FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.:32]





IV. Lernzeitkonten als Grundlage für lebenslanges Lernen


Aus der aktuellen weiterbildungspolitischen Diskussion kommen Vorschläge, das Verhältnis von Arbeitszeit, Freizeit und Lernzeit neu zu organisieren. So empfiehlt das nationale Bündnis für Arbeit den Tarifvertragsparteien, Langzeitkonten einzurichten und diese u. a. für berufliche Weiterbildung zu nutzen [Siehe hierzu die in Fußn. 4 zitierten Ausführungen.]. Vage bleibt allerdings die konkrete Ausgestaltung der Lernzeitkonten. Wer soll welche Zeiteinheiten in Lernzeitkonten investieren? Handelt es sich bei Lernzeiten um Arbeitszeit oder Freizeit? An welche Bedingungen ist die Nutzung der Lernzeitkonten geknüpft? Die nachfolgenden Ausführungen greifen diese Fragen auf und versuchen, die zeitorganisatorische Gestaltung von Lernzeitkonten etwas näher zu präzisieren.

Page Top

1. Ausgangsüberlegungen

Als Ausgangspunkt für die Verteilung der Zeit bzw. Kosten von beruflicher Weiterbildung dienen üblicherweise humankapitaltheoretische Überlegungen. Danach hängt die Verteilung der Investitionen in Humankapital aufgrund unterschiedlicher Kalküle und asymmetrischer Nutzenverteilungen von Betrieben und Beschäftigten vom Spezifitätsgrad der beruflichen Qualifikationen ab. Je betriebsspezifischer die Weiterbildung ist, als desto geringer gilt der Anreiz der Beschäftigten, sich an den Bildungsaufwendungen zu beteiligen, da die erworbenen Qualifikationen in anderen Unternehmen nicht verwertbar sind. Anreize bestehen dagegen für den Arbeitgeber, da er aus den durch Bildungsinvestitionen gewonnenen Produktivitätssteigerungen zusätzliche Erträge erwarten kann.

Dieses Modell basiert aber auf Annahmen, die als in der betrieblichen Realität nicht oder nur eingeschränkt gegeben gelten (Alewell 1998). So ist von Informationsasymmetrien nicht nur zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten sondern auch zwischen den einzelnen Arbeitgebern auszugehen, die nicht immer den Wert der verschiedenen Trainingsmaßnahmen einschätzen können, vor allem wenn keine zertifizierten Abschlüsse existieren. Ebenso wenig ist gesichert, dass sich die von den Beschäftigten getätigten Investitionen in entsprechend höheren Erträgen niederschlagen. Hinzu kommt, dass die Erträge von Investitionen in Weiterbildung nur schwer zu messen sind (Gundlach 1998). Weiterbildung kann zudem als Instrument des Personalmarketings dienen (Sadowski 1980), so dass die Betriebe auch einen Anreiz haben, in allgemeine berufliche Weiterbildung zu investieren. Schließlich beinhaltet ein großer Teil der Weiterbildungsinvestitionen sowohl allgemeine als auch betriebsspezifische Elemente, deren Anteile sich erstens nicht genau quantifizieren lassen und die zweitens auch in einem engen funktionalen Zusammenhang stehen. Angesichts dieser Einschränkungen können humankapitaltheoretische Überlegungen nur bedingt Anhaltspunkte für eine Aufteilung der Weiterbildungszeiten liefern [Backes-Gellner und Schmidtke zeigen, dass arbeitgeberseitig finanzierte allgemeine Elemente der beruflichen Weiterbildung nicht, wie humankapitaltheoretisch unterstellt, die Abwanderungsgefahr der Beschäftigten beeinflussen (Backes-Gellner/Schmidtke 2001).].
Daher empfiehlt sich ein pragmatisches Vorgehen, indem auf das in der betrieblichen Weiterbildungspraxis verbreitete (und oben in den verschiedenen Varianten beschriebene) Prinzip des Time-sharing zurückgegriffen wird. Dabei versteht sich das nachfolgend skizzierte Modell für Lernzeitkonten lediglich als ein denkbarer Vorschlag. Wie die beschriebenen Regelungsinhalte gezeigt haben, sind in der tariflichen/betrieblichen

[Seite der Druckausg.:33]

Aushandlungspolitik andere Muster möglich, Lernzeiten auf Arbeitszeit und Freizeit zu verteilen.

Die weiteren Überlegungen zur Etablierung von Lernzeitkonten gehen von folgenden Grundannahmen aus:

  1. Der durchschnittliche zeitliche Bedarf für berufliche Weiterbildung wird steigen. Weiterbildung ist zukünftig stärker als Prozess des fortgesetzten Lernens in unterschiedlichen Lernortkontexten zu organisieren.

  2. Ein Konzept des lebenslangen Lernens, das bestehende Segmentationsgräben vor allem zwischen dem berufsfachlichen und dem ungelernten Segment überwinden will, setzt wegen unterschiedlicher Ressourcenausstattung, unterschiedlicher Interessen sowie wegen opportunistischen Verhaltens sowohl auf der Seite der Arbeitskraftanbieter als auch der -nachfrager kollektive Weiterbildungsvereinbarungen voraus, wenn Qualifizierungsdefizite vermieden werden sollen. Diese können entweder im Rahmen von Gesetzen oder Tarifverträgen oder einer Kombination beider Regelungsformen erfolgen.

  3. Die noch lückenhaften zeitorganisatorischen Voraussetzungen werden die Betriebe in den nächsten Jahren schließen, indem sie flächendeckend Arbeitszeitkonten einrichten, diese als Langzeitkonten konzipieren und sie auch für Lernzeitguthaben öffnen. Die Tarifvertragsparteien schaffen hierfür die notwendigen Voraussetzungen, indem sie die bestehenden Ausgleichszeiträume für Zeitguthaben erweitern, wobei dieser Schritt zweckgebunden (Lernzeiten) sein kann.

  4. Für den nicht durch betriebliche Weiterbildungsaktivitäten abgedeckten Bereich der Erwerbstätigen (Arbeitslose, Berufsrückkehrer) sind öffentlich organisierte und finanzierte Modelle zu entwickeln, die den Lernort Betrieb mit einschließen. In erster Linie bieten sich Jobrotationsmodelle an (Oschmiansky et al. 2001; Seifert 2001c).

Einige der hier formulierten Annahmen sind erst rudimentär realisiert. Um Lernzeitkonten flächendeckend in den Betrieben einführen zu können, sind vor allem die Tarifvertragsparteien gefordert, entsprechende Schritte einzuleiten. Die Chancen, Weiterbildungszeiten tarifvertraglich zu vereinbaren, sind weniger pessimistisch einzuschätzen als noch vor einigen Jahren (Baethge 1992), da in verteilungspolitischer Hinsicht die Konkurrenz zu kollektiven Arbeitszeitverkürzungen zumindest auf absehbare Zeit entfallen ist. Kollektive Vereinbarungen über Weiterbildungszeiten kommen nicht additiv zu kollektiven Arbeitszeitverkürzungen hinzu, sondern können (zumindest zeitweilig) an deren Stelle treten. Die grundsätzlichen Konflikte zwischen den Tarifvertragsparteien speziell über Fragen der Definition von Lernzeiten und generelle Anspruchsrechte sind damit zwar noch nicht ausgeräumt. Mit den im Rahmen des Bündnisses für Arbeit getroffenen Vereinbarungen, Zeitkonten auch für Weiterbildungszwecke zu nutzen, haben die Tarifvertragsparteien aber immerhin eine gemeinsame Linie für weiterführende konzeptionelle Überlegungen gefunden.

[Seite der Druckausg.:34]

Page Top

2. Modelle für Lernzeitkonten



2.1 Dezentrale Lernzeitkonten

Für dezentral auf der betrieblichen Ebene organisierte Lernzeitkonten bieten sich folgende Eckpunkte an. Als Ausgangsbasis kommen die bereits bestehenden gesetzlichen, tariflichen sowie betrieblichen Zeitansprüche auf (berufliche) Weiterbildung in Frage, die im vorangegangenen Abschnitt skizziert sind. Sie liefern das zeitliche "Startkapital" für individuelle Lernzeitkonten. Als bislang noch isolierte zeitliche Elemente sind sie erstens zu einer gemeinsamen Plattform zusammenzufügen. Um für sämtliche Beschäftigte generelle Ansprüche auf Weiterbildungszeiten zu generieren, sind zweitens die bestehenden Lücken in den Anspruchsgrundlagen auf Weiterbildungszeiten zu schließen. Dieser Schritt soll Benachteiligungen einzelner Beschäftigtengruppen möglichst ausschließen. Sämtliche Beschäftigte erhalten individuelle Lernzeitkonten. Diese sind als Langzeitkonten zu bewirtschaften, um größere Zeitguthaben ansammeln und sie je nach Bedarf auch für zeitaufwendige Weiterbildungsmaßnahmen nutzen zu können. Drittens sind die scharfen Trennlinien, die betriebliche und öffentliche Weiterbildung separieren und für Beschäftigte und Arbeitslose unterschiedliche Lernorte vorsehen, zu lockern und durchlässiger zu organisieren. Den Brückenschlag zwischen den beiden Bereichen können Jobrotationsmodelle bilden. Lernzeitkonten ließen sich dann nach folgendem Muster konstruieren.

  • Den zeitlichen Grundstock für Lernzeitkonten liefern die Bildungsurlaubsgesetze der Länder. Die bestehenden Zeitansprüche von fünf Tagen pro Jahr sind entweder in toto oder partiell auf einem individuellen Weiterbildungskonto gutzuschreiben. Eine hälftige Verteilung, die eine Hälfte für berufliche Weiterbildung binden und die andere Hälfte für politische und allgemeine Weiterbildung belassen würde, entspricht in etwa der bisherigen Nutzungsstruktur. Die Bundesländer ohne Weiterbildungsgesetze müssten nachziehen und entsprechende Ansprüche verankern. Ein Bundesrahmengesetz könnte die Voraussetzungen für flächendeckende, einheitliche Regelungen herstellen (Koordinierungsstelle GEW 2000).

  • Eine weitere Quelle bieten die bereits tariflich und vor allem betrieblich vereinbarten Ansprüche auf Weiterbildungszeiten. Diese nur Teilbereiche der Wirtschaft abdeckenden Regelungen sind im Rahmen einer investiven Arbeitszeitpolitik zu komplettieren. Verschiedene Varianten bieten sich an. Als Vorbilder können entweder bereits praktizierte Regelungen nach dem (oben beschriebenen) Prinzip des Time-sharing dienen. Arbeitgeber und Beschäftigte bringen (wie z. B. in dem vorgestellten Tarifvertrag der Debis AG) jeweils hälftig spezifizierte Zeitkontingente für Qualifizierungs- bzw. Lernzeitansprüche auf, die für selbstinitiierte Weiterbildung reserviert sind. Ausgenommen bleiben Zeiten für betrieblich initiierte Qualifizierungen, die zur Erfüllung der aktuellen und geplanten Aufgaben erforderlich sind. Sie werden wie bisher als Arbeitszeit behandelt. Oder aber die Tarifvertragsparteien einigen sich auf investive Arbeitszeitverkürzungen nach dem Muster des bei der Shell AG praktizierten Modells und räumen den Beschäftigten Optionen ein, zwischen Freizeit und Weiterbildungszeit zu wählen.

  • Einen weiteren Beitrag können Zeitelemente beisteuern, die aus Kurzzeitkonten stammen und bislang bei Überschreiten von Grenzwerten verfallen [In jedem fünften privatwirtschaftlichen Betrieb (mit Betriebsrat und mindestens 20 Beschäftigten) verfallen vor allem die auf Gleitzeitkonten angesammelten Zeitguthaben, wenn die vereinbarten Grenzen für Ausgleichszeiträume überschritten werden; im öffentlichen Dienst ist dies sogar bei 38% der Betriebe der Fall (Seifert 2001b: 87).].
    Das Ver-

[Seite der Druckausg.:35]

    fallsrisiko ließe sich mit Hilfe eines organisatorisch einfachen Verfahrens ausschließen, das die bedrohten Zeitelemente zugunsten einer investiven Zeitverwendung reserviert. Die Betriebsparteien - oder auch die Tarifvertragsparteien - müssten vereinbaren, dass sämtliche auf Kurzzeitkonten angesammelten Zeiteinheiten bei Erreichen von Grenzwerten automatisch auf ein Lernzeitkonto umgebucht werden.

  • Schließlich bietet sich an, zeitlich befristete Arbeitszeitverkürzungen zur Beschäftigungssicherung und Standortverbesserung (nach dem Muster der bei der Volkswagen AG eingeführten 28,8-Stundenwoche) für berufliche Weiterbildung zu nutzen. Für diesen Vorschlag spricht, dass temporäre Arbeitszeitverkürzungen zunehmend als funktionales Äquivalent öffentlich geförderte Kurzarbeit ersetzen. Im Unterschied zu Kurzarbeit erhalten die Beschäftigten bei temporären Arbeitszeitverkürzungen aber weder eine finanzielle Kompensation, noch besteht die Möglichkeit, während der ausgefallenen Arbeitszeit an öffentlich geförderten Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen [Öffentliche Weiterbildungsförderung setzt entweder Arbeitslosigkeit oder unmittelbare Bedrohung des Arbeitsplatzverlustes voraus. Temporäre Arbeitszeitverkürzungen sind als Gegenleistung der Arbeitgeber in aller Regel mit Beschäftigungsgarantien verknüpft (Mauer/Seifert 2001), die explizit die gesetzlichen Fördervoraussetzungen ausschließen.].
    Analog zu der bei Kurzarbeit bestehenden öffentlichen Weiterbildungsförderung sollte sich die Bundesanstalt für Arbeit mit Unterhaltsgeld auch bei beschäftigungssichernden Arbeitszeitverkürzungen beteiligen. Die Betriebe übernehmen die Kosten der Maßnahmen.

Vorschläge, zukünftige Arbeitszeitverkürzungen und Guthaben aus Zeitkonten auch für berufliche Weiterbildung zu nutzen, brechen mit drei in der beruflichen bzw. betrieblichen Weiterbildungspolitik verteidigten Prinzipien und dürften deshalb nicht ohne weiteres konsensfähig sein. Erstens setzen sie die Bereitschaft der Gewerkschaften voraus, Weiterbildungszeit (für berufliche Qualifizierung) nicht ausschließlich als Teil der Arbeitszeit zu definieren. Zweitens müssten sich die Arbeitgeberverbände mit generellen Weiterbildungsansprüchen für sämtliche Beschäftigte (eines Unternehmens oder Wirtschaftszweiges) arrangieren können. Und drittens müssten beide Tarifvertragsparteien sowie die Bundesländer die hier vorgeschlagene modifizierte Funktion der Bildungsurlaubsgesetze akzeptieren.

Verschiedene Anzeichen lassen Hoffnung aufkommen, dass diese Prinzipien unter dem Druck, bei Konzeption und Realisierung von lebensbegleitendem Lernen international nicht ins Hintertreffen zu geraten, neu überdacht werden könnten. So zeigen die beiden erstgenannten Prinzipien ohnehin deutliche Auflösungserscheinungen. Erstens haben verschiedene, oben beschriebene tarifliche und betriebliche Vereinbarungen zur beruflichen Weiterbildung mit den traditionellen Verteilungsmustern von Arbeits-, Lern- und Freizeit gebrochen. Zweitens haben sie sowohl für einzelne Unternehmen als auch für ganze Wirtschaftszweige generelle Freistellungsansprüche auf berufliche Weiterbildung verankert. Überwiegend definieren sie Lernzeiten nach einem differenzierten Muster und behandeln Zeiten für betrieblich notwendige Weiterbildung als Arbeitszeit, die von den Beschäftigten initiierten Lernzeiten dagegen nach dem Prinzip des Time-sharing. Die hier vorgeschlagenen Lernzeitkonten orientieren sich an diesem Grundmuster. Deren flächendeckende Einführung würde die bisherige, sich weitgehend noch ungeregelt wildwüchsig in den Freizeitbereich hinein ausbreitende Praxis der Lernzeitorganisation beenden und in einem verbindlichen Rahmen institutionalisieren.

[Seite der Druckausg.:36]

Für eine Neuinterpretation der Bildungsurlaubsgesetze spricht schließlich deren bisherige Praxis. Wie oben ausgeführt, entfällt etwa die Hälfte aller Bildungsmaßnahmen auf berufliche Weiterbildung. Würde man eine solche Verwendung zweckgebunden festschreiben und außerdem die Inanspruchnahme den gleichen Regularien unterwerfen wie bei den übrigen tariflich oder betrieblich geregelten Weiterbildungsansprüchen, dann müßte sich das von den Arbeitgeberverbänden gegen die Bildungsurlaubsgesetze ins Feld geführte Argument des Missbrauchs weitgehend entkräften lassen. Gleichzeitig ist mit einer Aufwertung der Freistellungsregelungen zu rechnen.

2.2 Lernzeitkonten auf Basis von Überstundenguthaben

Ein anderer Vorschlag grenzt die auf Lernzeitkonten anzusparenden Arbeitszeitelemente enger ein und bezieht lediglich Zeitguthaben aus Überstunden ein (Pannenberg 2001). Die Grundidee sieht für transitorische Überstunden, die auf Zeitkonten mit dem Ziel des späteren Zeitausgleichs gutgeschrieben werden, die Option vor, die angesparten Zeitguthaben nicht nur wie bisher für entsprechende Freizeit sondern alternativ auch für Weiterbildungszeiten zu nutzen. Dieser Vorschlag läuft auf einen weiterbildungspolitischen Modellwechsel hinaus. Er definiert beruflich-betriebliche Weiterbildungszeit als Freizeit. Die Möglichkeiten, über diesen Weg die berufliche Weiterbildung zu forcieren, werden allerdings als begrenzt eingeschätzt. Begründet ist diese Auffassung mit dem gerade bei den geringer Qualifizierten vergleichsweise niedrigen durchschnittlichen Überstundenvolumen, das nur geringe Zeitkontingente für Weiterbildung biete (Pannenberg 2001).

Skepsis gegenüber diesem Vorschlag erscheint aus mehreren Gründen angebracht. Es sind zunächst einmal weniger die qualifikationsspezifischen Differenzen im Überstundenniveau, die gegen den Vorschlag sprechen. Differenziert man die Beschäftigten nicht nur nach zwei sondern nach drei Qualifikationsgruppen, dann relativieren sich die Unterschiede in der Zahl der geleisteten Überstunden zwischen Un- und Angelernten und Facharbeitern/ mittleren Angestellten sowie Meistern/leitenden Angestellten [So leisteten 1999 un- und angelernte Arbeiter durchschnittlich 0,7 transitorische, durch Freizeit ausgeglichene Überstunden, die Facharbeiter 0,9 Std., die Meister 1,5 Std., einfache und mittlere Angestellte 0,9 bzw. 1,3 Std. und leitende Angestellte 1,4 Std. (Groß et al. 1999: 507).].
Gravierender erscheint der Umstand, dass Überstundenarbeit sowohl branchen- als auch geschlechtsspezifisch stark streut [Mit durchschnittlich 3,6 Std. pro Woche war 1999 das Überstundenniveau von Männern doppelt so hoch wie das der Frauen mit 1,8 Std.(Bundesmann-Jansen et al. 2000: 51).].
Würde man Überstundenguthaben als zentrale Grundlage für Weiterbildungszeiten nutzen, würde dies die ohnehin bestehenden Weiterbildungsdiskrepanzen noch verschärfen. Frauen leisten wegen ihrer deutlich höheren zeitlichen Belastungen durch Haushalt und Familie durchschnittlich merklich weniger Überstunden als Männer. Sie könnten deshalb nur entsprechend geringere Zeitguthaben für Weiterbildung ansparen, weniger Zeit in ihre berufliche Qualifizierung investieren und würden im Karrierewettlauf noch weiter zurückfallen.

In Rechnung zu stellen ist auch, wie Beschäftigte und Betriebe auf die vorgeschlagene veränderte Nutzung von Überstundenguthaben reagieren. In welchem Maße ändern sie ihre Bereitschaft, weiterhin Überstunden zu leisten, wenn diese weder in Geld noch in frei verfügbarer Zeit vergütet werden? Die Reaktionen dürften wesentlich von der Frage abhängen, ob die Verwendung der Überstundenguthaben

[Seite der Druckausg.:37]

für Weiterbildung als Option eingeräumt wird. Offen lässt der Vorschlag ferner die Frage, für welche Teile der betrieblichen Weiterbildung die Überstundenkonten genutzt werden sollen. Würde man die Freizeitoption ausschließen, dann gäbe es aus betrieblicher Sicht einen starken Anreiz, die Überstundenarbeit auszudehnen und stärker als bisher Freizeitanteile in Weiterbildungszeit umzuwandeln. Die indirekten Kosten der Weiterbildung ließen sich spürbar senken. Umgekehrt ist mit einer wachsenden Überstundenresistenz der Beschäftigten vor allem dann zu rechnen, wenn die Überstundenkonten auch die betriebsnotwendige Weiterbildung „finanzieren„ sollen. Es käme zu einer Umverteilung der Weiterbildungskosten, ohne dass eine entsprechende Verteilung auch der Erträge aus den Investitionen in Humankapital gesichert ist.

Angesichts dieser Bedenken und Unsicherheiten erscheint der Vorschlag, Lernzeitkonten ausschließlich oder vorrangig auf Überstunden zu basieren, als wenig überzeugend. Der zeitliche Grundstock für Lernzeitkonten sollte vielmehr, wenn diese für einen möglichst großen Kreis der Beschäftigten tragfähig sein sollen, aus anderen Quellen stammen, wie sie im vorigen Kapitel skizziert sind.

2.3 Zentral organisierte Lernzeitkonten

Ein dritter Ansatz schlägt vor, Lernzeitkonten für sämtliche Erwerbspersonen, also einschließlich der Selbständigen sowie der Arbeitslosen, zentral bei der Bundesanstalt für Arbeit (BA) einzurichten (Senatsverwaltung 2001). Der BA soll nicht nur die Aufgabe zufallen, die Lernzeitkonten zu verwalten. Sie soll auch eine zentrale Rolle bei deren Finanzierung übernehmen. Ansonsten stützt sich auch dieser Vorschlag auf mehrere Aufbringungsquellen, an denen sowohl Betriebe als auch Beschäftigte beteiligt sind.

Den zeitlichen bzw. finanziellen Grundstock für die Lernzeitkonten soll die BA einbringen, indem sie einen Prozentpunkt der Beitragsätze zweckgebunden für den Aufbau von Lernzeitkonten einsetzt. Weitere Zeitelemente steuern die Beschäftigten bei. Sie sollen Elemente aus bestehenden Zeitguthaben auf Lernzeitkonten transferieren können. Ferner wird vorgeschlagen, zukünftig den Zuwachs der Produktivität zumindest teilweise für eine investive Arbeitszeitpolitik im Rahmen der Tarifaushandlungen zu verwenden. Schließlich sollen auch nicht-ausgeschöpfte Ansprüche aus den Bildungsurlaubsgesetzen auf die Lernzeitkonten fließen. Die Bildungskonten sollen mit den durchschnittlichen Zinssätzen auf Sparguthaben verzinst werden. Vorgeschlagen wird ferner, die Bildungskonten ähnlich wie das Bausparen öffentlich - vor allem steuerlich - zu fördern.

Die Etablierung von Lernzeitkonten begründet einen generellen Rechtsanspruch auf Weiterbildung, deren Einlösung die Zustimmung des Arbeitgebers voraussetzt. Organisatorisch soll die Inanspruchnahme von Lernzeitguthaben nach dem Muster von Jobrotation umgesetzt werden. Die Qualifizierungskosten sollen zu Lasten der Arbeitnehmer gehen und über die Bildungskonten verbucht werden.

[Seite der Druckausg.:38]

2.4 Vergleichende Bewertung

Vergleicht man die beiden Lernzeitkontenmodelle, die sich auf mehrere Zeitquellen stützen [Die Idee des Überstundenkontos wird hier wegen der genannten Einwände nicht weiter verfolgt.], dann lassen sich folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausmachen.

  • Beide Ansätze verankern generelle Ansprüche auf Weiterbildungszeiten. Unterschiedlich ist jedoch deren jeweilige personelle Reichweite. Das Konzept dezentraler Lernzeitkonten bezieht lediglich die abhängig Beschäftigten ein und ist deshalb auf jeden Fall um Jobrotations-Modelle zu ergänzen, die die Arbeitslosen an betriebliche Weiterbildung und den Lernort Betrieb heranführen. Der Ansatz zen-traler, beitragsfinanzierter Lernzeitkonten geht weiter und umfasst sämtliche Erwerbspersonen einschließlich der Arbeitslosen.

  • Beide Ansätze stimmen in dem Grundgedanken überein, die Beschäftigten an der Aufbringung der Lernzeitguthaben zu beteiligen, allerdings mit unterschiedlichen Verteilungsmustern. Das Modell zentral gesteuerter Lernzeitkonten sieht einen deutlich höheren Beitrag der Beschäftigten vor, die sich grundsätzlich an sämtlichen Formen betrieblicher Weiterbildung (betriebsnotwendige sowie eigeninitiierte Weiterbildung) mindestens hälftig im Rahmen der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit beteiligen sollen. Dieser Ansatz läuft auf eine Umverteilung der Weiterbildungskosten zu Lasten der Beschäftigten hinaus.

  • Während das Konzept dezentraler Lernzeitkonten an bestehenden gesetzlichen, tariflichen und betrieblichen Regelungsmustern anknüpft, diese zusammenführt und komplettiert, vollzieht der Vorschlag zentraler Lernzeitkonten gegenüber den bisherigen Organisationsprinzipien beruflicher Weiterbildung einen Systemwechsel. Dieser Ansatz stellt die bislang vorrangig dezentral betrieblich finanzierte und organisierte Weiterbildung auf ein öffentlich gefördertes und zentral verwaltetes Modell um.

Der Vorschlag zentraler Zeitkonten hätte zudem zur Folge, das System der Beitragsfinanzierung neu zu organisieren. Da er Selbständige in die Förderung der beruflichen Weiterbildung einbezieht, müsste aufgrund des Äquivalenzprinzips deren Beitragspflichtigkeit eine automatische Folge sein. Generell erscheinen die mit diesem Ansatz implizierten institutionellen Umstrukturierungen als zu fundamental und deshalb kaum in absehbarer Zeit realisierbar. Zudem dürfte die massive Umverteilung der Weiterbildungskosten zu Lasten der Beschäftigten nicht widerstandslos bleiben.

2.5 Probleme der Handhabung

Das hier favorisierte, aus mehreren Quellen gespeiste Modell dezentral organisierter Lernzeitkonten wirft in der praktischen Handhabung eine Reihe von Problemen und Fragen auf. Zu klären sind alternative Verwendungsmöglichkeiten von Lernzeitguthaben einschließlich deren Konvertierbarkeit in Geld, der Insolvenzschutz, die zwischenbetriebliche Transferierbarkeit sowie die Abgrenzung von betrieblich oder individuell initiierter Weiterbildung. Mögliche Lösungen können hier angesichts nur

[Seite der Druckausg.:39]

bruchstückhafter Kenntnisse über die bisherigen Praxiserfahrungen lediglich angedeutet werden.

  • Alternative Verwendungen: Die Frage nach alternativen Verwendungsmöglichkeiten stellt sich in doppelter Weise. Erstens ist zu klären, ob ein separates Lernzeitkonto oder ein generelles Langzeitkonto eingeführt wird, dessen Zeitguthaben für unterschiedliche Verwendungszwecke zur Verfügung stehen. Gegen die zweite Variante sprechen mögliche Verwendungskonkurrenzen. Beschäftigungspolitisch können z. B. die auf Langzeitkonten akkumulierten Zeitguthaben eine Art "Zeitpuffer" bilden, um in schlechten Konjunkturphasen ansonsten drohende Entlassungen abzuwenden. Diese Verwendungskonkurrenz ließe sich durch antizyklisch organisierte Weiterbildung ausräumen. Ferner können Langzeitkonten für einen vorzeitigen Austritt aus dem Erwerbsleben dienen. Mit zunehmendem Alter der Beschäftigten dürfte dieser Verwendungszeck an Attraktivität gewinnen. Und umgekehrt sinken, falls bei der Verwendung von Zeitguthaben Wahlmöglichkeiten bestehen, die Chancen, über Lernzeitkonten die Weiterbildungsaktivitäten von älteren Arbeitnehmern zu intensivieren. Anreize in Form von zweckgebundenen Zeitgutschriften für Beschäftigte ab einem bestimmten Alter könnten deren Weiterbildungsneigung fördern. Da zweitens aufgrund bisheriger Erfahrungen davon auszugehen ist, dass nicht sämtliche Beschäftigtengruppen den gleichen zeitlichen Bedarf für berufliche Weiterbildung reklamieren und nutzen werden, ist die Frage nach alternativen Verwendungsmöglichkeiten von Lernzeitguthaben zu klären. Eine denkbare Möglichkeit wäre, nicht ausgeschöpfte Zeitguthaben differenziert nach ihren Aufbringungsquellen zu behandeln und die aus den Bildungsurlaubsgesetzen stammenden Zeiteinheiten zweckgebunden nur für berufliche Weiterbildung und nicht auch für andere Verwendungen wie Frühverrentungen, Sabbaticals usw. zu reservieren.

  • Insolvenzsicherung: Beschäftigte könnten sich gegenüber Langzeitkonten reserviert zeigen, solange nicht die dort in teilweise beträchtlichen Größenordnungen ansammelbaren Zeitguthaben gegen Risiken im Insolvenzfall abgesichert sind. Verschiedene Lösungen bieten sich an (MASSKS 1999): tarifvertragliche Vereinbarungen nach dem Muster der Bauindustrie, Fondslösungen (nach dem Vorbild der Volkswagen AG), Kautionsversicherungen, Bankbürgschaften usw. Kapitalfondslösungen versprechen Verzinsungen der Zeitkonten, bergen aber auch Risiken der Aktienkursentwicklung. Die anderen Varianten sind mit Kosten verbunden.

  • Transferierbarkeit: Bei dezentralen Lernzeitkonten ist bei zwischenbetrieblichem Wechsel die Frage der Transferierbarkeit von Lernzeitguthaben zu klären. Eine denkbare Möglichkeit könnte sein, die Guthaben grob nach ihren Quellen zu differenzieren und diejenigen Zeitelemente, die nicht aus den Bildungsurlaubsgesetzen stammen, in Geld zu transformieren und sie bei Wechsel des Arbeitgebers in neuerliche Lernzeitansprüche zurückzutauschen. Lernzeitansprüche aus den Bildungsurlaubsgesetzen sollten wie bisher behandelt werden.

  • Abgrenzungsprobleme: Der hier entwickelte Vorschlag dezentraler Lernzeitkonten sieht vor, die Lernzeitguthaben allein für Weiterbildungsaktivitäten zu reservieren, die die Beschäftigten initiieren. Für betriebsnotwendige Weiterbildung ist Arbeitszeit zu investieren. Die Differenzierung zwischen diesen beiden Weiterbildungstypen kann Abgrenzungsprobleme aufwerfen. Betriebsinterne, paritätisch besetzte

[Seite der Druckausg.:40]

    Kommissionen, wie sie bereits in einigen Betrieben existieren, stellen einen praktikablen Weg der Konfliktlösung dar.

  • Kleinere und mittlere Unternehmen: Unternehmen in dieser Größenordnung verfügen bislang über vergleichsweise bescheidene Voraussetzungen, Lernzeitkonten einzuführen und systematisch für berufliche Weiterbildung zu nutzen. In organisatorischer Hinsicht dürfte die formale Einrichtung von Zeitkonten keine Schwierigkeiten bedeuten und letztlich nur eine informell bereits häufig praktizierte variable Arbeitszeitgestaltung kodifizieren. Größere Probleme werfen Planung und Organisierung von Weiterbildung auf. Wie oben (Abschnitt II.4) ausgeführt, kann in der Gesamtwirtschaft nur die Hälfte der Beschäftigten mit betrieblicher Unterstützung in Form von Beratung, Planung und Organisierung der Weiterbildungsaktivitäten rechnen. Mit abnehmender Betriebsgröße steigt der Anteil der Beschäftigten, die auf Eigeninitiative angewiesen sind. Eine praktikable Lösung bieten Qualifizierungsnetzwerke. Sie können einen zwischenbetrieblichen Transfer von Weiterbildungsleistungen organisieren (Bosch et al. 1997). Solche Netzwerke funktionieren aber auch nur dann, wenn die Betriebe entsprechende personalpolitische Voraussetzungen schaffen und zumindest rudimentäre Formen einer Weiterbildungsplanung einrichten oder auf Verbundlösungen zurückgreifen, wie sie in einigen Regionen bereits existieren. Überbetriebliche Beratungseinrichtungen können flankierend helfen, betriebliche Qualifizierungsbedarfe festzustellen und gezielte Weiterbildungspläne zu entwerfen. Diese Beratungseinrichtungen müssen natürlich auch den Beschäftigten zur Verfügung stehen. Für die Finanzierung dieser Einrichtungen bieten sich Umlageverfahren an, die sich bereits in einigen Regionen erfolgreich bewährt haben.

  • Sinkende Tarifgebundenheit: Tarifvertragliche oder betriebliche Vereinbarungen von Lernzeitansprüchen stoßen an Grenzen aufgrund der (leicht rückläufigen) Tarifgebundenheit der Betriebe sowie der Deckungsrate durch Betriebsräte [Flächen- oder Firmentarifverträge galten 1997 für 58% der west- und 40% der ostdeutschen Betriebe (Bellmann et al. 1999).]. Mit abnehmender Betriebsgröße steigt der Anteil der Betriebe, die weder tarifgebunden sind noch über eine betriebliche Interessenvertretung verfügen. In diesen Betrieben greifen weder tarifvertragliche noch betriebliche Regelungen. Eine Lösung könnten Allgemeinverbindlichkeitserklärungen bieten, die zumindest eine Übernahme tarifvertraglich vereinbarter Weiterbildungsansprüche für Beschäftigte in tariffreien Betrieben sicherstellen.

Selbst wenn es gelingt, die angeschnittenen Probleme in befriedigender Weise zu lösen, verbleibt die Frage, inwieweit das vorgeschlagene Modell der Lernzeitkonten Ausmaß und Struktur der Weiterbildungsaktivitäten in die erforderliche Richtung beeinflussen kann. Hoffnungen, durch ein flächendeckendes Konzept der Lernzeitkonten, das den Beschäftigten zeitliche Ansprüche auf berufliche Weiterbildung einräumt, den zukünftigen Weiterbildungsbedarf besser abdecken zu können, gründen sich auf folgende Argumente:

  • Da die Beschäftigten einen Teil der Lernzeiten als Eigenleistung einbringen, könnten sie ein Interesse haben, diese ansonsten nicht oder nur eingeschränkt alternativ nutzbaren Zeiteinheiten nicht verfallen zu lassen.

[Seite der Druckausg.:41]

  • Positive Impulse auf die Weiterbildungsbeteiligung könnten auch von dem Vorschlag ausgehen, zumindest einen Teil der Freistellungszeiten aus den Bildungsurlaubsgesetzen exklusiv für berufliche Weiterbildung zu nutzen.

  • Lernzeitkonten verbessern die Möglichkeiten antizyklischer Weiterbildung. Bei prosperierender wirtschaftlicher Entwicklung kollidieren Weiterbildungsaktivitäten häufig mit Zeitengpässen, und in Phasen des wirtschaftlichen Abschwungs stoßen sie auf finanzielle Restriktionen. Diese Probleme ließen sich mindern, wenn angesparte Zeitguthaben, für die finanzielle Rücklagen gebildet werden, antizyklisch aufgelöst und für Weiterbildung genutzt würden.

  • Eine auf regionalen Netzwerken basierende Planung und Organisierung der Weiterbildung verspricht, bislang eher vernachlässigte Beschäftigtengruppen aus Klein- und Mittelbetrieben besser zu erreichen.

  • Die Verknüpfung des Konzeptes der Lernzeitkonten mit Jobrotationsmodellen kann Engpässe bei der Freistellung für Weiterbildung beseitigen helfen.


2.6 Ergänzung der Lernzeitkonten durch Jobrotation

Der hier entwickelte Vorschlag für Lernzeitkonten ist auf Beschäftigte konzentriert, die Nicht-Erwerbstätigen bleiben ausgeklammert. Jobrotationsmodelle könnten die Brücke zur betrieblich organisierten Weiterbildung schlagen (Oschmiansky et al. 2001; Seifert 2001c). Jobrotation erfüllt eine doppelte Aufgabe. Qualifikationspolitisch bietet es beschäftigten Arbeitnehmern die Möglichkeit, für eine bestimmte Zeit an außerbetrieblichen Weiterbildungsveranstaltungen teilzunehmen, dadurch die beruflichen Einsatzmöglichkeiten sowohl im Betrieb als auch auf dem externen Arbeitsmarkt zu verbessern. Gleichzeitig können Betriebe aufgestaute Qualifikationsbedarfe decken, ohne dabei Arbeitsausfall und Engpässe bei Produktion oder Dienstleistung hinnehmen zu müssen. Die beschäftigungspolitische Funktion besteht darin, Arbeitslosen als Stellvertretern für die betrieblichen Bildungsteilnehmer zumindest befristet neue Arbeitsmöglichkeiten zu bieten, sie zu qualifizieren und betrieblich einzuarbeiten. Arbeitslose finden auf diese Weise wieder Anschluss an den Lern- und Arbeitsort Betrieb sowie die dort abgeforderten Leistungsstandards.

Jobrotationsmodelle verwischen bei der beruflichen Weiterbildung die strikte institutionelle Grenzziehung zwischen externem und internem Arbeitsmarkt. Damit relativieren sie das bisherige Prinzip, das die Finanzierung der betrieblichen Weiterbildung als eine alleinige Aufgabe der Betriebe begreift. Zugleich können sie dazu beitragen, zeitliche und personelle Engpässe, die vor allem in kleineren und mittleren Unternehmen berufliche Weiterbildung behindern, abzubauen.

Page Top

Fazit

Angesichts der absehbaren langfristigen Veränderungen sowohl auf der Nachfrage- als auch der Angebotsseite des Arbeitsmarktes ist eine tiefgreifende Reform des bestehenden Systems der beruflichen Weiterbildung überfällig. Lernzeitkonten nach dem hier vorgeschlagenen Muster können einen Baustein für ein Konzept des lebenslangen Lernens liefern. Zumindest in zeitorganisatorischer Hinsicht erweitern sie die Zugangsvoraussetzungen für sämtliche Beschäftigte, an beruflicher Weiterbildung teilzunehmen. Ausgangsbasis bilden bereits bestehende gesetzliche, tarifliche und betriebliche Ansprüche auf Lernzeiten, die zusammengeführt und um weitere Zeitelemente komplettiert werden. Jede/r Beschäftigte erhält ein individuelles Lern-

[Seite der Druckausg.:42]

zeitkonto. Für den Aufbau von Zeitguthaben dienen unterschiedliche Quellen. Das Ansparen erfolgt nach dem Prinzip des Time-sharing. Betriebe bringen Arbeitszeit ein, Beschäftigte beteiligen sich mit Freizeit. Mit diesem in der betrieblichen Praxis längst verbreiteten Prinzip versucht der hier entworfene Ansatz individueller Lernzeitkonten eine Perspektive für lebenslanges Lernen zu entwerfen, die wegen ihres vorgeschlagenen Verteilungsmusters als Kompromissformel dienen könnte.

Die bloße Etablierung von Lernzeitkonten kann aber weder garantieren, dass die Weiterbildungsbeteiligung in dem erforderlichen Maße steigt noch dass die bislang vernachlässigten Personengruppen besser in berufliche Weiterbildung einbezogen werden. Hierzu bedarf es weiterer Voraussetzungen. Zur umfassenden Reform der beruflichen Weiterbildung gehört ebenso auch, die bestehenden Curricula entsprechend auszurichten und zu modularisieren, die Lernformen auf neue Zielgruppen zuzuschneiden, das bestehende System der Zertifizierung zu überprüfen usw. Entscheidend dürfte ferner sein, ob es gelingt, den Gedanken der Lernzeitkonten mit einer individuellen Qualifizierungs- und Entwicklungsplanung zu verknüpfen und als festen Bestandteil in die Personalentwicklung zu integrieren, wie er im Tarifvertrag der Metallindustrie Baden-Württemberg vereinbart wurde. Außerdem erscheint es unverzichtbar, wenn die bislang noch weiterbildungsabstinenten Betriebe und Beschäftigtengruppen aktiviert werden sollen, flankierende Hilfestellungen in Form überbetrieblicher Beratungs- und Betreuungseinrichtungen zu etablieren. Die Weiterbildungspraxis zeigt bereits verschiedene erfolgreiche Ansätze, deren Erfahrungen es aufzuarbeiten und auszubauen gilt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

Previous Page TOC Next Page