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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
15./17. Juni 1872

In Erfurt findet ein von Mitgliedern der "Eisenacher Partei" unter besonderer Aktivität von Th. Yorck organisierter Gewerkschaftskongreß statt, an dem 52 Delegierte teilnehmen. Sie vertreten rund 11.000 Gewerkschaftsmitglieder. Mehr als die Hälfte der auf dem Kongreß vertretenen Mitglieder der Internationalen Gewerksgenossenschaften lebt in Sachsen. Ein weiterer regionaler Schwerpunkt der Gewerkschaftsbewegung ist Süddeutschland, vor allem mit lokalen Fachvereinen.
Der Kongreß beschließt: "In Erwägung, daß die Kapitalmacht alle Arbeiter, gleichviel, ob sie konservativ, fortschrittlich, liberal oder Sozialdemokraten sind, gleich sehr bedrückt und ausbeutet, erklärt der Kongreß es für die heiligste Pflicht der Arbeiter, allen Parteihader beiseite zu setzen, um auf dem neutralen Boden einer einheitlichen Gewerkschaftsorganisation die Vorbedingung eines erfolgreichen kräftigen Widerstandes zu schaffen, die bedrohte Existenz sicher zu stellen und eine Verbesserung ihrer Klassenlage zu erkämpfen."
Der Kongreß spricht sein Bedauern darüber aus, "daß die Generalversammlung des 'Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins' in Berlin einen gegenteiligen Beschluß gefaßt hat".
Die vorgesehene "Gewerkschaftsunion" will: "die Vereinigung der deutschen Gewerksgenossenschaften, Gewerk- und Fachvereine, welche die materielle Besserung und geistige Hebung der Arbeiterklasse zu erreichen bestrebt sind".
Die "Union" soll also alle gewerkschaftlichen Arbeiterkreise Deutschlands, die sich in selbständige Gewerkschaften, Fachvereine und gemischte Gewerkschaften organisiert haben, umfassen.
Die "Union" soll die Gewerkschaftsmitglieder bei Streiks unterstützen und bei Maßregelungen Rechtsschutz gewähren, die Arbeitsvermittlung regeln, statistische Ermittlungen über die Lage der Arbeiter in Beziehung auf Löhne, Arbeitszeit, Lebensstellung fördern, Versicherungsbanken für Krankheits-, Invaliden- und Sterbe-, sowie Wanderunterstützungskassen gründen, Produktivgenossenschaften fördern sowie Zeitungen zur Förderung der Vereinszwecke gründen und die weitere Agitation dafür kräftig unterstützen.
Jede der "Union" beitretende Gewerkschaft oder jeder Fachverein soll auch zukünftig seine Satzungen selbständig bestimmen. Sie müssen jedoch mit dem Statut oder den Kongreßbeschlüssen der "Union" vereinbar sein.
Jede zur "Union" gehörende Organisation soll vierteljährlich den durch Kongreßbeschluß pro Mitglied und Monat festgesetzten Beitrag und einen statistischem Bericht an die "Union" einsenden.
Jedes Mitglied einer zur "Union" gehörenden Gewerkschaft oder eines Fachvereins usw. soll verpflichtet werden:
In Orten, wo eine eigene Gewerkschaft noch nicht besteht, einer anderen beizutreten.
An allen Orten, wo die Zahl der Arbeiter zu gering ist, um Mitgliedschaften verschiedener Gewerkschaften zu gründen, können gemischte Gewerkschaften errichtet werden.
Jede örtliche Unionsgewerkschaft soll einen Lokalausschuß wählen, der wiederum einen Sekretär und Kassierer wählt, denen die Verwaltung und Leitung obliegen soll.
Die Leitung der "Gewerkschaftsunion" soll ausgeübt werden:
durch den Kongreß, durch einen Ausschuß, welcher die Ausführung der Beschlüsse des Kongresses zu fördern, zu schützen und streng zu überwachen, sowie die "Union" nach innen und außen zu vertreten hat; alle Vereine, Lokal- und Gewerkschaftsausschüsse können von ihm zur Rechenschaft gezogen werden; durch eine Kontrollkommission als überwachende Behörde.
Der Zentralausschuß soll bestehen aus dem Vorsitzenden, einem Sekretär und deren Stellvertreter, einem Kassierer und soviel Beisitzern, als Gewerkschaften in der "Union" vertreten sind, der Sitz des Zentralausschusses durch den Kongreß bestimmt.
Sache des Zentralausschusses ist es u.a.: die statistischen Erhebungen zu veranlassen, zu leiten und zu ordnen, bei Arbeitseinstellungen auch entscheiden, ob sie zur Unionssache zu machen seien und wie hoch die Unterstützungssätze sein sollen. Die Hälfte der Unterstützungen haben die betreffenden Gewerkschaften aufzubringen. Es dürfen nur Mitglieder unterstützt werden, denen die Unterstützungen als Darlehen gegeben wird, das zurückzuzahlen ist, wenn die Arbeit ohne Genehmigung aufgenommen wird.
Alljährlich soll ein Kongreß der "Gewerkschaftsunion" stattfinden aus den eigens hierzu gewählten Vertretern der einzelnen Gewerkschaften und Fachvereine usw.
Zu den Funktionen des Kongresses sollen u.a. gehören:
den Sitz des Zentralausschusses und der Kontrollkommission zu bestimmen; die Prüfung bzw. Entlastung der betreffenden Funktionäre; über Agitationsmittel und Statutenabänderungen zu beschließen; die Gehälter der Funktionäre zu bestimmen.
Außer den regelmäßigen Beiträgen soll die "Union" die Eintrittsgelder der gemischten Mitgliedschaften, die etwaigen Überschüsse der Zeitung und die Überschüsse aller für Unterstützungszwecke gesammelten Gelder erhalten.
Der Kongreß beschließt, daß die Frauenarbeit in Fabriken und Werkstätten abzuschaffen ist.
Als Zentralorgan soll "Die Union", Organ der deutschen Gewerksgenossenschaften, Gewerk- und Fachvereine, wöchentlich als Beilage des "Volksstaates" erscheinen.
Ein Antrag, alle Gewerkschaften aufzulösen und einen einheitlichen Verband zu schaffen, wird mit 37 gegen 15 Stimmen abgelehnt.
Die Leitung des Komitees wird nach Leipzig gelegt, wo die Polizei jedoch eine aktive Arbeit verhindert.
Die Beschlüsse und die Satzungen werden nicht praktiziert. Das liegt zum einen daran, daß die Polizei und Justiz ihre Angriffe gegen die Gewerkschaften verstärken, auch wirkt sich die Wirtschaftskrise von 1873 bald erschwerend auf die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung und damit auf die Verwirklichung der Erfurter Beschlüsse aus. Zum anderen befürchten Gewerkschafter, die zentralen Gewerkschaften würden durch die Gewerkschaftsunion nicht gestärkt, sondern wegen der großen Zugeständnisse gegenüber den Fachvereinen geschwächt. Und schließlich wird die ganze Tragweite der Erfurter Beschlüsse vielfach nicht erkannt, weil es selbst unter den Mitgliedern der SDAP und der Gewerksgenossen oft noch Unklarheiten über den Charakter und die Rolle der Gewerkschaften und über deren Verhältnis zur Partei gibt.



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