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[AUSSENPOLITIKFORSCHUNG]
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III. Sicherheitsprobleme Ostmitteleuropas

Aus dem Blickwinkel eines erweiterten Sicherheitsbegriffs, der die politische und wirtschaftliche Stabilität sowie die militärische Sicherheit umfaßt, sind die Sicherheitsprobleme Ostmitteleuropas mannigfaltig. Zwar ist der „Eiserne Vorhang" gefallen, doch sind neue „sanfte Vorhänge" zwischen dem reichen Westen und dem armen Osten zugezogen worden, die einem einheitlichen Europa im Wege stehen. Im Westen herrscht noch immer die Illusion vor, daß sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus durch die Einführung der Mehrparteien-Demokratie und der freien Marktwirtschaft (die in Wirklichkeit nicht völlig frei ist und sich nicht nur auf die Wirtschaft beschränkt) alles übrige automatisch von selbst regelt. Das hieße mit anderen Worten, Ostmitteleuropa würde sich „freihandelnd" in das westliche Wertesystem integrieren. Tatsächlich sind die Mitglieder der sog. Visegrader Gruppe (Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei) die einzigen Staaten im postkommunistischen Osteuropa, in denen zur Zeit eine vergleichsweise politische und wirtschaftliche Stabilität (innere Sicherheit) herrscht und die von außen nicht unmittelbar bedroht werden. Voraussetzung für diese Stabilität - und ihre Weiterentwicklung - ist jedoch die Integration Ostmitteleuropas in die bestehenden westeuropäischen Sicherheitsstrukturen. Die Aufnahme Ostmitteleuropas in die Europäische Union und die NATO würde zumindest einem geographisch größeren Europa mehr Sicherheit als bisher bieten. Diese Integration findet jedoch nicht statt, weil damit zusätzliche Verpflichtungen für die Europäische Union und die NATO verbunden wären. Die ostmitteleuropäischen Länder wurden lediglich als Vollmitglieder in den Europarat aufgenommen, da die westeuropäischen Länder damit keinerlei Verpflichtungen einzugehen brauchten. Die fehlende Integration Ostmitteleuropas in die vorhandenen westeuropäischen Strukturen gefährdet die erreichte politische und wirtschaftliche Stabilität sowie die innere und äußere Sicherheit in den betreffenden Ländern. Damit wachsen nunmehr auch in Ostmitteleuropa Instabilität und die Gefahren, die sich aus der Unberechenbarkeit der Transformationsprozesse ergeben.

Die politische Stabilität Ostmitteleuropas ist eine unerläßliche Voraussetzung für die gesamteuropäische Sicherheit. Sie kann nur auf einer stabilen wirtschaftlichen Basis aufgebaut und gesichert werden. Und diese kann wiederum nur durch den Einsatz westlicher Wirtschaftshilfe geschaffen werden. Die bisher in Osteuropa in Gang gesetzten wirtschaftlichen Transformationsprozesse beruhten jedoch weniger auf einer schlüssigen westlichen Konzeption als vielmehr auf westlichen Fehleinschätzungen. Ostmitteleuropa diente in den letzten drei Jahren als Versuchsfeld für vereinfachende westliche Wirtschaftstheorien, die letzten Endes mehr Schaden als Nutzen brachten. Unberücksichtigt blieb z.B. von seiten westlicher Experten die Bedeutung des Zusammenbruchs des RGW-Marktes für Ostmitteleuropa und der daraus resultierende Schaden für das Bruttoinlandsprodukt. In der Größenordnung ist dieser Verlust einer Situation vergleichbar, in der Österreich plötzlich den deutschen Markt oder Deutschland den französischen Markt verlieren würde. Unberücksichtigt blieb ferner im Westen auch die Tatsache, daß der Beginn des Transformationsprozesses in Ostmitteleuropa mit einer lähmenden Schuldenlast einherging. Dem Strom des Auslandskapitals nach Ostmitteleuropa stand ein beträchtlicher Netto-Abfluß von Ressourcen in den Westen gegenüber (vgl. Economic Survey of Europe 1992-1993, Genf 1993). Im übrigen besteht nach wie vor eine breite Kluft zwischen der zugesagten und der tatsächlich geleisteten westlichen Hilfe für Ostmitteleuropa. Ein Großteil der geleisteten Hilfe fließt schon allein dadurch in die westlichen Geberländer zurück, daß davon u.a. die hohen Entgelte für westliche „Experten" und „Berater", ihre Ausgaben im Zielland sowie Verwaltungskosten gedeckt werden. Die Anwendung des Instrumentariums, dessen sich die westlichen Industriestaaten in den Entwicklungsländern bedienen, wirkt in Ostmitteleuropa eher kontraproduktiv, denn der Bildungsstand der Fachkräfte erreicht in Ostmitteleuropa auf zahlreichen Gebieten westliches Niveau. Ihnen fehlen nicht Wissen und „Belehrung", sondern die Mittel, vor allem das Kapital, um wirtschaftliche Stabilität im Verlauf des Transformationsprozesses zu sichern. Und ohne wirtschaftliche Stabilität sind die neuen politischen Machteliten Ostmitteleuropas weder in der Lage, die politische Stabilität auf Dauer zu gewährleisten noch alle von Westeuropa geforderten Kriterien für die Integration zu erfüllen. Die Schaffung einer stabilen wirtschaftlichen Basis in Ostmitteleuropa ist nur möglich, wenn Westeuropa in seinen Wirtschaftsbeziehungen zu Ostmitteleuropa auf (historische) Status quo-Vorteile verzichtet, d.h. auf die totale Importliberalisierung in Ostmitteleuropa einerseits und den Protektionismus des europäischen Binnenmarktes gegenüber wettbewerbsfähigen Produkten Ostmitteleuropas andererseits. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformationsprozeß ist keine Einbahnstraße. Nicht nur Ostmitteleuropa muß sich Westeuropa anpassen. Auch Westeuropa muß den Gegebenheiten in Ostmitteleuropa Rechnung tragen. Es ist eine Illusion zu glauben, daß durch eine eventuelle politisch-wirtschaftliche Destabilisierung Ostmitteleuropas die Stabilität Westeuropas unberührt bliebe.

Die Staaten Ostmitteleuropas fühlen sich nach der Auflösung des Warschauer Paktes in einem sicherheitspolitischen Vakuum. Diese Situation verlangt von westlicher Seite eine politische Antwort, d.h. militärpolitische Perspektiven, die neues Vertrauen schaffen. Der eigentliche Grund für das sicherheitspolitische Dilemma Ostmitteleuropas ist allerdings nicht die Auflösung des Warschauer Paktes, sondern vielmehr die innere Instabilität auf dem Gebiet des früheren Sowjetimperiums und in Südosteuropa. Schon in den Zeiten der bipolaren Welt, die durch gegenseitige atomare Abschreckung gekennzeichnet war, umfaßte der Begriff der militärpolitischen Sicherheit nur das Verhältnis zwischen den beiden Blöcken in West- und Osteuropa, nicht aber die innere Situation in den ostmitteleuropäischen Ländern (1956: Ungarn; 1968: Tschechoslowakei). Auch in der heutigen multipolaren Welt ist durch das neue Feindbild „Nationalismus" die Lage Ostmitteleuropas nicht sicherer geworden. Die Bedeutung militärischer Mittel wurde nicht geringer. Vielmehr setzen politische Kräfte, um ihre Ziele zu erreichen, erneut und vermehrt das Militär ein.

Vor dem Hintergrund des jüngsten NATO-Gipfels bleiben NATO-Mitgliedschaft sowie Sicherheitsgarantien für Ostmitteleuropa Illusionen. Die angebotene „Partnerschaft für den Frieden" kommt der Ablehnung einer engeren Verflechtung Ostmitteleuropas mit der NATO gleich. Sie mag zwar in begrenztem Maße von psychologischem Nutzen sein, schiebt jedoch die Sicherheitsprobleme der ostmitteleuropäischen Reformstaaten weiter auf die lange Bank.

Die NATO beharrt auf ihrer atlantischen und westeuropäischen Verteidigungsidentität, d.h. sie dient als Instrument, um die amerikanische Präsenz in Europa sicherzustellen. Zwar blieb sie dadurch auch nach ihrem 45jährigen Bestehen das erste richtige kollektive Verteidigungsbündnis der Geschichte, trotzdem wurde sie den jüngsten Veränderungen in Europa nicht - entsprechend ihrem Gewicht und inhaltlichen Anspruch - gerecht. Dies mag auf die Identitätsstörung zurückzuführen sein, mit der sich die NATO seit drei Jahren auseinanderzusetzen hat. Und da die NATO zur Zeit ihre eigenen Probleme zu bewältigen hat, war nicht zu erwarten, daß sie sich zusätzlich die ungelösten Sicherheitsprobleme Ostmitteleuropas aufbürdet. Das gegenwärtige Problem besteht im wesentlichen darin, daß - nach dem Verschwinden des gemeinsamen Feindes (Ostblock) - ein alles bestimmendes gemeinsames Interesse Westeuropas und der USA nicht mehr besteht. Damit steht die NATO vor einem doppelten Dilemma. Erstens geht es um die Friedenserhaltung als völlig neue Erscheinung in der Geschichte, d.h. die Frage, wo, wann, wie und in welchen Konflikt sich die NATO als „Weltpolizist" einzumischen hat. Das Militärpotential selbst gewährt, auch wenn es dem Feind überlegen ist, noch keine Sicherheit. Das zweite Dilemma betrifft Rußland bzw. die russische Zivilisation, die auch auf lange Sicht kaum bereit zu sein scheint, sich dem westlichen Wertesystem anzupassen, geschweige denn, sich dies anzueignen.

Für Ostmitteleuropa ergeben sich aus der gegebenen Situation zwei Konsequenzen. Einerseits ist Rußland aus einem europäischen Sicherheitssystem nicht wegzudenken. Andererseits ist die Sicherheit Ostmitteleuropas nicht ausschließlich innerhalb der NATO zu suchen bzw. zu finden. Es sind daher alternative Lösungen notwendig. Die „Partnerschaft für den Frieden" erscheint dabei allerdings nicht die denkbar beste Alternative zu sein. Sie kommt ausschließlich den Sicherheitsinteressen Rußlands entgegen, löst jedoch weder die Sicherheitsprobleme Ostmitteleuropas noch der NATO. Das Defizit bei der „Partnerschaft für den Frieden" besteht in der fehlenden Entschlossenheit, die NATO als Verteidigungsbündnis so umzugestalten, daß sie auch Regionen wie Ostmitteleuropa in Konfliktsituationen Sicherheit bietet, vor allem wenn aus diesen Regionen unmittelbare Gefahren für den Westen erwachsen können. Das NATO-Argument, keine neue Trennungslinie in Europa ziehen zu wollen, relativiert sich durch das Gegenargument der Ostmitteleuropäer: Es werden keine neuen Trennungslinien gezogen, sondern die bestehende alte Trennungslinie wird nach Osten verschoben. Durch eine NATO-Mitgliedschaft Ostmitteleuropas käme nicht der „Feind" der russsichen Grenze näher, sondern vielmehr die Demokratie und Stabilität. Im übrigen würden die mit russischen Waffen ausgestatteten Armeen Ostmitteleuropas keine signifikante Verstärkung des NATO-Potentials bedeuten. Die quantitative Überlegenheit der russischen Streitkräfte in Europa würde weiterbestehen.

Insofern spiegelt die Konzeption „Partnerschaft für den Frieden" bzw. die Weigerung, Ostmitteleuropa in die NATO aufzunehmen, nicht reale Gegebenheiten, sondern eher die westlichen Ängste vor Rußland wider. Sie läuft faktisch auf eine Anerkennung eines russischen Vetos in NATO-Angelegenheiten hinaus. Vor die Alternative gestellt, Jelzin oder NATO-Mitgliedschaft Ostmitteleuropas, hat sich der Westen für Jelzin entschieden in dem Glauben, man könnte dadurch die Entwicklung in Rußland, wo jeder vierte Wähler Schirinowskij gewählt hat, beeinflussen. Für die westliche Politik würde Ostmitteleuropa nur dann wichtig, wenn in Rußland das „Chaos" ausbräche oder der „Faschismus" an die Macht käme. Bis dahin spielt Ostmitteleuropa für die Atlantische Allianz nur die Rolle einer Art Pufferzone.

Nach dem Clinton-Jelzin-Gipfel in Moskau wurde deutlich, daß es das vorrangige strategische Ziel der USA und Rußlands ist, im europäischen Raum eine ihren eigenen „vitalen" Interessen entsprechende Stabilität zu schaffen. Dabei handelt es sich praktisch um den Versuch, die gegenwärtige multipolare Welt erneut in eine bipolare umzuwandeln. Die USA billigen Rußland in den ehemaligen sowjetischen Gebieten (mit Ausnahme des Baltikums) eine besondere Sicherheits- bzw. friedenserhaltende Rolle zu, während Ostmitteleuropa als legitime russische Interessenzone betrachtet wird. Aufgrund dieses Russozentrismus der USA (vertreten durch Strobe Talbott) entstand anstelle einer nach Osten erweiterten NATO die „Partnerschaft für den Frieden"-Konzeption, die als Angebot nicht nur für Ostmitteleuropa, sondern für die gesamte Region, einschließlich Ukraine und Rußland, gilt. Frankreich und England unterstützen nachdrücklich den neuen amerikanischen Russozentrismus, denn eine Osterweiterung der NATO hätte de facto die Erweiterung der deutschen Einflußsphäre bedeutet.

In diesem Zusammenhang kann die Reaktion Polens, des einzigen Landes von strategischer Bedeutung in der Region, nicht unbemerkt bleiben. Der „Rapallo-Komplex" (deutsch-russischer Ausgleich von 1922), hervorgerufen durch Äußerungen des russischen Außenministers Kosyrew (und auch Schirinowskijs) über Möglichkeiten einer „deutsch-russischen Achse" sowie die Tatsache, daß ab August 1994 ausschließlich deutsche Soldaten die NATO an der polnischen Grenze repräsentieren, erklären, warum Polen (Präsident Walesa) als einziges ostmitteleuropäisches Land so energisch gegen den neuen Russozentrismus ankämpft und die Aufnahme Polens in die NATO fordert.

Nach dieser insbesondere für Polen „schmerzhaften" Behandlung der Visegrader Gruppe während des Prag-Besuchs von Präsident Clinton konnte sich Rußland beim Kiew-Besuch des amerikanischen Präsidenten eines weiteren „Geschenks" erfreuen: Die USA „kauften" praktisch das Atomarsenal der Ukraine „auf". Die auf diese Weise erfolgte Entwaffnung der Ukraine noch bevor Rußland sein Atomarsenal vernichtet hat, ist kein unbedeutender Vorgang für die Region, wenn man bedenkt, daß die Unabhängigkeit der Ukraine die wichtigste Folgeerscheinung des Zerfalls des Sowjetimperiums ist. Wie die Ukraine reagiert, werden die Wahlen im März 1994 zeigen.

Nach so viel westlichem Entgegenkommen konnte der Clinton-Jelzin-Gipfel in Moskau störungsfrei verlaufen. Schließlich wurde Rußland in die Sphäre der „Partnerschaft für den Frieden" gehoben. Auch wenn es heute noch unglaubhaft klingen mag, aber: Auf diese Weise kann die „Partnerschaft für den Frieden", historisch betrachtet, den Zerfall der NATO in ihrer heutigen Form einleiten. Sie kann zu einem „gesamteuropäischen Sicherheitssystem" führen, wie es die sowjetische politische Strategie zu Zeiten des Kalten Krieges immer wieder gefordert - und der Westen damals stets abgelehnt - hat. Das Angebot der „Partnerschaft für den Frieden" an Moskau erfolgte ausgerechnet zu einer Zeit, in der die „Westler" (die sog. Reformer und Radikalreformer aller Schattierungen) aus der russischen Regierung verschwanden, die Ära der „Markt-Romantik" (Ministerpräsident Tschernomyrdin) in Rußland zu Ende ging und sich der Tonfall der russischen Außenpolitik radikal änderte. Was der „demokratische" russische Außenminister Kozyrew auf der KSZE-Außenminister-Tagung am 14. Dezember 1992 als „Witz" zum besten gab (Rußland wieder Großmacht), ist heute Realität. Geblieben ist die geopolitische Konstellation, die für die letzten 200 Jahre der russischen Geschichte bestimmend war: Rußland als eurasische Großmacht.

Vor diesem Hintergrund klingen Versicherungen von amerikanischer Seite (z.B. Walter Slocombe im US-Verteidigungsministerium), Washington werde keinen Druck Rußlands auf das Baltikum, die Ukraine oder die Länder Ostmitteleuropas zulassen, auch wenn diese noch außerhalb der NATO blieben (zitiert nach: Die Welt, 29. Januar 1994, S. 4), wenig ermutigend. Weiterhin besteht eine Wechselwirkung zwischen den ungelösten Sicherheitsproblemen und einer möglichen Trendwende in Ostmitteleuropa.


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