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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
21. Oktober 1878

Das Ausnahmegesetz wird im "Reichsanzeiger" veröffentlicht und damit rechtskräftig, nachdem der Bundesrat das Gesetz gegen die Stimme von Reuß ä.L. angenommen hat.
Der entscheidende Paragraph 1 des Gesetzes lautet:
"Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten. Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zutage treten. Den Vereinen stehen gleich Verbindungen jeder Art."
Diese Möglichkeit von Vereinsverboten wird dann auf Versammlungen sowie periodische und nichtperiodische Druckschriften ausgedehnt. Bei periodischen Druckschriften kann das "fernere Erscheinen" untersagt werden, sobald nur eine einzelne Nummer aufgrund des Gesetzes verboten wird. Für die betroffenen Vereine bzw. Druckschriften wird zwar eine Beschwerdeinstanz, die "Reichskommission", eingerichtet. Doch ähnlich wie bei den einzelstaatlichen Vereinsgesetzes setzt die Beschwerde das Verbot nicht außer Kraft.
Weiter bietet das Gesetz noch mehrere Möglichkeiten zur Verfolgung. Die weitere Tätigkeit für einen verbotenen Verein oder eine verbotene Zeitung und die Beteiligung an einer verbotenen Versammlung werden mit Strafen bis zu einem Jahr Gefängnis bedroht. Den wegen Übertretungen des Sozialistengesetzes rechtskräftig zu Freiheitsstrafen Verurteilten kann der Aufenthalt an bestimmten Orten verboten werden, falls es sich nicht um ihren Heimatort handelt. Nicht nur diesen, sondern auch "Personen, welche es sich zum Geschäft machen, die im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen zu fördern" - so z.B. Gastwirten, Buchdruckern, Buchhändlern - kann die Gewerbefreiheit beschränkt und der Handel mit Druckerzeugnissen untersagt werden.
Schließlich kann noch für "Bezirke und Ortschaften, welche durch die im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen mit Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedroht sind", durch die Zentralbehörden der Bundesstaaten mit Zustimmung des Bundesrates der sog. Kleine Belagerungszustand verhängt werden. Dies kann Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, der Verbreitung von Druckschriften sowie des Tragens von Waffen zur Folge haben. Vor allem bietet der "kleine Belagerungszustand" die Möglichkeit, die Repräsentanten der lokalen bzw. regionalen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften aus ihrem Wohnort und dessen benachbarten Gebieten auszuweisen. Dies führt bis 1890 zu fast 900 Ausweisungen. Die Dauer des Gesetzes wird zunächst bis zum 31. März 1881 festgesetzt, kann aber verlängert werden.
Sofort nach Inkrafttreten beginnt eine heftige Verfolgung der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften und ihrer Presse. Die Führung der Partei wird auf die Reichstagsfraktion übertragen. O. v. Bismarcks Versuch, den Sozialdemokraten das aktive und passive Wahlrecht zu entziehen, war am Widerstand des Reichstages gescheitert. So bietet der Reichstag während der Dauer des "Sozialistengesetzes" die einzige Möglichkeit, legal sozialdemokratische Auffassungen zu vertreten.
In den kommenden 12 Jahren bildet das Sozialistengesetz nicht die einzige Rechtsgrundlage behördlich-polizeilicher und richterlicher Maßnahmen. Auch das Verbot des Koalitionszwanges und die engen Bestimmungen des Vereinsrechtes werden von den Behörden häufig gegen die Arbeiterbewegung angewendet.
Die Verfolgung der Arbeiterbewegung zeigt sich in den folgenden Jahren auch in der Anzahl der Streiks. Für die Zeit bis 1882 lassen sich kaum ein paar Dutzend Streiks pro Jahr nachweisen. Mehr werden es mit dem kurzen wirtschaftlichen Aufschwung 1885. Erst 1888 setzt wieder eine starke Streikbewegung ein.

Das Zentralwahlkomitee der SPD erläßt einen Aufruf: "An die Parteigenossen", den der "Vorwärts" veröffentlicht und indem es u.a. heißt: "Nicht gewillt, erst die polizeiliche Auslegung des Wortes 'Umsturz' abzuwarten, da der alte Begriff Umsturz hinreichend 'untergraben' ist, um jede Auslegung desselben zu ermöglichen, haben wir beschlossen, das Zentralwahlkomitee selbst aufzulösen. Mit dem heutigen Tage erfolgt dessen Abmeldung bei der Behörde und ist folglich der Rest einer centralistischen Parteiorganisation in Deutschland verschwunden... Einig in der Taktik auch zur Zeit der Bedrängnis, das ist Gewähr für eine bessere Zukunft!"


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