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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 79] 7. Sechs Optionen für eine Politik nachholender Anerkennung und sozialer Integration Szenarien der Abwehr von Flüchtlingen werden sich durch noch so beispielhafte Initiativen einzelner Akteure der Aufnahmegesellschaft nicht beheben lassen. Hierzu bedarf es eines politischen Paradigmenwechsels, der die bisherige Politik der Zurückweisung und Integrationsverweigerung durch eine Politik der Anerkennung [Den Begriff "Politik der Anerkennung" entnehmen wir dem Werk des US-amerikanischen Sozialphilosophen und Kommunitaristen Charles Taylor, der sich unter anderem mit Fragen des Zusammenlebens von Ein heimischen und Zuwanderern in modernen Gesellschaften auseinander setzt. "Die These lautet, unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerken nung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt (...). Nichtaner kennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen, in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen!" (1993: 13 f.). Taylor stützt sich seinerseits auf Philosopheme der französischen Aufklärung (Rousseau) und des deutschen Idealismus (Kant und Hegel). Vgl. auch Honneth, A. 1992.] und sozialen Integration [Zum Begriff der sozialen Integration vgl. Abschnitte 4 und 5.1.] ersetzt. Von einer solchen Politik wären deutliche Entlastungseffekte zu erwarten: Entlastung für die betroffenen, ohnehin vielfach traumatisierten, Menschen, Entlastung aber auch für die Aufnahmegesellschaft, mit deutliche befriedenden [Vgl. den Titel des von der SPD-Bundestagsfraktion am 6.7.2001 vorgelegten Eckpunktepapiers unter der Überschrift: "Steuerung, Integration, innerer Friede ."] integrativen Konsequenzen. Die entlastende Wirkung für die Betroffenen ist offenkundig: Denn sie wären in die Lage versetzt, angstfrei nach Möglichkeiten einer selbstbestimmten, also auch: durch eigene Erwerbstätigkeit fundierten Lebensführung zu suchen. Zug um Zug mit der Entwicklung sprachlicher Artikulationsfähigkeit würden sie eigene Fähigkeiten entdecken und geltend machen, zugleich aber auch schwierige Lernprozesse im Hinblick auf ein neues gesellschaftliches Umfeld und ungewohnte Berufsfelder auf sich nehmen. Die Anerkennung (und Aktivierung) der Flüchtlinge hätte eine entlastende Wirkung auch für Aufnahmegesellschaft und Kommunen: Zum Teil überdurchschnittlich ausgebildete Frauen und Männer im besten Lebensalter würden über kurz oder lang ökonomisch auf eigenen Füßen stehen und damit den kommunalen Sozialhaushalt entlasten. Auch der Verwaltungsaufwand ließe sich drastisch reduzieren. Viele politisch erfahrene und interessierte Fluchtmigranten wären zur politisch-gesellschaftlichen Partizipation in der Kommune bereit. Gleichzeitig würden sie wichtige Beiträge leisten zur Demokratisierung und Befriedung ihrer Herkunftsländer und damit zur Reduzierung zukünftiger Fluchtbewegungen. Eine Politik der Anerkennung und sozialen Integration würde den bisher Ausgeschlossenen ihre Würde zurückgeben. Sie würde aber auch denen Würde vermitteln, die als Akteure der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft Generosität walten lassen. Hierauf verwies kein geringerer als der Abgeordnete des Parlamentarischen Rates Carlo Schmid (SPD), anlässlich der Beratungen des Asylartikels des Grundgesetzes im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates: Die Asylrechtsgewährung ist immer eine Frage der Generosität ... und darin liegt vielleicht auch die Würde eines solchen Aktes. [Zit. nach Schneider, H.-P. 1992.] Im Folgenden werden sechs Optionen entwickelt, deren Realisierung es ermöglichen könnte, dem angestrebten Paradigmenwechsel erheblich näher zu kommen. Erste, grundlegende Option einer Politik der Anerkennung ist die Rückkehr zu den bereits erreichten internationalen Standards des Asylrechts. [Seite der Druckausg.: 80] Pro Asyl hat 1998, im Vorfeld der damaligen Bundestagswahl und unterstützt von kirchlichen Stellen, Sozialverbänden, Menschenrechtsorganisationen und DGB [Im Einzelnen: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband; Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche"; Deut scher Caritasverband Abt. Migration; Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband; DGB Bundes vorstand, Referat Migration; Diakonisches Werk in Hessen und Nassau; Ev. Frauenarbeit in Deutschland; Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck; Arbeitsstelle für den Dienst in den Gemeinden an Ausländern, Aussiedlern, Asylsuchenden; Ev. Kirche der Pfalz, der Ausländerbeauftragte; Ev. Kirche im Rheinland; Humanistische Union; Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau; Pax Christi, Deutsche Sektion; terre des hommes Bundesrepublik Deutschland; Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf.] diesbezügliche Mindestanforderungen präzisiert:
Ein im September 2000 vorgelegtes weiteres und wiederum von einer breit angelegten Bündniskonstellation mitgetragenes Memorandum [Vgl. Pro Asyl 2000 gemeinsam mit amnesty international, Sektion der Bundesrepublik Deutschland; Arbeiterwohlfahrt Bundesverband; Arbeitsgemeinschaft Ausländer- und Asylrecht im deutschen Anwalt verein; Deutscher Caritasverband; DGB Bundesvorstand, Referat Migration; Deutscher Paritätischer Wohl fahrtsverband; Deutsches Rotes Kreuz; Diakonisches Werk der EKD; Neue Richtervereinigung.] unterstreicht die Kongruenz von Verfassungsrecht und Völkerrecht, also des im Grundgesetz niedergelegten innerstaatlichen Asylanspruchs und des transnational vereinbarten flüchtlingsrechtlichen Verfolgungsschutzes samt Rechtsweggarantie des Grundgesetzes. Asylrechtliche Konsequenz wäre die Aufwertung derjenigen Flüchtlinge mit kleinem Asyl, die gem. § 51,1 AuslG anerkannt werden (sog. Konventionsflüchtlinge). Sie bilden als auf dem Landwege Eingereiste die große Mehrheit derjenigen, die in der Bundesrepublik Deutschland (noch) asylrechtliche Anerkennung finden. Ihr Status wäre demjenigen der nach dem Grundgesetz Anerkannten voll anzugleichen. Das Memorandum 2000 verweist zusätzlich auf die Notwendigkeit ergänzenden (subsidiären) Schutzes nach den Normen des Völkerrechts. Für den Fall von Massenfluchtbewegungen sollten auf der Grundlage von EU-Normen neue politische Schutzkonzepte entwickelt werden. Hieraus ergibt sich eine zweite, grundlegende Option: Selbst bei umfassender Anwendung der GFK in der Bundesrepublik Deutschland blieben Schutzlücken bezogen auf solche Flüchtlinge, die den Kriterien der GFK möglicherweise nicht entsprechen. Dies gilt z.B. für Flüchtlinge aus Kriegen und Bürgerkriegen oder für diejenigen, die Folter oder Todesstrafe fürchten müssen, sodann für die Fluchtmotive der gleichgeschlechtlichen Identität oder auch der Kriegsdienstverweigerung bzw. Desertion. Hier allerdings greifen die EMRK und andere internationale Konventionen, auf deren Grundlage asylrechtlich Nicht-Anerkannten doch der benötigte (subsidiäre) Schutz gewährt werden soll. In der Bundesrepublik Deutschland wird derart subsidiärer Schutz wenn überhaupt in Form einer Duldung erteilt. Der Aufstieg von bloßer Duldung zu einem Aufenthaltsstatus gem. AuslG ist gleichzeitig unter den Generalvorbehalt des § 7 Abs. 2 AuslG gestellt. Danach wird die Aufenthaltsgenehmigung in der Regel versagt, sofern der Ausländer seinen Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes nicht aus eigener Erwerbstätigkeit, eige- [Seite der Druckausg.: 81] nem Vermögen oder sonstigen eigenen Mitteln, aus Unterhaltsleistungen von Familienangehörigen oder Dritten, aus Stipendien, Umschulungs- oder Ausbildungsbeihilfen, aus Arbeitslosengeld oder sonstigen auf einer Beitragsleistung beruhenden öffentlichen Mitteln bestreiten kann. Gerade dies wurde allerdings durch ein Arbeitsgenehmigungsrecht be-, wenn nicht verhindert, das geduldeten Flüchtlingen einen nur nachrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Grundlegend für eine Veränderung bisheriger staatlicher Handlungsweisen wäre deshalb, dass zur Kenntnis genommen wird: Die Anwesenheit auch der subsidiär geschützten Flüchtlinge hat in der Regel nicht nur transitorischen Charakter, sondern ist angesichts anhaltender äußerst bedrohlicher Zustände in zahlreichen Herkunftsländern auf Dauer angelegt. Auch abgelehnte Asylbewerber, die gleichwohl ihren Herkunftsstaaten nicht einfach ausgeliefert und deshalb in der Bundesrepublik Deutschland geduldet werden, sind letztlich Einwanderer. Sie werden es umso offenkundiger, je häufiger ihre Duldung erneuert werden muss (Kettenduldung), weil humanitäre und rechtsstaatliche Gesichtspunkte einer Ausweisung oder gar zwangsförmigen Rückführung entgegenstehen. Auf das ausländerrechtliche Ersatzkonstrukt einer Duldung sollte deshalb zugunsten der Erteilung einer zunächst befristeten Aufenthaltsgenehmigung verzichtet werden. Mindestens aber sollten Duldungen innerhalb kurzer Frist [Das geltende AuslG sieht bereits eine Dauer von maximal einem Jahr vor. Vgl. § 56 Abs. 2 AuslG und AuslGVwV Nr. 56.2.1.] in eine Aufenthaltsgenehmigung umgewandelt werden. Auch für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz wäre damit ein Aufenthaltsstatus die Regel und ein jedenfalls von Verbotsnormen ungehinderter Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Selbstverständlich hätten sie teil an jenen Maßnahmen, Sofortprogrammen und Projekten, die entweder der Gesamtgruppe benachteiligter Zielgruppen oder der sozialen Integration von Zuwanderern nicht-deutscher Staatsangehörigkeit gewidmet sind. Für die Aufwertung subsidiärer Schutzbestimmungen sprechen neben humanitären auch integrations- und rechtspolitische Erwägungen:
[Seite der Druckausg.: 82] Eine dritte Option bezieht sich auf den Zeitraum bis zur asylrechtlichen oder subsidiären Anerkennung von Flüchtlingen. Auch dieser Zeitraum bedarf einer Ausgestaltung, der Flüchtlinge vor dem Schicksal bloßen Aufbewahrtwerdens, noch dazu in einer sozialräumlich isolierten Massenunterkunft, bewahrt. Spätestens nach Übernahme durch eine Kommune ist deshalb auch für Asylbewerber im Verfahren
Eine vierte Option bezieht sich auf mangelnde bzw. mangelhafte Integrationsangebote der Aufnahmegesellschaft.
[Niederländische Erfahrungen, die Integrationsförderung für Neuzuwanderer in Form von Beratungs an geboten und Sprach- bzw. Integrationskursen vertraglich zu regeln, sollten hierbei berücksichtigt werden. Vgl. Landeszentrum für Zuwanderung NRW 2001 und: Beauftragte der Bundesregierung für Ausländer fragen 2000.]
Eine fünfte Option betrifft die Kinder und Jugendlichen: Allen Kindern von Fluchtmigranten wäre der Hauptschulabschluss als schulisches Minimum zu ermöglichen. Zu fördern wäre der vermehrte Zugang dieser Kinder zu Gymnasien und Gesamtschulen und dort die Einrichtung von Förderklassen, des Weiteren die Einrichtung von Abiturklassen für bestimmte Sprachgruppen, dies z.B. auch in Institutionen des zweiten Bildungsweges. Neben Russisch könnten [Seite der Druckausg.: 83] z.B. Türkisch, Persisch, Tamilisch, Englisch und Französisch eingeführt werden. Jugendlichen aller Statuskategorien sind Wege in das (duale) System der Berufsausbildung zu eröffnen. Überbetrieblichen Einrichtungen, z.B. der Kammern, käme hier eine besondere Verantwortung zu. Die Sofortprogramme von Bund und Ländern zur Behebung der Jugendarbeitslosigkeit wären entsprechend zu öffnen. Für Kinder und Jugendliche mit Schwierigkeiten beim Übergang von der Schule zum Beruf wären die bewährten Institutionen des Berufsgrundschuljahres samt Vorklasse zu nutzen und bedarfsdeckend auszubauen. Hier könnten jugendliche Seiteneinsteiger aller Statuskategorien ggf. den Hauptschulabschluss nachholen und, darauf aufbauend, Grundqualifikationen in einer Reihe von Berufsfeldern erwerben. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bedürfen verstärkten Schutzes. Hierzu wurde von UNICEF ein umfassendes Vorschlagspaket vorgelegt.
[Vgl. Angenendt 1999: 119ff.; vgl. auch Pro Asyl 2001; Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit 2001; Woge e.V./Institut für Soziale Arbeit e.V. 1999.]
Eine sechste Option betrifft die Flüchtlinge ohne Papiere: In ein politisches Gesamtkonzept nachholender Anerkennung und sozialer Integration wären abgetauchte Asylsuchende ohne jeglichen Status unbedingt einzubeziehen. Eine groß angelegte Legalisierungsaktion im nationalen Maßstab würde spürbare Erleichterung schaffen. Erfahrungen in Ländern Westeuropas zeigen allerdings, dass derartige Aktionen nur lückenhaft und in sehr großen Zeitabständen durchgesetzt werden können. Auch vermögen sie nicht zu verhindern, dass sich nach dem Stichtag neue, als illegal bewertete Zuwanderergruppen einfinden. Sie setzen im Übrigen eine von Informationskampagnen begleitete öffentliche Legalisierungsdebatte voraus. Wichtig und schneller wirksam wäre deshalb ein Kontinuum solcher Überbrückungsmaßnahmen für Individuen und Gruppen (Fall-zu-Fall-Regelungen) [Alt, J. 2001: 70.], die teils durch geltende Bestimmungen des Ausländerrechts bereits legitimiert sind, teils auf einfachgesetzlichem Wege durchgesetzt werden könnten. Im Übrigen wären Bestimmungen des Ausländergesetzes, die schon die bloße Nothilfe für Abgetauchte sanktionieren, sofort zu streichen. Unmittelbar notwendig wären lebensrettende Hilfsmaßnahmen: Einrichtung von Beratungsstellen und Nothilfefonds, medizinische Behandlung unter Beachtung des Datenschutzes, Notübernachtungsstellen, Ausgabe von unentgeltlichem Essen und Bekleidung, Zugang zu Deutsch-Sprachkursen, Kindergarten- und Schulbesuch. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002 |