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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
9. Oktober 1844

Liberale Sozialreformer gründen den "Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen". Das Centralvereinsprogramm weist den Lokalvereinen die eigentliche praktische Arbeit zu: Sie sollen für die Errichtung von örtlichen Spar- und Prämienkassen, weiterhin von Kranken-, Invaliditäts-, Pension- und Sterbekassen zuständig sein, Fortbildungsschulen für "Fabrikkinder" und Lehrlinge gründen und sich - z.B. durch öffentliche Vorträge - für die "Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse" im Volke einsetzen. Bei diesen Aufgaben will der Verein "die tätige Mitwirkung auch solcher Fabrik- und Handarbeiter, die nicht Mitglied des Vereins sind, bei der Verwaltung der geplanten Institutionen". Als Aufgabe der Provinzialvereine als einer Mittelinstanz ist vor allem die Gründung von Bezirkskassen vorgesehen, in denen die Überschüsse der örtlichen Sparkassen gesammelt werden, um auf diesem Wege größere Kapitalien zu bilden und höhere Zinserträge erwirtschaften zu können.
Mittelpunkt der gesamten Bewegung aber ist der Centralverein, in dem nur Mitglied werden kann, wer mindestens vier Taler Jahresbeitrag zu zahlen bereit ist - der patriarchalische Charakter dieses Lenkungsgremiums ist unübersehbar. Hier sollen sozialreformerische Anregungen aus dem In- und Ausland geprüft, Erfahrungen ausgewertet und Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Durch die Propagierung für wirksam gehaltener Mittel zur Bekämpfung des Pauperismus, durch den Ausbau einer finanziellen Basis und durch die Finanzierung von sozialen Experimenten - geplant ist z.B. der Bau von Arbeiterwohnungen, der Ankauf und die Verteilung von Gartenland, die Einrichtung von Gewerbeschulen u.ä. - will sich der Centralverein als Vorhut der gesamten bürgerlichen Sozialreform qualifizieren. Da der preußische Innenminister in ihm eine Bedrohung der staatlichen Autorität und Sicherheit sieht, bleibt der Verein zunächst wirkungslos. Das erzwungene Scheitern führt jedoch zur wachsenden Einsicht bei den gemäßigt liberalen Bürgern, daß politische Veränderungen notwendig sind, wenn man eine drohende soziale Revolution verhindern will.
Kennzeichnend für die bürgerliche Sozialreform ist dabei von Anfang an ein die Klassengegensätze weitgehend ignorierendes Harmoniedenken.
Einer der wenigen, die schon 1844/45 ahnen, daß soziale Gerechtigkeit etwas mit dem Kampf um ökonomische Macht zu tun hat, ist der erst 20jährige Stephan Born, der spätere Begründer der "Arbeiterverbrüderung". Es geht über eine Kritik am Patronatscharakter des Centralvereins erheblich hinaus, als er 1845 in einer anonym erschienenen Auseinandersetzung mit der sozialen Vereinsbewegung die "Arbeiter" auffordert, sich zu einem von den bürgerlichen Arbeiterfreunden unabhängigen Bund zusammenzuschließen und solidarisch ihr Recht einzufordern, das darin bestehe, "im Verhältnis zu ihrer Arbeit auch belohnt (zu) werden".



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