmachern zeichnet sich als Ergebnis der industriellen Entwicklung eine Veränderung innerhalb der Mitgliederschaft ab. Nachdem lange Zeit die Schuhmachergehilfen und Kleinmeister den Verband beherrschten, kann allmählich auch in den Fabriken Einfluß gewonnen werden. Anfang des Jahrhunderts stellen die Fabrikarbeiter bereits die Mehrzahl der Mitglieder.
Eine ähnliche Entwicklung findet bei den Schneidern statt durch die wachsende Bedeutung der Konfektionsschneiderei und des damit verbundenen Vordringens des Fabriksystems. Der unterschiedliche Grad der beruflichen Qualifikation, der hohe Anteil der Heimarbeiterinnen und -arbeiter, vor allem das Überwiegen der Frauenarbeit erschweren ganz außerordentlich die Organisationsarbeit.

Die Generalkommission gibt wieder ein Flugblatt für die vom Ausland kommenden Arbeiter heraus. Von 48 örtlichen Gewerkschaftskartellen lagen Bestellungen vor. Insgesamt werden 32.000 Flugblätter in polnischer, 15.000 in tschechischer und 21.000 in italienischer Sprache gedruckt. Vom Gewerkschaftskartell in Stuttgart werden für die bei dem Bahnbau beschäftigten italienischen Arbeiter Versammlungen einberufen und "ein der italienischen Sprache mächtiger Referent zu diesen gestellt".

Zum ersten Male werden in einer Interpellation des Zentrums im Reichstag die Einführung von Arbeiterkammern verlangt.

In Stuttgart wird das erste Gewerkschaftshaus gepachtet.

Nach einer Verständigung zwischen den Gewerkschaften des Baugewerbes werden in Dresden und Hamburg Bauarbeiterschutzkommissionen eingesetzt. Sie sollen die sanitären Mißstände im Baugewerbe bekämpfen, Erhebungen durchführen und Materialien für die gesetzgebenden Institutionen sammeln.

In diesem Jahr lösen sich der "Verband der Kürschner" und der "Zentralverein der Plätterinnen" sowie der "Verband der Schlachter" wegen einer zu geringen Mitgliederzahl auf. Der "Verband der Formstecher" schließt sich dem "Verband der Lithographen" und der "Verband der Korbmacher" dem "Holzarbeiterverband" an.


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