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TEILDOKUMENT:






1. Einleitung:
Zur Thematisierung von familialen Solidarpotenzialen in der Migrationsforschung


Obwohl Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen für die Erklärung des Verlaufs von Migrations- und Eingliederungsprozessen von einiger Bedeutung sind, werden sie in der Migrationsforschung selten explizit thematisiert. Die Ursachen hierfür sind in den Forschungstraditionen der Migrationssoziologie zu suchen, die einerseits dem individuellen Akteur im Migrationsprozess und andererseits der ethnic community im Aufnahmekontext große Beachtung geschenkt hat, nicht jedoch den familialen und verwandtschaftlichen Beziehungen, die die Akteure während ihrer Migrations- und Eingliederungsprozesse unterhalten:

- Auf der einen Seite sind in der handlungstheoretisch orientierten Migrationsforschung stets die individuellen Ressourcen und Opportunitäten hervorgehoben worden, die den Migrations- und Eingliederungsprozess in Verlauf und Geschwindigkeit strukturieren, wie z. B. Einreisealter, schulische Bildung, Sprachkenntnisse und auf Statuserwerb und soziale Mobilität bezogene motivationale Faktoren (H. Esser 1981, 1982, 1986, 1989, 1990; B. Nauck 1988, 1989, 1997).

- Auf der anderen Seite haben sich solche Analysen, die sich stärker den sozialen Ressourcen von Migranten und Minoritäten zugewandt haben, nahezu vollständig auf die Funktionen von ethnic communities im Verlauf des Eingliederungsprozesses konzentriert. Ethnische Kolonien sind demnach eine soziale Ressource der Zuwanderer, die - je nach Eingliederungsopportunitäten - sowohl die Voraussetzungen für ethnische Segmentation als auch für individuelle Assimilation schaffen, in jedem Falle aber zur Inkorporierung der Zuwanderungsminorität in die Aufnahmegesellschaft beitragen (M.M. Gordon 1964, 1975; R. Breton, W.W. Isajiw, W.E. Kalbach & J.G. Reitz 1990). Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen werden in solchen Analysen ethnischer Kolonien allenfalls beiläufig erwähnt, wobei - zumeist implizit - davon ausgegangen wird, dass Familien-, Verwandtschafts- und intraethnische Beziehungen weitgehend strukturgleich sind, so dass es für solche Analysen dann gerechtfertigt erscheint, subsumptiv zu verfahren und Verwandtschaftsbeziehungen keine gesonderte Beachtung zu schenken.

Entsprechend "widersprüchlich" erscheint, welche Wirkung Familie und Verwandtschaft auf den Eingliederungsprozess haben:

(1) Familiale und verwandtschaftliche Beziehungen werden einerseits als Eingliederungsalternative angesehen: Extensive familiale Kontakte absorbieren eine Vielzahl sozialer Bedürfnisse und stellen ein in Konkurrenz zur Aufnahmegesellschaft stehendes Institutionensystem zur Bewältigung alltäglicher Probleme dar. Es kommt damit zu selteneren geplanten und insbesondere ungeplanten Kontakten mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft, was seinerseits die Häufigkeit assimilativer Handlungen und die Übernahme von Werten der Aufnahmegesellschaft vermindert. Familiale Bindungen hätten somit ähnliche Wirkungen wie ethnische Kolonien: Sie vermindern die Statusmobilität von Minoritäten durch die kurzfristige Anspruchserfüllung in selbstgenügsamen, sich institutionell vervollständigenden Kongregationen (N. Wiley 1970). In einer starken familialistischen Orientierung bei Arbeitsmigranten wird folglich ein Eingliederungswiderstand erblickt, der eine an universalistischen, leistungsbezogenen Kriterien orientierte individuelle Assimilationsmotivation verhindere, da dieser Familialismus an "traditionelle", askriptive Wertvorstellungen der Herkunftsgesellschaft geknüpft sei. Dieser Familialismus von Migranten und die wechselseitige Verkettung von Verwandtschaftsmitgliedern ist demnach dafür verantwortlich, dass assimilative Handlungen in außerfamilialen Kontexten nicht ausgeführt werden.

(2) Familiale und verwandtschaftliche Beziehungen werden andererseits als Eingliederungsopportunität angesehen: Familie und Verwandtschaft stellt demnach ein Unterstützungssystem dar, in dem für den Eingliederungsprozess notwendige Bestände an Alltagswissen und vielfältige soziale Beziehungen zur Aufnahmegesellschaft kumuliert und jedem Mitglied unmittelbar zur Verfügung gestellt werden (J.S. MacDonald & L.D. MacDonald 1964; I.M. Choldin 1973; L. Hendrix 1979; M. Tienda 1980; D.T. Gurak & F. Caces 1992; S. Haug 2000). In einer starken familialistischen Orientierung wird folglich eine wesentliche Eingliederungsmotivation erblickt, assimilative Handlungen überhaupt auszuführen (z. B. um die Zukunft der Folgegeneration zu sichern). Kohäsive Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen seien somit der wesentliche motivationale Faktor für das erfolgreiche Durchlaufen individueller Eingliederungskarrieren, während deren Fehlen die Identifikation mit devianten Subkulturen begünstige (C. Wilpert 1980).

Eine eingehende Analyse der Solidarpotenziale von Migrantenfamilien erscheint auch deshalb angebracht, weil in der Migrationsforschung zugleich mit sehr stereotypen Vorstellungen über Familienbeziehungen gearbeitet wird. Dabei scheint der Idealtypus dessen Pate gestanden zu haben, was E. Durkheim einmal als "mechanische Solidarität" beschrieben hat, und wovon gern angenommen wird, dass sie z.B. in mediterranen Familienstrukturen und in den Familienbeziehungen von Migranten fraglos gegeben sei. Solche Vorstellungen sind davon geprägt, dass (a) jede nukleare Gattenfamilie in ein umfassendes Netz verwandtschaftlicher Beziehungen eingebettet ist, (b) diese Beziehungen dauerhaft harmonisch und konfliktfrei funktionieren, (c) ein fraglos gegebenes Reservoir sozialer und psychischer Unterstützung darstellen und (d) in denen ein nahezu grenzenloser und durch keinerlei Restriktionen eingeschränkter Transfer von materiellen Gütern und Dienstleistungen stattfindet. Es ist leicht erkennbar, dass dieses Bild seine Überzeugungskraft nicht zuletzt daraus schöpft, dass es sich im Kontext einer Zerfallsrhetorik bezüglich der Familie in modernen Gesellschaften (E. Durkheim 1921; T. Parsons 1943) zu einem (dann zumeist positiv bewerteten) vormodernen Gegenmodell hochstilisieren lässt. ‘Unbegrenzte mechanische Solidarität’ in Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen wird damit zum Kernbestandteil der Beschreibung kultureller Differenz zwischen Deutschen und Migrantenminoritäten.

Wie valide solche Beschreibungen in Bezug auf Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen in den jeweiligen Herkunftsgesellschaften der Migrantenminoritäten in Deutschland sind, ist vielmehr eine empirisch durchaus offene Frage, da systematisch erhobene Befunde weitgehend fehlen. Ebenso offen ist, in welcher Weise diese Beziehungen nach erfolgter Migration aufrechterhalten bzw. wie sie reorganisiert werden. Im Gegensatz zu solch stereotypen Beschreibungen wird man davon auszugehen haben, dass Migrantenfamilien eine große kulturelle Vielfalt aufweisen, die sich aus der Verschiedenartigkeit ihrer nationalen, ethnischen und kulturellen Herkunft ergibt. Diese Vielfalt führt zum einen dazu, dass Migrantenfamilien verschiedener Herkunft selten untereinander Kontakt haben (die Migrationssituation selbst ist selten ein Bezugspunkt für Identifikation und Solidarisierung), sie verbietet jedoch zum anderen auch eine uniforme Verhaltensweise der Aufnahmegesellschaft und seiner Institutionen ihnen gegenüber. Diese kulturelle Vielfalt bezieht sich insbesondere auch auf die normativen Leitbilder, an denen sich Migrantenfamilien verschiedener sozialer und kultureller Herkunft orientieren und nach denen in ihnen Familie gelebt wird. Ein differenziertes Verständnis dieser kulturellen Unterschiede im Familienleben hat insbesondere die große Variabilität zu berücksichtigen

  • in der Bedeutung von Individualität als Bestandteil der personalen Identität, d. h. in welchem Ausmaß sich Individuen primär als autonome Persönlichkeiten mit hohen Individualrechten bzw. primär als Mitglieder der jeweiligen Familie mit entsprechend institutionalisierten Gruppenrechten gegenüber dem Einzelnen erleben, was unmittelbare Auswirkungen auf die Modi der Familiensolidarität und der Loyalität des Einzelnen sowie auf die Möglichkeit und die Legitimität der Aufkündigung von ehelichen und familiären Beziehungen hat;

  • in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, d. h. in den normativen Erwartungen über die Aufgaben- und Machtverteilung zwischen den Ehepartnern und in der geschlechtsspezifischen Differenzierung von normativen Erwartungen an Söhne und Töchter, die in entsprechenden Sozialisationsstilen ihren Ausdruck finden;

  • in der Beziehung zwischen den Generationen, d. h. welche wechselseitigen Rechte und Pflichten mit der Vater-, Mutter-, Sohn- und Tochterrolle jeweils über den gesamten Lebensverlauf hinweg verbunden sind, wie der Transfer von materiellen Gütern und Dienstleistungen zwischen den Generationen organisiert ist, und welche Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit sich damit verbinden;

  • in der subjektiven Definition von familiären Gruppengrenzen, d. h. welche Person zur familiären Gruppe konkret "dazu" gehört und welche Person nicht, und wie sich dies in Relation zu verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen oder ethnischen Grenzziehungen verhält;

  • in der Arbeitsteilung zwischen Familie, Gesellschaft und Staat, d. h. welche Aufgaben z. B. im Bereich der Erziehung und Betreuung der Kinder, in der Versorgung der Alten, in der Absicherung gegen Risiken der Gesundheit, des Wohn- und Arbeitsmarktes, in den Transferzahlungen zwischen den Generationen und zwischen Arm und Reich jeweils von der Familie und Verwandtschaft, von Nachbarschaften, von intermediären Organisationen oder vom Staat zu übernehmen sind.

Nimmt man die in Deutschland institutionalisierten normativen Leitbilder von Ehe und Familie zum Bezugspunkt, so wird man im Vergleich zu den meisten der in Deutschland vertretenen Herkunftskulturen der Migrantenfamilien feststellen, dass in der deutschen Familienkultur Individualrechte stärker betont werden. Dies betrifft insbesondere die Ausgestaltung der Ehe und die gegenseitigen Erwartungen der Ehepartner, d. h. es entspricht dem Selbstverständnis von Ehe als einer selbstgewählten Intimbeziehung, dass sie sich dem individualistischen Glücksstreben unterordnet und es als legitim angesehen wird, die Ehe dann - auch einseitig - aufzukündigen, wenn sie diesem Individualrecht entgegensteht. Demgegenüber ist in korporatistischen Familienkulturen nicht nur eine größere Mitwirkung der jeweiligen Herkunftsfamilien beim Zustandekommen von Ehen gegeben, vielmehr werden auch der Intimisierung der Gattenbeziehung durch ein höheres Ausmaß an sozialer Kontrolle ebenso Grenzen gesetzt wie der individuellen Aufkündbarkeit. Entsprechend erleben sich die Menschen vornehmlich als Mitglieder und Repräsentanten der familiären Gruppe. Ebenso wird man feststellen, dass das normative Leitbild der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der deutschen Familienkultur von der "partnerschaftlichen" Vorstellung der prinzipiellen Gleichheit der Rechte und Pflichten der Ehegatten und von einer situativ begründeten Aufgabenteilung ausgeht - bei allen sich daraus im Familienalltag häufig ergebenden Widersprüchlichkeiten. Demgegenüber wird in einer Vielzahl von Herkunftskulturen die Vorstellung der Differenz der Geschlechter nicht nur als konstituierendes Element der geschlechtsspezifischen Allokation von Entscheidungsmacht und Aufgaben zwischen den Ehegatten legitimierend herangezogen, sondern auch für Strategien unterschiedlichen elterlichen Investments in Söhne und Töchter. Nachhaltige und gravierende Unterschiede zwischen der deutschen Aufnahmegesellschaft und vielen Herkunftskulturen der Migrantenfamilien lassen sich insbesondere hinsichtlich des Verständnisses vom Zusammenleben der Generationen feststellen. Während das normative Leitbild der deutschen Mehrheitsgesellschaft zunehmend von einer lebenslangen Verpflichtung der Eltern auf ihre Kinder und einer Stärkung der Kindesrechte bestimmt ist, wobei Sachwerte und Dienstleistungen intergenerativ mit großer Ausschließlichkeit von der Eltern- auf die Kindgeneration transferiert werden (während Transfers von jüngeren auf ältere Kohorten indirekt über kollektive Sicherungssysteme erfolgen), werden Generationenbeziehungen in anderen Kulturen häufig durch eine relativ früh einsetzende lebenslange Verpflichtung der Kinder auf ihre Eltern und vergleichsweise starke Elternrechte konstituiert. In welcher Weise Generationenbeziehungen geregelt werden, erhält dann besonders große Bedeutung, wenn zugleich viele Aufgaben nicht vom Staat oder intermediären Organisationen, sondern in der jeweiligen Gesellschaft von Familie und Verwandtschaft direkt übernommen werden: In Gesellschaften, in denen die Alterssicherung auf direkten Transferzahlungen der Nachkommen und nicht auf kollektiven Sicherungssystemen basiert, hat (das Vorhandensein und) die unbedingte Loyalität der Kinder gegenüber ihren Eltern eine entsprechend herausragende Bedeutung; in Gesellschaften, in denen die Absicherung gegen Risiken des Lebens auf der unmittelbaren Solidarität von Verwandtschaft im Falle von Krankheit, Obdachlosigkeit, Hunger, Unwetter und Arbeitslosigkeit und nicht auf durch Beitragszahlungen in Versicherungen erworbenen Anwartschaften basiert, werden verwandtschaftliche Beziehungen nicht nur eine andere Bedeutung und Qualität haben, sondern zugleich sehr viel bestimmender für den individuellen sozialen Status in der Gesellschaft als individuell erbrachte Leistungen sein.

Nachfolgend werden die vorliegenden Forschungsbefunde zu familialen Solidarpotenzialen in der Migrationssituation systematisch gesichtet. Analytisch wird hierzu der folgende Weg beschritten: Zunächst werden (1) die Befunde zum migrationsbedingten Wandel der Beziehungen zwischen den Ehepartnern dargestellt, anschließend (2) die Befunde zu den intergenerativen Beziehungen in Migrantenfamilien, bevor abschließend (3) auf die Beziehungen der Migranten zu ihren Verwandten eingegangen wird. Die Darstellung konzentriert sich dabei auf Migrantenfamilien in den frühen und mittleren Phasen des Familienzyklus. Nicht eingegangen wird dagegen - trotz der Wichtigkeit für die Thematik - auf die Generationenbeziehungen und Solidarpotenziale von Migrantenfamilien in den späteren Phasen, d.h. mit erwachsenen Kindern, im Rentenalter und im Falle von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit. Hierzu fehlen sozialwissenschaftliche Erhebungen auf breiterer Basis vollständig (M. Dietzel-Papakyriakou 1993; 6. Familienbericht 2000).


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2002

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