DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

DEKORATION DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG DEKORATION


TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
14./18. März 1892

Auf dem ersten Gewerkschaftskongreß in Halberstadt vertreten 208 Delegierte 303.519 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter Deutschlands. Von 65 Gewerkschaftsorganisationen sind 57 (272.389 Mitglieder) durch 172 Delegierte vertreten. Die übrigen 36 Delegierten sind Abgesandte von lokalen Organisationen verschiedenen Charakters mit 31.130 Mitgliedern. Nicht beschickt wird der Kongreß durch die Organisationen der Dachdecker, Ziegler, selbständigen Barbiere, Bürstenmacher, Glaser, Stellmacher, Graveure und Konditoren. Die Tagesordnung besteht im wesentlichen aus zwei Punkten "Bericht über die Tätigkeit der Generalkommission" und "Die Organisationsfrage".
Der Kongreß befaßt sich nur mit dem Bericht der Generalkommission und der Organisationsfrage. In seiner Eröffnungsrede erklärt C. Legien, daß die Gewerkschaftsorganisationen nicht die Lösung der sozialen Frage herbeiführen würden, daß sie zur Zeit aber wesentlich die Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklasse unterstützen können. "Gleich den Pionieren haben die Gewerkschaften den Boden zu ebnen für eine höhere geistige Auffassung und durch Erringung besserer Lohn- und Arbeitsbedingungen die Arbeiterklasse vor Verelendung und Versumpfung zu bewahren, um so die Massen der Arbeiter zu befähigen, die geschichtliche Aufgabe, welche dem Arbeiterstand zufällt, lösen zu können." Schon beim Bericht der Generalkommission treten Gegensätze scharf hervor; namentlich Berliner Vertreter greifen die Kommission scharf an. Noch schärfer sind die Debatten über die Organisationsfrage. Hier stehen sich vier Richtungen gegenüber. Die Generalkommission empfiehlt die Grundzüge der von der vorhergehenden Vorständekonferenz beschlossenen Organisation, doch mit der Abänderung, daß zunächst Kartellverträge zwischen berufsverwandten Zentralvereinen die künftigen Unionen anbahnen sollen. Die Metallarbeiter fordern Industrieverbände und einen Gewerkschaftsrat mit einem Exekutionsausschuß anstatt der Generalkommission. Wo Industrieverbände noch nicht bestehen, sollen Kartellverträge dieselben herbeiführen. Die Holzarbeiter verlangen nur eine Annäherung der berufsverwandten Zentralvereine durch Kartellverträge und überlassen die Frage, ob Union oder Industrieverband, der künftigen Entwickelung. Die Kartellverträge sollen im wesentlichen die den Unionen zugedachten Aufgaben, aber auch den Übertritt von einer Organisation in die andere ohne Beitrittsgeld regeln.
Die Verbände werden zur Ansammlung ausreichender Streikfonds und entsprechender Festsetzung der Beiträge verpflichtet. Die Vertreter der lokalorganisierten Berufe sprechen ihr Mißtrauen gegen den Entwurf der Generalkommission aus und verlangen die Aufklärung des "klassenbewußten Proletariats" nicht einseitig wie es in den Zentralverbänden geschehe, sondern sowohl nach politischer wie nach wirtschaftlicher Richtung hin.
Der Kongreß empfiehlt, die Kartellverträge dahin abzuschließen, daß die verwandten Berufe bei Streiks und Aussperrungen sich gegenseitig finanziell unterstützen, ihre auf der Reise befindlichen Mitglieder gegenseitig unterstützen, die Agitation möglichst gleichmäßig und auf gemeinschaftliche Kosten betreiben, statistische Erhebungen gemeinsam veranstalten, Herbergen und Arbeitsnachweise zentralisieren, ein gemeinsames Organ schaffen, den Übertritt von einer Organisation in die andere bei Ortswechsel ohne Beitrittsgeld und weitere Formalitäten herbeizuführen.
Da sich die Mitglieder in den Betrieben nicht gewerkschaftlich organisieren konnten, sollte jeder Zentralverein lokale Zahlstellen gründen. Wo das nicht möglich war, wurde den Arbeitern empfohlen, dem Zentralverband als Einzelmitglied beizutreten und die Verbindung zur Organisation durch ein Vertrauensmännersystem zu wahren.
Die Resolution der Lokalorganisierten wird mit großer Mehrheit abgelehnt. Darauf ziehen die Metallarbeiter ihre Resolution zugunsten derjenigen der Holzarbeiter zurück, worauf diese mit 148 gegen 37 Stimmen bei 11 Enthaltung und 12 Abwesenden angenommen wird.
Die Resolution der Holzarbeiter erklärt "die Zentralorganisation als Grundlage der Gewerkschaftsorganisation". Zur Annäherung der Zentralisation verwandter Berufe sieht sie den Abschluß von Kartellverträgen vor. Die weitere Entwicklung der Organisationen soll dann entscheiden, "ob die späte Vereinigung der Branchenorganisationen zu Unionen oder Industrieverbänden stattzufinden hat". Die Holzarbeiter erwarten, "daß in all denjenigen Berufsgruppen, wo die Verhältnisse den Industrieverband zulassen dieser vorzuziehen ist, daß jedoch in all denjenigen Berufsgruppen, wo infolge der großen Verschiedenheit der Verhältnisse die Vereinigung in einen Industrieverband nicht durchführbar ist, durch Bildung von Unionen diese Möglichkeit herbeigeführt werden soll".
Der Sprecher der Holzarbeiter, C. Kloß, führt ausdrücklich an, daß die Kompromiß-Resolution dazu angetan ist, "den Weg für die Errichtung von Industrieverbänden zu ebnen". Nach der Abstimmung verlassen 12 Vertreter von Lokalorganisationen bzw. Vertrauensmännerzentralisationen unter Abgabe einer Protesterklärung den Kongreß.
Der Kongreß beauftragt nun die Generalkommission mit den Aufgaben, die deren Entwurf für sie vorgesehen hat. Die Generalkommission hat also folgende Aufgaben:
die Agitation in denjenigen Gegenden, Industrien und Berufen, deren Arbeiter noch nicht organisiert sind, zu betreiben; die von den einzelnen Zentralisationen angenommenen Statistiken zu einer einheitlichen für die gesamte Arbeiterschaft zu gestalten und evtl. zusammenzustellen; statistische Aufzeichnungen für sämtliche Streiks zu führen und periodisch zu veröffentlichen; ein Blatt herauszugeben und den Vorständen der Zentralvereine in genügender Zahl zur Versendung an deren Zahlstellen zuzusenden, das die Verbindung sämtlicher Gewerkschaften mit zu unterhalten, die nötige Bekanntmachung zu veröffentlichen und soweit geboten, deren rechtzeitige Bekanntmachung in der Tagespresse herbeizuführen hat und neu: internationale Verbindungen anzuknüpfen und zu unterhalten.
Die Aufgabe einen zentralen Streikunterstützungsfonds aufzubauen, wird der Generalkommission entzogen. Auch nach diesem Beschluß wird die Generalkommission sehr häufig um Streikunterstützung - oft als Darlehen - gebeten. Die Generalkommission muß diese Bitten aufgrund dieses Beschlusses ablehnen.
Ein Delegierter bezeichnet den Charakter der Generalkommission als "eines moralischen Zusammenhaltes der Gewerkschaften". Denn die Aufgaben der Generalkommission sind mehr koordinierende als führende Tätigkeiten.
Von besonderen Organisationen für Arbeitnehmerinnen soll abgesehen werden; den Gewerkschaften wird empfohlen, ihre Statuten so zu ändern, daß sie Frauen als gleichberechtigte Mitglieder aufnehmen können. Zu dieser Zeit sind 4.355 Frauen Gewerkschaftsmitglieder, das sind 1,8% Ihre Zahl steigt bis 1895 auf 6.6697 (2,6%) Mitglieder. Dieser Beschluß bedeutet für die weitere organisatorische Entwicklung einen Fortschritt. Doch bis 1933 bieten die Gewerkschaften ein buntes Bild der Organisationen.
Der Sitz der Generalkommission wird Hamburg. Mitglieder derselben werden diesmal nur Hamburger Vertreter. Neben C. Legien, A. v. Elm, A. Dammann werden neu der Hamburger Funktionär des UVBD Wilhelm Adolf Demuth, der Vorsitzende der Allg. Kranken- und Sterbekasse der Metallarbeiter Carl Deisinger, die Vorsitzende des Zentralvereins der Fabrik- und Handarbeiterinnen, Wilhelmine Kähler, und der Vorsitzende des Zentralverbandes der deutschen Werftarbeiter, Carl Fehmerling, gewählt.
Die Kandidaten mit den nächsthöheren Stimmenzahlen - der Hamburger Funktionär des Schneiderverbandes Gustav Sabath, der Vorsitzende des Zimmererverbandes Fritz Schrader und der Hamburger Funktionär des Bäckerverbands Ernst Kretschmar - werden zu "Ersatzmännern" bestimmt. C. Fehmerling legt bald - nach seinem Gewerkschaftsaustritt - seine Funktion nieder. Nachfolger wird Gustav Sabath. Emma Ihrer erhält nicht die notwendige Stimmenzahl.
Die eigentliche Kernfrage, wie weit nämlich die Zusammenarbeit der berufsverwandten Zentralverbände institutionalisiert werden soll und zu welchen Verbandsformen man schließlich gelangen will, läßt der Halberstädter Gewerkschaftskongreß in der Schwebe.
Eine Resolution der Tabakarbeiter wird gegen nur eine Stimmen angenommen. Unter Berufung auf die wachsende industrielle Reservearmee heißt es, daß "der Streik als Mittel zur Erreichung besserer Arbeitsbedingungen immer mehr an Wert verliert" und daher in einzelnen Branchen "anstelle des Streiks zur Einführung einer Kontroll-Schutzmarke" geschritten worden sei. Die Schutzmarke wird "überall da, wo sie sich mit Erfolg anwenden läßt, als berechtigtes Kampfmittel auf wirtschaftlichem Gebiet" anerkannt und verpflichtet "die organisierte Arbeiterschaft Deutschlands, diesem System die volle Unterstützung angedeihen zu lassen".
Den einzelnen Gewerkschaften wird es "zur Pflicht gemacht", in ihren Statuten die Forderungen der möglichsten Beseitigung der Akkordarbeit aufzunehmen. Der Kongreß geht von der Voraussetzung aus, daß mit der Beseitigung der Akkordarbeit 1. ein gleicher nach Ortsbedürfnissen festgelegter Lohn für verschiedene Arbeiter bei gleicher Arbeitszeit möglich wäre; 2. die Heimarbeit fallen muß; 3. die Einführung eines eng begrenzten Arbeitstages und damit verbunden 4. eines Minimallohns möglich wäre.
Der Kongreß ist der Ansicht, daß, wenn auch die gänzliche Beseitigung der Akkordarbeit im Augenblick nicht durchzuführen ist, es trotzdem das Bestreben sein muß, die Anschauungen nach dieser Richtung hin zu klären.



Vorhergehender StichtagInhaltsverzeichnisFolgender Stichtag


net edition fes-library | 1999