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[AUSSENPOLITIKFORSCHUNG]
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II. Wahlen in Ungarn

Die bevorstehenden Wahlen in Ungarn werden zeigen, ob die in Litauen und Polen begonnene Trendwende sich in Ostmitteleuropa fortsetzt. Der genaue Wahltermin steht noch nicht fest. Doch ist davon auszugehen, daß die Wahlen trotz des Todes von Ministerpräsident József Antall nicht vorgezogen werden, sondern im Mai 1994 stattfinden.

Nach den ersten freien Wahlen vom März 1990 waren im ungarischen Parlament sieben Parteien vertreten - das Ungarische Demokratische Forum (MDF), der Bund der Freien Demokraten (SZDSZ), der Bund der Jungen Demokraten (FIDESZ), die Partei der Kleinlandwirte (FKgP), die Christ-Demokratische Volkspartei (KDNP), die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) und der Agrarbund, sowie eine Gruppe von unabhängigen Abgeordneten. Die Koaliationsregierung wurde vom MDF (stärkste Fraktion) mit der KDNP und FKgP gebildet. Sie blieb trotz innerparteilicher Krisen im MDF und der FKgP, von einigen Ministerwechseln abgesehen, bis heute unangetastet an der Macht.

Trotzdem gelang es der national-konservativen Regierung von Ministerpräsident Antall (MDF) in der vierjährigen Amtsperiode nicht, Staat und Gesellschaft ein Mehr an innerer Stabilität zu sichern. Die Regierung verstrickte und verausgabte sich im politischen Machtkampf unter Vernachlässigung der Wirtschaftspolitik. In Prag, Warschau, Sofia, Bukarest und Ostberlin waren es die Demonstrationen der Volksmassen, die (1989/90) die kommunistischen Regime stürzten. In Budapest fehlte diese revolutionäre Situation. In Ungarn war das alte kommunistische Kádár-Regime im wesentlichen bereits 1988 - nach der Machtübernahme der Reformkommunisten der jüngeren Generation - am Ende.

Schon damals wurden durch gesetzgeberische Maßnahmen Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft eingeleitet. Während in anderen Ländern Osteuropas die „Schocktherapien" beim Übergang zur Marktwirtschaft die mit dem Systemwechsel verknüpften Illusionen der Bevölkerung zerstörten, war es in Ungarn das Unvermögen der Koalitionsregierung unter Antall, die von den Reformkommunisten eingeleiteten Wirtschaftsreformen konsequent und konzeptionell weiterzuführen, das die große Enttäuschung und Ernüchterung auslöste.

Insofern fand in Ungarn 1990 kein Systemwechsel, sondern nur ein Elitenwechsel an der Spitze statt. Die neue Elite (Koalitionsparteien und Regierung), die nach den ersten freien Wahlen vom März 1990 die Macht übernahm, repräsentierte die zweite und dritte Garnitur der ungarischen Intellektuellen, die vor 1988 weder eine politische Rolle gespielt hatten noch durch oppositionelle Aktivitäten während des Kádár-Regimes aufgefallen waren. Eine amateurhafte Politik, Führungsinkompetenz, Entscheidungsunfähigkeit, undurchführbare Entscheidungen, der Ausbau von Klientenstrukturen sowie die Aufblähung der Staats- und Verwaltungsbürokratie kennzeichneten die Irrationalität des politischen Lebens während der vierjährigen Amtsperiode der neuen Machtelite. Die Neigung, sich der Geschichtsphilosophie des halbfeudalen Horthy-Regimes (zwischen den beiden Weltkriegen) zu bedienen und dessen Wertesystem neu zu beleben, hat das in die neue Elite gesetzte Vertrauenskapital der Bevölkerung aufgezehrt. Die Vernachlässigung der Demokratisierung, das Hervortreten des rechtsextremen Populismus sowie Tendenzen in Richtung eines autoritären Regimes haben den ungarischen Staat eher von einer Demokratie westeuropäischer Prägung entfernt als ihr nähergebracht. Die neue Machtelite geriet in eine Legitimationskrise. Bei den Kommunalwahlen vom Oktober 1990 mußten die Regierungsparteien bereits eine deutliche Niederlage hinnehmen.

Die Entscheidungsunfähigkeit der Antall-Regierung zeigte sich darin, daß die zur Sicherung von politischen und wirtschaftlichen Reformen wichtigen Gesetze vom Parlament überhaupt nicht oder zu spät verabschiedet wurden (z.B. das Mediengesetz und das Bodengesetz). Unter den von der Regierung seit 1990 eingebrachten und von der Koalitionsmehrheit verabschiedeten Gesetzen haben sich bis heute 20 - zumindest teilweise - als verfassungswidrig erwiesen (z.B. das Entschädigungsgesetz und das Wohnungsgesetz). Um ihre Macht zu sichern, wandten sich die neuen politischen Eliten auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit einer autoritären Herrschaftsform zu. Zum politischen Kampfinstrument in den Händen der Regierungsparteien könnte unmittelbar vor den Wahlen das kürzlich verabschiedete Verjährungsgesetz werden, das zugleich auch internationale Rechtsprinzipien in Frage stellt.

Die neue Machtelite unternahm nichts gegen völkisch-nationalistische Tendenzen sowie den offenen und verdeckten Antisemitismus. Als im Oktober 1992 Rechtsradikale den Staatspräsidenten hinderten, eine Festrede zu halten, versuchte die Antall-Regierung, den Vorfall zu bagatellisieren. In Szeged versammelte sich eine ganze Palette rechtsextremer völkisch-nationalistischer Kräfte zum IV. Szythischen (Szittya) Weltkongreß. Eine historische Neubewertung der Horthy-Ära wurde im September 1993 mit der Rückführung der Leiche des 1957 in Portugal verstorbenen Admirals Miklós Horthy eingeleitet, der 1920-1944 Reichsverweser in Ungarn war. Die Tatsache, daß an der Beerdigung sieben Minister der Antall-Regierung als „Privatpersonen" teilnahmen, machte die vom Fernsehen direkt übertragene Zeremonie zur politischen Demonstration der neuen Machtelite.

Daß der Demokratisierungsprozeß in Ungarn sehr schleppend, wenn nicht sogar in die falsche Richtung, verläuft, ist nicht allein Schuld der Regierungsparteien, deren Wertesystem die Zukunft des Landes in der Vergangenheit sucht. Auch die liberalen Oppositionsparteien im Parlament trugen dazu bei, daß in Ungarn die in Westeuropa praktizierte zivilisierte Form parlamentarischer Demokratie nicht so recht funktionieren konnte. Während der vierjährigen Legislaturperiode vermochte die Opposition ihrer Aufgabe, d.h. der parlamentarischen Kontrolle der Regierung, zu keinem Zeitpunkt gerecht zu werden. Dies führte zum Popularitätsverlust der Oppositionspolitiker. Auch der 1991 durch die demokratische Intelligenz (Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens) als Massenbewegung gegründeten „Demokratischen Charta" gelang es nicht, die Machtpolitik der national-konservativen Regierung zu beeinflussen und den Demokratisierungsprozeß voranzutreiben.

Die eigentliche demokratische Kontrolle der Regierung fand in Ungarn außerhalb des Parlaments - in den Medien - statt. Aus diesem Grund konzentrierte sich die Hauptaktivität der Antall-Regierung seit 1991 darauf, die freie, unabhängige und regierungskritische Berichterstattung in den Medien zu unterbinden, Rundfunk und Fernsehen unter Regierungskontrolle zu bringen. Inzwischen ist dieser „Medienkampf" zugunsten der Regierung entschieden. Im Januar 1993 traten die Intendanten von Rundfunk und Fernsehen zurück. Die neuen Medienchefs (Vizepräsidenten) haben die kritischen Sendungen „Egyenleg" im Fernsehen und „Chronik" (Presseschau) im Rundfunk aus dem Programm gestrichen. Damit begann die „Säuberung" von Rundfunk und Fernsehen. Bei der Zerschlagung der Pressefreiheit in den elektronischen Medien berief sich die Antall-Regierung auf eine Verordnung von 1974 (!), die 1993 vom Verfassungsgericht als verfassungskonform erklärt wurde. Da sich somit die elektronischen Medien (Rundfunk und Fernsehen) unmittelbar vor den Wahlen in den Händen der Regierungsparteien befinden, sind diese in der Lage, die Wahlkampagne beliebig zu steuern und damit eventuell auch die Wahlen zu gewinnen. Bemerkenswert ist dabei, daß das westliche Ausland die Aufhebung der freien und unabhängigen Berichterstattung im ungarischen Rundfunk und Fernsehen ohne Proteste stillschweigend hingenommen hat. Das erweckt den Eindruck, daß die westlichen Länder eine mögliche Trendwende in Ungarn als höhere Gefahr für den Demokratisierungsprozeß einstufen als die Aufhebung der Pressefreiheit.

Nach dem Tod von József Antall übernahm der bisherige Innenminister Péter Boross (MDF) den Posten des Ministerpräsidenten. Vermutlich wird sich die Politik seiner Regierung weiter nach rechts bewegen. Für die bis zu den Wahlen verbliebenen Monate wurde die Lösung der Wirtschaftsprobleme in den Mittelpunkt des Regierungsprogramms gestellt.

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1. Wirtschaftslage

Seit 1990 hat sich die Leistung der ungarischen Wirtschaft dramatisch verschlechtert. Bis Ende 1993 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 25%. Die Produktion von Industrie und Landwirtschaft ging im gleichen Zeitraum (1990-1993) um 40% zurück. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg bis Ende 1993 auf 700.000 (13,5%). Die Inflation betrug 1990 29%, 1991 35%, 1992 23% und 1993 24%. Das Investitionsvolumen bewegt sich auf dem Niveau der Jahreswende 1969/70. Die Zahlungsbilanz im Außenhandel endete 1993 mit einem Defizit von 2,5 Mrd. Dollar. Die Exporte gingen um 25% zurück, die Importe nahmen gleichzeitig um fast 5% zu. Das zu hohe Haushaltsdefizit erschwert die Verhandlungen mit dem IMF.

Die Antall-Regierung entwarf zwar für die Jahre 1990-1993 ein „Wirtschaftsprogramm der nationalen Erneuerung", sie hatte jedoch kein Konzept, um es zu verwirklichen. Anstatt sich auf die Wirtschaftsentwicklung zu konzentrieren, zielte die Regierungspolitik darauf ab, die wirtschaftlichen Grundlagen ihrer politischen Macht zu festigen. Sie versuchte, das kapitalistische System in Ungarn zu stabilisieren, indem sie die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wiederherzustellen versuchte. Diese Strategie führte zur Stärkung des Einflusses der Staatsbürokratie und der in Ungarn tätigen multinationalen Konzerne. Zu einem Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Kommunen und Sozialversicherung sowie einem Ausbau der entsprechenden Mechanismen kam es nicht.

Die Privatisierung wurde von der Antall-Regierung stark zentralisiert. Sie wurde unter Ausschluß der Öffentlichkeit ohne Transparenz und parlamentarische Kontrolle durchgeführt. Der Privatisierungsprozeß kam nur schleppend voran, weil die Regierung gleichzeitig - im Rahmen einer neugeschaffenen Staatsholding AG - das dezentralisierte staatliche Eigentum renationalisierte, um ein neues Machtzentrum zu schaffen. Dies gelang, indem die neue Machtelite die Schlüsselpositionen der Wirtschaft mit ihren eigenen Parteikadern auffüllte. Andererseits wurden durch dieses Vorgehen der Korruption vielfältige Möglichkeiten eröffnet. Anfang 1993 kam es zu einer Richtungsänderung in der Privatisierungspolitik, weil sich nämlich der Wertbestand des staatlichen Eigentums rasch zu verringern drohte. Das Interesse der ausländischen Investoren ließ nach, nachdem sie die „Rosinen" herausgepickt hatten. Die Regierung entwarf deshalb Förderprogramme für einheimische Investoren, um die Eigentumsreform im Rahmen einer Art Massenprivatisierung zu beschleunigen. Inzwischen haben die positiven Auswirkungen der ausländischen Direktinvestitionen auf die ungarische Wirtschaft erheblich nachgelassen. Der Anteil des Auslands an der Privatisierung betrug 1991 80%, 1992 60% und 1993 nur noch 30%. Im I. Halbjahr 1993 investierte das Ausland in Ungarn im Wert von 1,7 Mrd. Dollar, wobei Japan und Deutschland dem Volumen nach an der Spitze lagen. Nachdem die Regierung die steuerlichen Vergünstigungen gestrichen hatte, ist für 1994 ein Nachlassen des ausländischen Interesses an Joint Ventures in Ungarn zu erwarten.

Verantwortlich für die ständig rückläufige Produktion in Industrie und Landwirtschaft in den Jahren 1990-1993 sind nicht nur die „Kräfte des freien Marktes". Einen nicht unerheblichen Anteil daran hatte auch die Wirtschaftspolitik der Antall-Regierung. Die Zahl der Konkurs- und Liquidierungsverfahren - auch von leistungsfähigen Privatunternehmen - nimmt seit 1992 ständig zu. Vor allem steht die Landwirtschaft, die in den 70er und 80er Jahren sowohl für die Befriedigung des Inlandsbedarfs als auch den Export eine positive Rolle gespielt hatte, vor dem Zusammenbruch. Den Genossenschaften, die bislang mit ihren großbetrieblichen Strukturen den ungarischen Erfolg im Agrarsektor garantierten, versuchte die Regierung mit allen Mitteln (Finanzpolitik, Entschädigungsgesetz, Verbot der Teilnahme an der Privatisierung) die Existenzgrundlage zu entziehen. Dahinter stand die Absicht, durch (kaum lebensfähige) kleinbäuerliche Privatbetriebe eine gesellschaftliche Basis für die neue Machtelite zu schaffen.

Die Transformationsprozesse in der Amtszeit der Antall-Regierung 1990-1993 führten zur Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung. 1989 lebten 12% und 1991/92 27% der Bevölkerung unter dem Existenzminimum. Ende 1993 stieg dieser Anteil auf 36%. Heute leben rund 2,5 Mill. Menschen in Armut. Darunter befinden sich mindestens 25.000 Obdachlose. Während die Reichen (etwa 30%) nicht reicher geworden sind, wurden die Armen noch ärmer. 4% der Bevölkerung leben in absoluter Armut. Ein Sozialgesetz trat erst im März 1993 in Kraft. Die Zuwendungen im Rahmen des geplanten sozialen Netzes sind jedoch zu gering.

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2. Wahlaussichten

Bei der Frage „Trendwende in Ostmitteleuropa: Ja oder Nein?" ist zunächst davon auszugehen, daß die Bevölkerung in Polen und Ungarn dem Systemwechsel und den neuen rechtsgerichteten Regierungen mit großen Erwartungen entgegengesehen hatte. Nach dreijähriger Amtszeit der neuen Machtelite wurde die Enttäuschung immer größer. In Ungarn stehen sich drei Parteiengruppen gegenüber: Konservative, Liberale und Sozialdemokraten. Zwar läßt sich mit Sicherheit voraussagen, daß das gegenwärtige regierende Ungarische Demokratische Forum nach den Wahlen nicht mehr die stärkste politische Kraft sein wird, über die Trendwende entscheiden letztendlich jedoch die Liberalen. Sie findet nicht statt, wenn die Liberalen mit den Konservativen die Regierung bilden. Nur eine Koalition der Liberalen und der Sozialdemokraten könnte eine Art Trendwende bedeuten. Daß eine der Parteiengruppierungen die absolute Mehrheit gewinnt, erscheint höchst unwahrscheinlich.

Die Kräfteverhältnisse unter den Parteien haben sich bereits im 386köpfigen Parlament der gegenwärtigen Legislaturperiode (1990-1994) verändert. Den Abgeordneten stand es frei, die Sitze zu wechseln, neue Fraktionen oder Parteien zu gründen. Waren im Parlament zu Beginn der Legislaturperiode sieben Parteien, darunter sechs mit Fraktionen, vertreten, so sitzen dort heute Vertreter von 15 Parteien, darunter acht in Fraktionsstärke. In den vergangenen drei Jahren vollzog sich ein geistiger Klärungsprozeß, der zur Zersplitterung der politischen Bewegungen führte. Die Herausbildung echter Parteienstrukturen und ein funktionierendes Mehrparteiensystem sind erst nach den kommenden Wahlen zu erwarten.

Die gegenwärtige Regierungspartei, das Ungarische Demokratische Forum (MDF), das vor den ersten freien Wahlen 1990 eine Sammelbewegung kritischer und nonkonformistischer Intellektueller darstellt, hat sich inzwischen zu einer rechtsgerichteten national-konservativen Partei entwickelt. 1990 waren in dieser Sammelpartei („ruhige Kraft") noch völkisch-nationale, christdemokratische, konservative und nationalliberale Strömungen vereint. Die Zersetzung des MDF durch innere Krisen begann im Herbst 1991 mit einem Strategie-Papier (von Imre Kónya), in dem ein Verjährungsgesetz (Justizia-Plan) sowie die Regierungskontrolle über Rundfunk und Fernsehen gefordert wurden. Darauf folgte im August 1992 eine Studie von István Csurka mit der Forderung, die Medien zu kontrollieren, einen Nachfolger für den erkrankten Partei- und Regierungschef Antall zu benennen und „Lebensraum" für die Ungarn zu schaffen. Die Studie enthielt eine Verschwörungstheorie, gespickt mit antisemitischen Ausfällen. Daraufhin verließen mehrere bekannte MDF-Politiker die Partei. Auf dem 6. MDF-Kongreß im Januar 1993 wurden die Nationalliberalen aus der Parteiführung entfernt bzw. aus der Partei ausgeschlossen (Elek, Debreczeni). Im Mai 1993 kam es zur Spaltung des MDF, indem die Anhänger von Csurka im Parlament eine eigene Fraktion, die „Gruppe der Ungarischen Wahrheit", bildeten. Seitdem dominiert im MDF die national-konservative Richtung mit engen Bindungen zu den Rechtsradikalen um Csurka.

Die vom MDF abgespaltenen Rechtsradikalen um den Schriftsteller István Csurka stützen sich im Parlament auf die Fraktion „Gruppe der Ungarischen Wahrheit" und in der Gesellschaft auf die neugegründete Bewegung „Kreise des Ungarischen Weges", die Anfang Juli 1993 ihre erste Landesversammlung durchführte. Aus dieser Bewegung ging schließlich eine neue Partei, die Partei der Ungarischen Wahrheit und des Lebens (MIÉP) hervor. Ihr erster Kongreß fand im November 1993 statt. Sie nutzt die nationalen Gefühle aus und bedient sich unverhohlen der faschistischen Ideologie und sozialen Demagogie. Eine klare Abgrenzung der Regierungspartei gegenüber den Rechtsradikalen hat es bisher nicht gegeben. Zwischen ihnen und dem national-konservativen MDF besteht nach wie vor ein enges Beziehungsgeflecht.

Zu den Koalitionspartnern des MDF gehört die Christ-Demokratische Volkspartei (KDNP), die sich als Partei des Zentrums auf der Grundlage christlicher Weltanschauung versteht. Inzwischen fanden auch in der KDNP Richtungskämpfe statt, die nach Zurückdrängung des christlich-sozialen Flügels mit einem Rechtsruck der Partei endeten. Die KDNP stützt sich auf die katholische Kirche Ungarns, die wiederum vornehmlich die nationalistischen Kräfte in christlichem Gewand aktiv unterstützt. 1990 holte die KDNP die meisten Stimmen in den Dörfern und ländlichen Gebieten. Heute ist sie eine gut organisierte Partei mit starkem Anhang auch in den Städten.

Weiterer Koalitionspartner des MDF ist die Unabhängige Partei der Kleinlandwirte (FKgP). Als historische partei verfügt sie über eine große parlamentarische Vergangenheit (von den 30er Jahren bis 1948). In den letzten drei Jahren ist sie jedoch zu einer Skandalpartei geworden. Sie ist extrem antikommunistisch ausgerichtet und strebt eine Art Agrar-Marktwirtschaft an. Ihr Handicap ist, daß ihr eine umfassende Modernisierungskonzeption fehlt. Bereits 1991 kam es im Parlament zur Spaltung in eine Fraktionsmehrheit (regierungs- und koalitionstreue) und eine oppositionelle FKgP um Parteiführer József Torgyán. Die Partei selbst zerfiel in zahlreiche Gruppen (Historische Unabhängige Kleinlandwirtepartei, Konservative Kleinlandwirtepartei, Demokratische Kleinlandwirtepartei, Nationale Kleinlandwirtepartei, Radikaler Flügel usw.). Diese schlossen sich im November 1993 erneut zu einer Vereinigten Kleinlandwirtepartei (EKgP) zusammen, während der Flügel um József Torgyán inzwischen die Partei der Ungarischen Zukunft bildete.

Im liberalen Parteienspektrum ist der aus der Dissidenten-Bewegung der 70er Jahre hervorgegangene Bund der Freien Demokraten (SZDSZ) die zweitstärkste Fraktion und die zahlenmäßig stärkste oppositionelle Kraft im gegenwärtigen Parlament. Sein politischer Einfluß nahm zunächst zu. Der Bund ging 1990 als Sieger aus den Kommunalwahlen hervor. Dies zwang die Regierungspartei MDF zu Zugeständnissen. Im Rahmen einer zwischenparteilichen Vereinbarung überließ man damals dem SZDSZ den Posten des Staatspräsidenten sowie die Massenmedien. Auch dem Wunsch des SZDSZ, dem Auslandskapital bei der Privatisierung eine bestimmte Rolle zuzuweisen, wurde Rechnung getragen. Die Regierung hielt sich jedoch nicht an diese Abmachungen. Sie entfachte einen „Medienkampf" und stellte auch die spontane Privatisierung ein. Seitdem läuft der SZDSZ Gefahr, seine Anziehungskraft zu verlieren und auf das Niveau eines grauen Mittelmaßes herabzusinken. Seit 1991 hat sich der SZDSZ, der konservativ-liberale, sozialliberale, radikale, bürgerlich-demokratische und Freidenker-Strömungen vereint, mit innerparteilichen Querelen auseinanderzusetzen. Seit 1990 hatte er drei Parteivorsitzende und drei Fraktionschefs. Unter dem gegenwärtigen Parteivorsitzenden Iván Petö scheint sich eine gemäßigte liberale Zentrumspolitik durchzusetzen.

Als weitere Oppositionspartei im liberalen Spektrum ist der Bund der Jungen Demokraten (FIDESZ) zu nennen, der mit seinem elitären Liberalismus zwischen MDF und SZDSZ plaziert werden kann. Die Popularität des FIDESZ nahm in den letzten Jahren (1990-1993) ständig zu, da die Jungen Demokraten eine entideologisierte pragmatische Politik verfolgten. An der Wiederherstellung der alten Eigentümer-Strukturen der ungarischen Wirtschaft waren sie naturgemäß nicht interessiert. Die beiden Spitzenpolitiker des FIDESZ, Parteichef Viktor Orbán und sein Vize Gábor Fodor, genossen beim Volk höchste Sympathien. Sie verkörperten jedoch verschiedene politische Stile, Orbán den Pragmatismus und kühlen Rationalismus, Fodor den Linksliberalismus mit moralischen Grundsätzen. Um die Einheit des FIDESZ nicht zu gefährden, wurden die Linksliberalen in der Parteiführung ausgegrenzt. Im Dezember 1993 verließen Fodor und seine Anhänger die Partei. Damit schwand auch die Popularität des FIDESZ. Der FIDESZ blieb eine pragmatische liberale Partei, angesiedelt in der Mitte-Rechts, mit deutlichen Tendenzen nach rechts und einer möglichen Öffnung zu den Konservativen. Zwar haben FIDESZ und SZDSZ im Juli 1993 eine Vereinbarung über liberale Zusammenarbeit getroffen, nach dem Ausscheiden der Linksliberalen aus dem FIDESZ bleibt jedoch abzuwarten, ob sie funktioniert.

Als einzige Partei links von der Mitte ist im gegenwärtigen Parlament die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) vertreten. Sie wurde im Oktober 1989 von den Reformkommunisten gegründet und umfaßt sozialdemokratische, sozialistische, volksdemokratische und populistisch-nationale Strömungen. 1990 befand sich die MSZP in einer politischen Quarantäne. Aufwind bekam die Partei, als sich in der Bevölkerung Enttäuschung und Ernüchterung über die Politik der neuen Machtelite breitmachten. Seit 1991 konnte die Partei bei Nachwahlen einen ständigen Aufwärtstrend verbuchen. Die MSZP ist die einzige Partei im Parlament, die eine starke Interessenvertretung der Arbeitnehmer unterstützt. Sie genießt deshalb die Sympathie des Landesverbandes der Ungarischen Gewerkschaften (MSZOSZ). Für die kommenden Wahlen schloß die MSZP ein Wahlbündnis mit der Linken Jugendvereinigung (BIT). Schon vor Beginn der offiziellen Wahlkampagne ist die MSZP unter Vorsitz von Gyula Horn scharfen Angriffen seitens der konservativen Regierungsparteien sowie der oppositionellen Liberalen (SZDSZ, FIDESZ) ausgesetzt. Das dürfte auf reelle Wahlchancen für die Sozialisten schließen lassen.

Zu den übrigen Parteien, die nach den bevorstehenden Wahlen eine Chance haben, im neuen Parlament vertreten zu sein, gehört vor allem die Ungarische Sozialdemokratische Partei (MSZDP). Sie hatte sich bereits vor den Wahlen 1990 organisatorisch in drei Parteien gespalten. Aufgrund der „Gangster"-Methoden der damaligen Führung um Anna Petrasovits diskreditierte sie sich bei den Wählern und mußte deshalb eine beschämende Niederlage hinnehmen. Damals gab es sieben registrierte sozialdemokratische Parteien. Drei von ihnen schlossen sich auf einem Einigungskongreß Anfang Oktober 1993 zusammen: die Ungarische Sozialdemokratische Partei (MSZDP), die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (FSZDP) und die Sozialdemokratische Volkspartei (SZDNP). An der Spitze der neuen vereinigten MSZDP steht Zoltán Király, der - 1988 aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen - im gegenwärtigen Parlament zunächst als unabhängiger Abgeordneter, später als Gründer der SZDNP vertreten war. Die MSZDP arbeitet eng mit Einzelgewerkschaften zusammen. Viele Gewerkschaften stehen auf den Kandidatenlisten der Partei. Die MSZDP zeigte sich auch offen gegenüber der MSZP, was zu scharfer Kritik seitens des rechtsgerichteten sozialdemokratischen Flügels, der Historischen Plattform „Anna Kéthly", führte. Erneute innerparteiliche Auseinandersetzungen könnten einen Wahlerfolg der MSZDP gefährden.

Die unabhängigen Abgeordneten Imre Pozsgay (im alten Regime: Vorsitzender der Patriotischen Volksfront) und Zoltán Biró (früher: MDF-Mitgründer) gründeten im Frühjahr 1991 den National-Demokratischen Bund (NDSZ), zunächst als Bewegung, im September 1992 als eine neue nationale Zentrumspartei. Sein Ziel ist die nationale Versöhnung (Konsens). Im gegenwärtigen Parlament ist der NDSZ durch Pozsgay und Kata Beke (früher: MDF-Fraktion) vertreten.

Unternehmerinteressen vertritt die im November 1992 gegründete Republik-Partei (KP), die inzwischen landesweit gut organisiert ist und bei den kommenden Wahlen mit mindestens 8% der Stimmen rechnet. Parteigründer ist der Vorsitzende des Unternehmerverbandes, János Palotás (früher: MDF-Fraktion), der seine Partei auch im gegenwärtigen Parlament vertritt.

Mit 8-12% der Stimmen rechnet auch der im gegenwärtigen Parlament mit zwei Abgeordneten vertretene Agrarbund mit Tamás Nagy an der Spitze, der die Interessen der landwirtschaftlichen Genossenschaften und der ländlichen Gebiete Ungarns durchsetzen möchte. Umweltschutz ist das Anliegen der Grünen Alternative. Die Interessen der älteren Menschen vertritt die Partei der Rentner. Das liberale einheimische Kapital ist durch den Liberalen Bürgerlichen Bund - Partei der Unternehmer (LPSZ-VP) des „Unicum"-(=Magenbitter)Fabrikanten Péter Zwack repräsentiert.

Die Arbeiterpartei (MP) sowie die von ihr im April 1991 abgespaltene Linke Einheitsbewegung (BEM) vertreten die Kommunisten der ehemaligen Staatspartei (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei - MSZMP). Die Arbeiterpartei unter Führung von Gyula Thürmer strebt eine gemischte Wirtschaft an, fordert die Einstellung der Privatisierung und lehnt den Beitritt Ungarns zur Europäischen Union und NATO ab.

Weitere kleine Parteien, wie die Ungarische Volkspartei (MNP), die Bewegung Nationaler Kräfte (NEM), die Demokratische Koalition oder die Demokratische Zentrumsunion (DCU) haben nur geringe oder gar keine Chancen, bei den kommenden Wahlen Parlamentssitze zu gewinnen. Dazu gehören auch die rechtsgerichteten Gruppierungen wie die Ungarische Marktpartei von István Balás (früher: MDF-Fraktion), die Hungaristische Partei der Weltnation und Volksherrschaft (Neo-Pfeilkreuzer), die „horthystische" Partei des Ungarischen Interesses von Izabella Király B. (früher: MDF-Fraktion) und die monarchistische Legitimistische Partei. Das Wahlgesetz wurde insofern revidiert, als die bisher geltende 4%-Hürde bei der Listenwahl auf 5% angehoben wurde. Die überwiegende Mehrzahl der 125 registrierten Parteien sind Phantomparteien.

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3. Außenbeziehungen

Die Außenpolitik der Antall-Regierung konnte nicht an die Erfolge der ungarischen Diplomatie in der Übergangszeit 1988-1990 anknüpfen. Sie sank herab auf ein Mittelmaß und mußte in der Zeit von 1990-1994 nicht wenige diplomatische Niederlagen hinnehmen. Der Versuch, die Beziehungen Ungarns zu den Nachbarstaaten nachhaltig zu verbessern, ist mißlungen. Schuld daran war die Verquickung der Realpolitik mit dem Sendungsbewußtsein der national-konservativen Regierung, was in den Nachbarstaaten Anlaß zu Irritationen gab. In diesen Staaten leben insgesamt 3,5 Mill. Ungarn (im Vergleich zu 10 Mill. im Mutterland). Sie bilden - abgesehen von den 25 Mill. Russen in den Republiken der zerfallenen Sowjetunion - die größte kompakte nationale Minderheit in Europa. Die ungarische Diplomatie trug nicht unerheblich dazu bei, daß Ungarn im Westen zunehmend als Unsicherheitsfaktor der Region angesehen wurde. Anstatt - den europäischen Normen entsprechend - die individuellen und kollektiven Rechte der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten einzufordern, setzte die Antall-Regierung ungeschickterweise auf den Begriff „Autonomie", sei es „territoriale", „kulturelle" oder „abgestufte" Autonomie. Der Begriff „Autonomie" hat in Osteuropa jedoch eine ganz andere politische Brisanz und Bedeutung als etwa die Autonomie der Katalanen in Spanien oder der Südtiroler in Italien. Die Nachbarstaaten Ungarns assoziieren damit eindeutig Abspaltung, Lostrennung, Sezession.

An sich ist es legitim, daß in der ungarischen Außenpolitik die Minderheitenrechte der in den Nachbarstaaten lebenden Ungarn eine zentrale Rolle spielen. Als bedeutende nationale Minderheiten leben in Rumänien 2,2 Mill., in der Slowakei 600.000, in Serbien 400.000, in der Ukraine 160.000 und in Kroatien 30.000 Ungarn. Unbestritten ist, daß Regierungen und Öffentlichkeit in den westlichen Ländern - und auch der Europarat - sich für die Rechte der ungarischen Minderheiten mit weit geringerer Intensität (wenn überhaupt) einsetzen als z.B. für die Minderheitenrechte der Russen im Baltikum. Diese Tatsache engt den Spielraum der ungarischen Außenpolitik ein, fördert den innenpolitischen Druck, das Gefühl der Isolation und damit auch nationalistische Tendenzen.

Andererseits befinden sich auch in Ungarn, wenn auch in weit geringerer Zahl, nationale Minderheiten. Nach der Zählung von 1990 lebten unter den 10,1 Mill. Einwohnern Ungarns als größte nationale Minderheiten über 30.000 Deutsche, 13.000 Kroaten, jeweils über 10.000 Rumänen und Slowaken sowie 3.000 Serben und 2.000 Slowenen. Hinzu kommen rund 150.000 Roma als ethnische Minderheit. Zwar verfügt Ungarn seit Juli 1993 über ein beispielhaftes Gesetz über die Rechte nationaler und ethnischer Minderheiten, das den europäischen Normen entspricht. Doch war bislang kein ungarischer Politiker in der Lage, den nationalen Minderheiten im Rahmen des Wahlgesetzes eine adäquate Parlamentsvertretung zu sichern. Damit droht Ungarn die Gefahr, die moralische Grundlage für das Recht zu verlieren, die gleichen Rechte für die ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten einzufordern. Dessenungeachtet entbehrte die Erklärung des scheidenden deutschen Botschafters Alexander Arnot jeder Objektivität, wenn er öffentlich feststellte, daß die Lage der Deutschen in Rumänien besser sei als in Ungarn (Népszava, 17. September 1993). Wäre dies tatsächlich der Fall, würden die Ungarn-Deutschen sicher nach Deutschland auswandern. Dies tun sie jedoch nicht. Dagegen verließen bereits 80% der Rumänien-Deutschen ihr Land. Die deutschen Kommunen und Gruppen in Ungarn können, wenn sie es möchten, ohne Probleme deutschsprachige Schulen und Medien gründen. Anders als in Rumänien hindert sie der Staat nicht daran. Insofern ist die Lage der Deutschen in Ungarn nicht schlechter als die Lage der Ungarn, die - in etwa gleicher Zahl - in Deutschland leben.

Die Gründe für die latente Spannung im Verhältnis zwischen Ungarn und seinen Nachbarstaaten sind nicht nur in der Frage der ungarischen Minderheiten zu suchen, deren Schutz sicherlich nicht den europäischen Normen entspricht. Hinzu kommen eine inaktive und auf falschen Prämissen beruhende ungarische Diplomatie, die geopolitische Lage Ungarns in der Region, der vom Westen u.a. auch auf Ungarn abgewälzte Migrationsdruck aus dem Osten und Süden und der Krieg in Jugoslawien. Bisher gelang es Ungarn nur, mit der Ukraine einen Grundlagenvertrag abzuschließen, in dem Ungarn auf territoriale Ansprüche verzichtet und die Ukraine den dort lebenden Ungarn alle Minderheitenrechte zugesteht.

Unproblematisch erscheinen lediglich die Beziehungen zwischen Ungarn und Slowenien. Ansätze zur regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit sind vorhanden. Mit Einschränkungen läßt sich dies auch in bezug auf das Nachbarland Kroatien sagen, das sich im Kriegszustand befindet. Ein Problem für Ungarn stellen jedoch die mehr als 50.000 Menschen, darunter rund 20.000 Ungarn, dar, die aus den von Serbien besetzten Gebieten Kroatiens (Ostslawonien und Baranja) nach Ungarn geflüchtet sind bzw. vertrieben wurden. Gänzlich schutzlos wäre Ungarn einer durchaus denkbaren Aggression eines international isolierten Serbien ausgeliefert. Hier rächen sich die Fehler des Westens, die serbisch-jugoslawische Armee nicht in die Wiener Verhandlungen über konventionelle Rüstungsbegrenzung einzubeziehen. Die Mini-Streitmacht Ungarns wäre nicht in der Lage, sich gegen die fünftgrößte Armee Europas zu verteidigen. Ein akutes Problem stellt die Lage der 400.000 Ungarn in der serbischen Provinz Vojvodina dar, die zur Zeit noch durch „sanfte" Methoden - zusammen mit Deutschen und Kroaten - systematisch aus ihrer Heimat vertrieben werden und in Ungarn Zuflucht suchen. An ihrer Stelle werden serbische Flüchtlinge aus anderen Gegenden Ex-Jugoslawiens angesiedelt. Hinzu kommen die gegen Serbien verhängten UN-Sanktionen, die durchlässig sind und dem Westen nur unerhebliche ökonomische Nachteile bringen. Die serbische Aggression stoppen sie nicht, aber der Wirtschaft des Nachbarstaates Ungarn fügen sie erhebliche Schäden zu. Z.B. kann Serbien jederzeit ungarische Frachtschiffe auf der Donau (=internationale Wasserstraße) blockieren.

Ein Durchbruch in den ungarisch-rumänischen Beziehungen läßt bisher noch auf sich warten. Die Unterzeichnung eines Grundlagenvertrages zwischen beiden Ländern scheitert vor allem daran, daß Rumänien eine Klausel über die Anerkennung der bestehenden Grenzen verlangt und gleichzeitig die Verankerung der Rechte ungarischer Minderheiten im Vertragswerk ablehnt. Einen vorläufigen Tiefpunkt erreichten 1993 die Beziehungen Ungarns zur Slowakei. Hier zeigten sich am deutlichsten der Prestigeverlust und die Erfolgslosigkeit der ungarischen Diplomatie. Der Versuch Ungarns, die Aufnahme der Slowakei in den Europarat wegen der ungelösten Frage der ungarischen Minderheiten hinauszuzögern, mißlang. Die westeuropäischen Mitglieder des Europarates interessierten sich nicht für die slowakische Absicht, die kompakten ungarischen Siedlungsgebiete in der Südslowakei durch eine Neuordnung der Verwaltungsbezirke zu zerstören. Die empfindlichste Niederlage steckte Budapest im ungarisch-slowakischen Konflikt über das Donau-Kraftwerk (Bös-Gabcikovo) ein. Auch nach der Einschaltung der Europäischen Gemeinschaft scheint sich eine Lösung zugunsten der Slowakei abzuzeichnen. Die jüngsten Vorschläge aus Brüssel boten Ungarn kaum eine tragfähige Alternative.

Zwar ist Ungarn nach wie vor bestrebt, die regionale Zusammenarbeit - im Rahmen der Mitteleuropäischen Initiative (Hexagonale) und der Visegrader Gruppe - zu forcieren, doch scheint die Visegrader Gruppe nach dem Alleingang von Tschechien kaum mehr als Forum der regionalen Zusammenarbeit zu retten zu sein. Hinzu kommt der im Westen kaum beachtete Freundschaftsvertrag zwischen Rumänien und der Slowakei, der einen antiungarischen Grundton trägt und zumindest zur Neubelebung des Geistes der „Kleinen Entente" geeignet scheint.

Dessenungeachtet ist der Entwurf zum ungarischen Militärgesetz auf eine reine Verteidigungsdoktrin aufgebaut. Diese hat keine Feindbilder, erkennt jedoch die Gefahren, die sich für Ungarn aus regionalen Konflikten in der Nachbarschaft (z.B. Jugoslawien) ergeben könnten. Die Verletzung des ungarischen Luftraumes durch Serbien, die Bombardierung ungarischer Grenzgebiete (Barcs) und Grenzübergriffe serbischer paramilitärischer Gruppen sind bereits Realität. Auch sind Serbien (d.h. Klein-Jugoslawien), Rumänien und die Ukraine aufgrund des Pariser Vertrages (CFE) von 1990 mit ihrem Militärpotential dem ungarischen um ein Mehrfaches überlegen. Obwohl Ungarn im Westen als Stabilitätsfaktor und nicht als Gefahrenquelle gilt und sein Luftraum den AWACS-Aufklärungsflugzeugen der NATO zur Verfügung gestellt wurde, hat das Land keine Chance, in die NATO aufgenommen zu werden oder gar von ihr Sicherheitsgarantien zu erhalten. Ebenso fehlt die Bereitschaft, Ungarn zumindest als assoziiertes Mitglied in die WEU aufzunehmen. Auch das Assoziierungsabkommen Ungarns mit der Europäischen Union trat verspätet, erst am 1. Februar 1994, in Kraft.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek | 9.1. 1998

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