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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 33]



Ursula Boos-Nünning
Schul- und Berufssituation von Jugendlichen ausländischer Herkunft, insbesondere von Mädchen und Frauen


1. Die Ausbildungssituation der Jugendlichen ausländischer Herkunft heute

Mehr als die Hälfte der jungen Frauen und fast die Hälfte der jungen Männer ausländischer Nationalität, die heute 20-30 Jahre alt sind, haben keinen beruflichen Ausbildungsabschluß. Ein Teil dieser Gruppe von jungen Ausländern ist arbeitslos, ein anderer Teil hat sich aus dem offiziellen Arbeitsmarkt zurückgezogen, ganz auf Erwerbstätigkeit "verzichtet" oder ist in den grauen Markt von Gelegenheitsarbeiten und ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen ausgewichen oder arbeitet als Ungelernte. Nun ist auch eine abgeschlossene Berufsausbildung keine Garantie für einen Arbeitsplatz, aber gerade für die Ausländer fast unabdingbare Voraussetzung.

Alle verfügbaren Daten deuten darauf hin, daß die jungen Türken in besonderem Maße von dem Problem der Ausbildungslosigkeit betroffen sind, und eine gesonderte Erhebung würde für sie weit höhere Zahlen als die oben genannten ergeben. Falsch ist jedoch die Annahme, daß Griechen, Italiener und Portugiesen sowie die anderen Nationalitätengruppen hinsichtlich ihrer Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt den Deutschen gleichgestellt sind. Alle Jugendlichen ausländischer Herkunft haben eine deutlich niedrigere Ausbildungsbeteiligung als die deutschen Jugendlichen, wenn sich auch die Größenordnung und die Gründe dafür bei den einzelnen Nationalitäten unterscheiden. Auch die Jugendlichen ausländischer Herkunft, die heute aus der Schule entlassen werden und einen Ausbildungsplatz suchen, haben deutlich schlechtere Chancen als deutsche Gleichaltrige. Zwar belegen die Statistiken und Einzelberichte, daß sich die Berufsausbildungssituation von Jugendlichen in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland global verbessert hat

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und daß es in immer mehr Berufen ein größeres Angebot an Ausbildungssteilen als Bewerber gibt - wenn auch mit großen Unterschiede: nach dem gewählten Beruf und nach dem Ort des Betriebes. Hingegen läßt sich - zunächst ebenfalls nur global - registrieren, daß der Zugang in eine berufliche Ausbildung für junge Ausländer und Ausländerinnen nicht in gleicher Weise leichter geworden ist, und zwar für die meisten Nationalitäten nicht.

Im Jahre 1991 befanden sich nach den vom Statistischen Bundesamt ermittelten vorläufigen Zahlen rund 108.800 Jugendliche ausländischer Herkunft in einer beruflichen Ausbildung, eine deutliche Verbesserung gegenüber früheren Jahren (z.B. 1984: ca. 49.000, 1989: ca. 83.600). Die Steigerungsraten lassen manchmal vergessen, daß die Versorgung der für eine Ausbildung in Frage kommenden Altersgruppe nach wie vor schlecht ist; nach den oben genannten Zahlen - sowenig sie auch einer kritischen Prüfung standhalten - sind Ende 1990 (jeweils bezogen auf die Gesamtzahl der 15- bis 18jährigen der jeweiligen Nationalität) nur 27 % der griechischen, 35,5 % der türkischen, 40 % der jugoslawischen, 43 % der italienischen, 44 % der portugiesischen und 49 % der spanischen Jugendlichen in einer beruflichen Ausbildung. Die Vergleichszahl für die deutschen und ausländischen Jugendlichen gemeinsam liegt bei über 72 %. Anders als es dem Alltagsbewußtsein entspricht, handelt es sich bei der Unterrepräsentation in Ausbildung demnach nicht nur um ein Problem von Jugendlichen türkischer Herkunft, obwohl es sich bei den Italienern um die zuerst eingereiste und am längsten in Deutschland lebende Nationalität handelt. Trotz teilweiser Entspannung des Ausbildungsstellenmarktes hat sich die Ausbildung der Jugendlichen ausländischer Herkunft relativ wenig verbessert.

Aber selbst die genannten Zahlen geben das Ausmaß der Benachteiligung der Jugendlichen ausländischer Herkunft nicht ausreichend wieder. Die Gruppe der Jugendlichen ausländischer Herkunft ist stärker als deutsche Jugendliche auf nur wenige Berufe konzentriert und hat überdurchschnittlich hohe Abbruchquoten. Da sie in Bereichen lernen, die nach der Ausbildung geringere Beschäftigungsmöglichkeiten im erlernten oder in einem verwandten Beruf eröffnen, ist ihr Risiko, nach Abschluß der Ausbildung arbeitslos zu werden, schätzungsweise doppelt so

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hoch wie das deutscher Jugendlicher. Der Prozeß des Übergangs in den Beruf ist an beiden Schwellen (von der Schule in die Ausbildung und von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit) für Jugendliche ausländischer Herkunft, die heute die deutsche Schule verlassen, immer noch deutlich schwieriger als für deutsche Jugendliche.

Besonders problematisch ist die Situation der Mädchen ausländischer Herkunft. Die Ausbildungsquote der Mädchen ausländischer Herkunft beträgt 1990 30 % gegenüber 40 % bei den männlichen Jugendlichen mit nicht-deutscher Nationalität. Drei Gründe werden für die Unterrepräsentanz der Jugendlichen ausländischer Herkunft verantwortlich gemacht.

Fehlende schulische Voraussetzungen

Als erster Grund sind die im Vergleich zu deutschen Jugendlichen schlechteren schulischen Voraussetzungen zu nennen; Jugendliche ausländischer Herkunft sind wegen des höheren Anteils von Personen, die über keinen oder über nur einen Hauptschulabschluß verfügen, von einer beruflichen Ausbildung bei einem Teil der Berufe ausgeschlossen.

Auswahlverhalten der Betriebe

Ein zweiter Grund für die schlechten Einmündungsquoten liegt im Einstellungsverhalten der Betriebe. Es ist sicher falsch, undifferenziert und pauschalierend anzunehmen, daß die meisten deutschen Arbeitgeber grundsätzlich aufgrund von Vorurteilen oder Ausländerfeindlichkeit die Ausbildung von Jugendlichen ausländischer Herkunft ablehnen. Aber dennoch gibt es entscheidende Mechanismen, die diese Jugendlichen hinter deutschen zurückstehen lassen, so z.B. die fehlende bzw. geringere Einbindung der Jugendlichen und ihrer Familien in soziale Netzwerke, die Bewerbern bessere Ausgangsbedingungen verschaffen, und die Auswahlkriterien der Betriebe, die soziale Hintergrundmerkmale und soziale Orientierungen (z.B. Aussehen, Integrationsbereitschaft) berücksichtigen (vgl. König 1991). Betriebe sind interessiert, homogene

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Arbeitsgruppen zu bilden, damit die Reibungsverluste gering bleiben. Je abgeschlossener Jugendliche ausländischer Herkunft aufwachsen, desto eher besteht die Gefahr, daß sie berufs- und ausbildungsrelevante Qualifikationen, die nicht ausschließlich oder nicht überwiegend durch die Schule vermittelt werden, nicht erlernt haben oder daß der Betrieb annimmt, daß sie über solche Fertigkeiten nicht verfügen. Dadurch wird die Übernahme in eine Ausbildung erschwert oder verhindert. In Kleinbetrieben, insbesondere im Handwerk und in freien Berufen spielen außerdem Kundeninteressen eine entscheidende Rolle. Dies kann sich dann positiv auswirken, wenn Personen mit spezifischen sprachlichen Qualifikationen und Hintergrundkenntnissen gewünscht werden (z.B. in der Anwalts- oder Arztpraxis). Negativ wirkt sich hingegen die Befürchtung aus, daß Auszubildende ausländischer Herkunft von den Kunden nicht akzeptiert werden. Hinzu kommt das Bedenken, daß bei Jugendlichen ausländischer Herkunft wegen zu geringer deutscher Sprachkenntnisse und wegen zu geringer Schulkenntnisse der theoretische Teil der Ausbildung Schwierigkeiten bereitet und sich negative Erfahrungen mit einem oder einer Auszubildenden ausländischer Herkunft dahingehend auswirken können, daß Auszubildende ausländischer Herkunft grundsätzlich abgelehnt werden. Solange ferner deutsche Auszubildende zur Verfügung stehen, die über bessere Voraussetzungen bzw. weniger "negative Merkmale" verfügen, besteht für den Ausbilder kein Grund, auf Auszubildende ausländischer Herkunft zurückzugreifen. Die mit einer solchen Einstellung - aus seiner Sicht - verbundenen Risiken lassen sich ohne weiteres vermeiden.

Berufswahlverhalten der Jugendlichen

Einen dritten Grund stellt das andere Berufswahlverhalten dar, das ein Teil der Jugendlichen ausländischer Herkunft besitzt. Oberflächlich sind die Berufswünsche ähnlich wie die deutscher Jugendlicher (gewünscht wird Radio- und Fernsehtechniker, Berufe im elektronischen Bereich, Friseurin, Arzthelferin, kaufmännische Tätigkeiten; abgelehnt wird z.B. die Ausbildung zur Verkäuferin im Lebensmittelbereich, zum Metzger oder Bäcker). Die Gründe für die Bevorzugung oder Ablehnung von bestimmten Berufen sind jedoch teilweise anders, und bei der Berufswahl

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kommen andere Bestimmungsfaktoren zum Tragen, die sich teilweise nationalitätenspezifisch differenzieren lassen (s. hierzu Boos-Nünning 1989; Boos-Nünning u.a. 1990).

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2. Mädchen ausländischer Herkunft: Die Ausgangslage

Aussagen über Mädchen ausländischer Herkunft widersprechen nicht selten dem Alltagswissen vieler Politiker, aber auch von Pädagogen und Pädagoginnen. Dazu drei Beispiele:

Erstens: Mädchen ausländischer Herkunft, auch türkischer Herkunft, sind im Hinblick auf Schulbesuch und -abschlüsse erfolgreicher als die Jungen derselben Nationalität. Alle uns vorliegenden Daten sprechen dafür, daß die Mädchen ausländischer Herkunft bessere schulische Karrieren vorweisen als Jungen. Sie sind stärker an Realschulen und Gymnasien vertreten, und die wenigen Daten, die Differenzierungen der ausländischen Schulabgänger nach Geschlecht erlauben, belegen (s. Boos-Nünning u. a. 1990, S. 21 f.), daß weniger Mädchen als Jungen ohne Abschluß bleiben und daß Mädchen zu einem höheren Prozentsatz einen mittleren Abschluß oder das Abitur erreichen. Die Bildungsabschlüsse der Mädchen sind demnach im Vergleich zu den Jungen ausländischer Herkunft deutlich qualifizierter, sie sind aber dennoch deutlich schlechter als bei deutschen Jugendlichen, vor allem schlechter als bei deutschen Mädchen.

Zweitens: Fast alle Mädchen ausländischer Herkunft streben ebenso wie die Jungen eine Berufsausbildung an. Untersuchungen, die über Bildungsansprüche Jugendlicher ausländischer Herkunft vorliegen, belegen, daß der überwiegende Teil der Mädchen einen Beruf erlernen möchte und auch danach eine Tätigkeit ins Auge faßt. Viele möchten auch nach der Heirat noch einige Jahre berufstätig bleiben. Die Gründe dafür sind:

  • um sich in der Familie und der Gesellschaft durchsetzen zu können;

  • um mehr berufliche Möglichkeiten, vor allem die Möglichkeit zu haben, in qualifizierten Tätigkeiten zu arbeiten;

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  • um weniger von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein;

  • um im Herkunftsland bessere berufliche Möglichkeiten zu haben.

Die Ausübung eines Berufes ist daher für Mädchen ausländischer Herkunft eine wünschenswerte Perspektive, und zwar im gleichen Maße wie für deutsche. Deutlicher als von diesen wird von ausländischen Mädchen vielleicht gesehen, daß sie unter Umständen lebenslang zur Sicherung des Unterhaltes der Familie beitragen müssen.

Diesen Aussagen über die Ansprüche und Wünsche widersprechen jedoch die statistischen Angaben, die den geringen Anteil ausländischer Mädchen belegen, die tatsächlich eine berufliche Ausbildung aufnehmen. Ihnen widersprechen aber auch die tagtäglichen Erfahrungen der Berufsberater und Berufsberaterinnen, daß Mädchen türkischer Herkunft nicht in die Berufsberatung kommen oder, falls sie an der Beratung teilnehmen, nicht für eine Berufsausbildung zu motivieren und zu überzeugen sind. Die Beobachtungen, die die Ausbildungswirklichkeit von Mädchen ausländischer Herkunft durchweg negativ beschreiben, sind auch richtig. Viele Indizien lassen sich dafür anführen:

Schon bei den Ratsuchenden und Bewerbern ausländischer Herkunft sind weniger Mädchen als Jungen vertreten (im Verhältnis von 42 % zu 58 %), während bei den Deutschen die Mädchen in beiden Gruppen die Mehrheit bilden. Die Ausbildungswünsche der Mädchen ausländischer Herkunft konzentrieren sich auf wenige Berufe, überwiegend auf den Dienstleistungsbereich. Von den wenigen, die sich um eine Ausbildung in einem Fertigungsberuf bewarben, suchten zwei Drittel eine Lehrstelle im Textil- und Bekleidungsgewerbe. Damit richten sich die Wünsche der Mädchen ausländischer Herkunft im wesentlichen auf die gleichen Berufe wie bei den deutschen Bewerberinnen, wenn auch in einer anderen Reihenfolge und auf noch weniger Berufe konzentriert. Während bei allen Auszubildenden der Mädchenanteil inzwischen auf 42 % angestiegen ist, blieb der Anteil von Mädchen ausländischer Herkunft mit einem Drittel aller ausländischen Auszubildenden über Jahre relativ konstant.

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Nicht nur quantitativ, auch qualitativ schneiden Mädchen ausländischer Herkunft sowohl im Vergleich zu ausländischen Jungen auf der einen als auch im Vergleich zu deutschen Mädchen auf der anderen Seite beim Übergang in eine berufliche Ausbildung deutlich schlechter ab. Ihr Berufsspektrum ist besonders eng. Über die Hälfte der Mädchen wird seit Jahren in drei Berufen ausgebildet: Friseurin (ca. 27%); Bürogehilfin/Bürokauffrau (11 %); Verkaufsberufe (10 %). Es folgen zwei weitere stark besetzte Berufe, der der Arzthelferin (9 %) und der der Oberbekleidungsnäherin/Schneiderin (6 %). Demnach konzentrieren sich über 60 % der ausländischen Mädchen (allerdings auch 50 % der deutschen) in der Ausbildung auf nur fünf Berufe.

Äußerst selten gehen Mädchen ausländischer Herkunft ein Ausbildungsverhältnis im Industriebereich ein; meistens werden sie in den Bereich des Handwerks oder in den Dienstleistungsbereich vermittelt. Die Differenzierung in Männer- und Frauenberufe, wie sie in unserer Gesellschaft besteht, wirkt sich zum Nachteil der Mädchen aus. Ihnen werden zukunftsträchtige Berufe in geringerem Maße angeboten als Jungen, und sie selbst wählen solche Berufe seltener.

Die Abstinenz gegenüber einer beruflichen Ausbildung beschränkt sich außerdem keineswegs auf Mädchen türkischer Herkunft. Geht man die einschlägige Literatur durch, so wird der Eindruck hervorgerufen, daß es sich bei den Problemen des Übergangs von der Schule in den Beruf wie auch bei den meisten anderen Frauen allein um die Probleme türkischer Mädchen handelt. Die Berufssituation von Mädchen und jungen Frauen anderer Nationalitäten wird so gut wie nicht angesprochen. Alle Erhebungen, auch die neue Untersuchung des Bundesinstitutes für Berufsbildung, ermitteln nach wie vor große geschlechtsspezifische Unterschiede in der Ausbildungsbeteiligung in allen Nationalitäten:

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Tabelle 1:
Ausbildungsbeteiligung nach Nationalität und Geschlecht in % der bis unter 18jährigen ausländischen Jugendlichen in der BIBB-
Stichprobe

m

w

insgesamt

Griechen

25

15

18

Italiener

34

22

27

Jugoslawen

22

20

21

Portugiesen

50

33

40

Spanier

22

30

24

Türken

39

26

32

Total

35

24

29

Quelle: BIBB 1991, Schweikert 1991, S.4; n=233

Mädchen aller Nationalitäten mit Ausnahme der Spanier münden deutlich seltener in eine berufliche Ausbildung ein als Jungen derselben Nationalität.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Mädchen ausländischer Herkunft zwar bessere schulische Voraussetzungen aufweisen als Jungen ausländischer Herkunft, daß sie aber beim Übergang in eine Ausbildung weitaus weniger erfolgreich sind. Auf der einen Seite sind ausländische Mädchen, nach allem, was wir wissen, motiviert, eine Ausbildung aufzunehmen und möglichst gut zu beenden. Sie wollen einen qualifizierten Beruf ergreifen, um später ökonomisch und sozial selbständig zu sein. Der Anteil von Mädchen ausländischer Herkunft, der keine Berufsausbildung ergreifen will und von vornherein die Zukunft im familiären Bereich sieht, ist äußerst gering. Auf der anderen Seite bemüht sich ein Teil der Mädchen ausländischer Herkunft nicht um eine Ausbildungsstelle. Sie suchen deutlich weniger als deutsche Mädchen und als Jungen ausländischer Herkunft die Berufsberatung auf, ihr Berufsspektrum ist äußerst eng, sie sind weniger bereit, von ursprünglich

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geäußerten Berufswünschen abzugehen oder Rahmenbedingungen von Berufen zu akzeptieren, die mit ihren Vorstellungen nicht in Übereinklang zu bringen sind. Aber dennoch muß festgehalten werden, daß sich weitaus mehr Mädchen ausländischer Herkunft um eine berufliche Ausbildung bemühen als tatsächlich eine Ausbildungsstelle erreichen. Die durchschnittliche Anzahl der Bewerbungen ist nach der Untersuchung des Bundesinstitutes für Berufsbildung von 2,7 1979/80 auf 7,4 1990 (Jungen 8,7) gestiegen (Berufsbildungsbericht 1992, S. 119). Aber zu den eigenen Einschränkungen kommen die Barrieren auf dem Ausbildungsstellenmarkt hinzu.

Dies gilt insbesondere für Mädchen türkischer Herkunft: Arbeitgeber und Ausbilder haben sich ein Bild von türkischen Mädchen gemacht, das zwar teilweise den besonderen Bedingungen, unter denen diese leben, entspricht (z.B. der sozialen Kontrolle), teilweise aber unzulässig verallgemeinert. Häufig sind sie deshalb nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen bereit, türkische Mädchen einzustellen, weil sie Schwierigkeiten befürchten und sich diesem Risiko nicht ohne Grund aussetzen wollen. Mädchen türkischer Herkunft, die trotz Zusage eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle nicht antreten dürfen, die z.B. wegen einer Eheschließung, die dem Ausbilder unverständlich ist, die Ausbildung abbrechen, verstärken das Bild von der vom Vater und vom Ehemann abhängigen Frau. Solche Ereignisse werden verallgemeinert und mindern zusätzlich die Bereitschaft, Mädchen ausländischer Herkunft einzustellen. Bewerberinnen werden ohne Berücksichtigung ihrer individuellen Qualifikation und Lebensbedingungen abgelehnt. Im verstärkten Maße gilt dies für Mädchen türkischer Herkunft, die Kopftücher tragen.

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3. Hintergrundinformationen: Geschlechtsspezifische Bedingungen der Berufswahl

Grundsätzlich beruht der Berufswahlprozeß von Mädchen ausländischer Herkunft auf ähnlichen Abläufen und Überlegungen wie der der Jungen. Vereinfachend und damit notwendigerweise pauschalierend ausgedrückt basiert er auf einer hohen Bildungserwartung, auf fehlender exakter

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Kenntnis über das deutsche Schul- und Ausbildungssystem und auf einer Orientierung an einer späteren Berufstätigkeit im Herkunftsland. Für Mädchen kommen aber spezifische Überlegungen und Erschwernisse hinzu. Die nicht selten zu hörende Aussage, daß ausländische Eltern keinen Wert auf eine Schul- und Berufsausbildung ihrer Töchter legen, ist in dieser undifferenzierten Form oben schon zurückgewiesen worden. Alle bekannten Untersuchungen zu den beruflichen Wünschen ausländischer Eltern widersprechen dieser zunächst. Sie belegen, daß Eltern für ihre Töchter und Mädchen ausländischer Herkunft für sich selbst auf der Ebene der Einstellungen hohe Bildungserwartungen besitzen. Relativ viele Eltern sprechen sich für gleiche Ausbildungschancen für Jungen und Mädchen aus. Sie legen Wert darauf, daß die Töchter einen Schulabschluß erreichen. Auch türkische Eltern und Mädchen selbst geben einer beruflichen Bildung gerade für eine Frau hohe Bedeutung. Ähnliches gilt für portugiesische und griechische Familien. Auf der Grundlage unserer Erkenntnisse kann oberflächlichen Darstellungen und Interpretationen nicht zugestimmt werden, die aus der patriarchalisch strukturierten türkischen (oder sonstigen ausländischen) Familie, aus der Bevorzugung und dem größeren Freiraum der männlichen Jugendlichen ableiten, daß Bildung und Ausbildung der Mädchen grundsätzlich für weniger wichtig als die der männlichen Jugendlichen erachtet werden. Vor allem die weiblichen Jugendlichen selbst möchten Möglichkeiten zu einer qualifizierten Schul- und Berufsausbildung ergreifen. Viele Mädchen, aber auch einige Jungen weisen die Vorstellung zurück, daß es bestimmte Berufe gebe, die nur von Frauen oder Männern ausgeübt werden können. In der abstrakten Bewertung werden den Mädchen ähnliche Chancen und Möglichkeiten wie den Jungen zugesprochen.

Diese Orientierungen widersprechen allerdings den konkreten Maßnahmen und Freiheiten ausländischer Mädchen bei der Berufswahl: Sie bemühen sich häufig nicht um eine betriebliche Berufsausbildung, und noch weniger können oder dürfen sie eine Ausbildung aufnehmen. Außerdem wird ein äußerst enges Berufsspektrum bei Mädchen registriert, das ihnen und den Eltern praktisch erreichbar und faktisch ausübbar erscheint. Dies gilt selbst dann, wenn berücksichtigt wird, daß für weibliche Stellensuchende weitaus weniger Ausbildungsberufe (teils rechtlich, teils faktisch) zur Wahl stehen als für männliche und daß die Büroberufe

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in der Regel für Mädchen ausländischer Herkunft wegen nicht zureichender Sprachkenntnisse als Ausbildungsberufe nicht in Frage kommen.

Deutsche wie ausländische Mädchen, Hauptschülerinnen mehr als solche mit qualifizierterem Schulabschluß, legen zu einem erheblichen Teil geschlechtsspezifische Kriterien bei der konkreten Wahl ihres Berufes zugrunde. Die Einengung erfolgt aufgrund des Ausbildungsstellenmarktes, aber auch aufgrund der Orientierungen in den Familien. Vor allem, aber nicht ausschließlich für Mädchen türkischer Herkunft gilt, daß viele Berufe für die Familie nicht diskutabel sind, ja nicht einmal angesprochen werden können. Eine Ausbildung darf z.B. dann nicht angenommen werden, wenn der Betrieb nur nach einer längeren Fahrzeit zu erreichen ist, manchmal, wenn er nur drei Straßenzüge weiter oder in einem anderen Stadtteil liegt. Die Eltern greifen in manchen Fällen auch nach Volljährigkeit noch ein, wenn die Töchter Ansätze zur Verselbständigung erkennen lassen: Väter kündigen den Ausbildungsplatz und verheiraten die Tochter, ohne ihr die Chance zu geben, ihre Ausbildung zu beenden.

Beide Aussagen, die Ermittlung einer hohen Bildungsorientierung bei den Mädchen und den Eltern und die Beobachtung, daß sich Mädchen ausländischer Herkunft nicht genügend um eine Verwirklichung bemühen, ausländische Eltern ihre Töchter nicht selten von einer beruflichen Qualifizierung zurückhalten, wenn bestimmte Rahmenbedingungen nicht stimmen oder wenn andere Interessen (z.B. Heirat des Mädchens) es verlangen, stehen einander gegenüber. Die Hintergründe dieses scheinbaren Widerspruchs sollen hier nur für die Mädchen türkischer Herkunft dargestellt werden, aber es muß ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß es auch für andere Nationalitäten, insbesondere für die griechische und italienische, Hindernisse bei der Aufnahme des Berufes gibt (zu den Einzeldarstellungen s. Bundesanstalt für Arbeit 1993).

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Berufswahl von Mädchen türkischer Herkunft

Der Berufswahlprozeß von Mädchen türkischer Herkunft unterliegt -verglichen mit dem türkischer Jungen - zusätzlichen Einschränkungen. Ihm liegen andere Orientierungen zugrunde, die im Schwerpunkt zu den Selbstverständlichkeiten zählen, die von der Familie nicht ausdrücklich thematisiert werden. Diese erweisen sich jedoch als weitaus handlungsrelevanter als die abstrakt vertretenen egalitären Vorstellungen. Diese Orientierungen richten sich vor allem auf geschlechtsspezifische Kriterien von Berufen und auf den Stellenwert einer Berufsausbildung in der Lebensplanung einer Frau.

Neben den Kriterien, die für Jungen und Mädchen gelten, kann ein zweites Bündel von Kriterien ermittelt werden, das sich auf die Berufe von Frauen und Mädchen richtet:

  • Die Arbeit soll leicht sein, d.h. für eine Frau ausübbar und keine körperlich schweren oder anstrengenden Tätigkeiten verlangen.

  • Die Arbeit soll Lernen ermöglichen, das der Familie der Frau (vor allem dem späteren Ehemann und den Kindern) zugute kommt. Der Beruf der Schneiderin und der Lehrerin z.B. ermöglicht das Lernen von Tätigkeiten, die der Frau, auch wenn sie nicht berufstätig sein wird, bei der Ausübung ihrer familiären Aufgaben helfen. Nach dem Verständnis der türkischen Familie sind diese Berufe darüber hinaus geeignet, familiäre Verpflichtungen und Berufstätigkeiten zu verbinden, sei es aufgrund der Möglichkeit der Hausarbeit, sei es aufgrund der abgegrenzten Arbeitszeit. Der Beruf wird unter dem Gesichtspunkt des Strebens nach Sicherheit, Hilfe in Notzeiten oder des Geldverdienens neben der Familientätigkeit gewählt. Er wird nicht als Instrument zur Emanzipation der Frauen verstanden und nicht in Verbindung gebracht mit der Lösung des Mädchens aus dem Familienverband. Erleichtert wird demnach die Durchsetzung einer beruflichen Qualifizierung bei den Vätern, wenn sich die Vorstellungen im Hinblick auf die Ausbildung der Töchter auf traditionelle Fähigkeiten wie Nähen oder Frisieren richten. Dabei spielen auch die

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    Erfahrungen aus der Türkei eine Rolle, wo solche Tätigkeiten von Frauen häufig in Heimarbeit ausgeübt werden.

  • Der Beruf soll sauber sein. Sauberkeit wird im doppelten Sinne verstanden. Es soll eine Tätigkeit sein, die keinen Umgang mit Schmutz verlangt (wie z.B. Putzfrau), sondern bei der man saubere Hände behält (wie die Bankangestellte oder die Lehrerin). Es soll aber auch eine Arbeit sein, die es dem Mädchen oder der Frau erlaubt, moralisch "sauber" zu bleiben, also Tätigkeiten auszuüben, die keine außergewöhnlichen Arbeitszeiten (etwa in den Abendstunden) verlangen, keine unkontrollierten Kontakte mit Männern, keine Abwesenheit über Nacht von der Familie oder dem Ehemann. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß es sich nicht um eine Tätigkeit handeln darf, die die Ehre der Familie beeinträchtigen könnte. Diese Auffassung verweist stärker als andere in den Bereich der allgemeinen Situation und der Lebensbedingungen türkischer Mädchen in der Bundesrepublik Deutschland. Der Begriff der "Ehre" stellt eine zentrale Kategorie zum Verständnis dar. Außerdem darf der Beruf kein Verhalten von der Frau verlangen, das als unweiblich charakterisiert werden kann, wie z.B. auf ein Baugerüst klettern oder unter einem Wagen liegen. Zusätzlich darf es sich bei dem Beruf nicht um einen solchen handeln, den (auch) Frauen mit schlechtem Ruf innehaben. Die Ablehnung des Berufs der Kellnerin ist auf dieses Verständnis zurückzuführen.

  • Der Beruf muß erreichbar sein. Erreichbarkeit wird in den Dimensionen "inhaltlich qualitativ erreichbar", "zeitlich erreichbar" und "räumlich erreichbar" definiert. Dieses Kriterium dient zur Begründung von Berufszielen, die nach relativ kurzer Ausbildungszeit zu erreichen sind, da lange Ausbildungszeiten in Konkurrenz zu einem anderen Ziel, nämlich Heirat, treten könnten.

Die Berufswahl eines Mädchens türkischer Herkunft wird demnach durch Vorstellungen von der weiblichen Rolle bestimmt. Trotz grundsätzlich hoher Bildungsorientierungen auch im Hinblick auf die Töchter werden von einem Teil der Familien alle Berufe abgelehnt, die mit dieser Rolle in Konflikt zu stehen scheinen. Berufe, die die genannten Kri-

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terien nicht erfüllen, kommen für die Töchter nicht in Frage. Wenn es um konkrete Berufswahl geht, müssen es für eine Frau geeignete Tätigkeiten sein. Berufswahl ist immer geschlechtsspezifisch. Es spricht nichts dafür, daß von den Eltern Zwang auf die Mädchen ausgeübt wird, der sie zu der Wahl typischer Frauenberufe führt. Vielmehr sind die Vorstellungen der Eltern weitgehend in das Selbstbild der Mädchen aufgenommen worden. Selbst wenn die Mädchen, wie in vielen Befragungen und in Einzelgesprächen, Unterschiede zwischen Frauen- und Männerberufen auf der abstrakten Ebene ablehnen, kommen sie in der konkreten Situation, also in der Wahl für sich selbst, immer wieder auf Frauenberufe zurück.

Hinzu kommt, daß die Kriterien, die im gleichen Maß für Jungen wie für Mädchen gelten, sich für letztere stärker beeinträchtigend und einschränkend auswirken. Die Orientierung an der Rückkehr in die Türkei schränkt das Berufsspektrum auf die wenigen Tätigkeiten ein, die die Mädchen als verheiratete Frau in der Türkei ausüben können. Berufsausbildung wird darüber hinaus immer dem eigentlichen Lebensziel der Frau: Heirat und das Aufziehen von Kindern untergeordnet. Eine türkische Frau ohne Ehemann ist den Eltern (und den Mädchen türkischer Herkunft selbst) in vielen Fällen undenkbar; Heirat, meist in einem für unsere Vorstellung sehr jungen Alter, ist selbstverständlich. Die Berufsausbildung kann, sollte stattfinden, ist aber nicht existenznotwendig. Daher darf die Berufsausbildung eine Ehe nicht verhindern und im Konfliktfall wird die Heirat als wichtiger angesehen. Wenn das Mädchen verlobt ist, entscheiden nicht mehr die Eltern allein bzw. ihr Vater über ihre Lebensbedingungen und ihre berufliche wie private Zukunft, sondern in erster Linie die Schwiegereltern. Lehnen diese eine Berufsausbildung ab, werden die Mädchen und deren Eltern es akzeptieren. Dabei kann das Mädchen selbst mit den Schwiegereltern nicht über ihre berufliche und persönliche Zukunft verhandeln. Da die Heirat als das wichtigste Ziel angesehen wird, wird jedes Verhalten, das die Heiratschancen verhindern könnte, verworfen, und das ist immer dann der Fall, wenn sich das im Beruf geforderte Verhalten nicht mit der Vorstellung der türkischen Migranten vom Handeln einer türkischen Frau in Einklang bringen läßt.

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Dem türkischen Vater ist trotz grundsätzlich positiver Einstellung zu einer beruflichen Ausbildung seiner Tochter aus diesen Gründen das Ziel, seine Autorität und den guten Ruf der Tochter und damit den der Familie zu wahren, oftmals wichtiger als die Berufsausbildung. Die . Ausbildung ist für ihn im wesentlichen bedeutsam als Erhöhung der Heiratschancen (Mädchen mit besserer Bildung können einen Mann mit gehobenem Beruf beanspruchen) und im Hinblick auf den späteren wirtschaftlichen Nutzen im Herkunftsland. Die Orientierung am Herkunftsland läßt die Norm "Wahrung des guten Rufes" jedoch als das Wichtigste erscheinen, dem alle für den Aufenthalt in der Bundesrepublik geltenden Ziele weit untergeordnet werden. Eine Berufsausbildung der Tochter wie auch deren spätere Berufstätigkeit wird von den türkischen Eltern, vor allem den Vätern, dann abgelehnt, wenn die Gefahr besteht, daß die berufliche Tätigkeit der Frau die Aufrechterhaltung der Familienstrukturen erschwert. Bei auftretenden Konflikten werden berufliche Vorstellungen schnell zugunsten eines rollenkonformen weiblichen Verhaltens zurückgenommen, um die moralischen Werte, denen die Familie verpflichtet ist, nicht zu gefährden. Berufliche Vorstellungen als abstrakte Wünsche und Leitbilder wurden von den türkischen Eltern und von den Töchtern unter den Bedingungen der Wanderung geändert, sie finden aber keine Entsprechung in der Sozialisation. Die Erziehung zur Hausfrau, Ehefrau und Mutter ist hingegen selbstverständliches Element in der Erziehung der Töchter geblieben. Als Kinder werden die Mädchen zu Hausarbeiten herangezogen, früh wird von der Ehe und dem späteren Ehemann gesprochen, die direkte Kontrolle nimmt mit dem Alter der Mädchen zu. Gegen diese kulturellen Selbstverständlichkeiten, die für einen erheblichen Teil der Mädchen türkischer Herkunft hier gelten, gegen die alltägliche Orientierung in türkischen Familien, können sich berufliche Wünsche und Vorstellungen nur durchsetzen, wenn sie mit geschlechtsspezifischen Vorstellungen der türkischen Eltern in Einklang zu bringen sind. Dieses bedeutet vor allem, daß die Rahmenbedingungen der beruflichen Ausbildung so sind, daß der Ruf des Mädchens nicht gefährdet wird.

Diese Aussagen gelten für einen erheblichen Teil der Mädchen türkischer Herkunft, aber nicht für alle. Es gibt familiäre Ordnungen und Selbstverständlichkeiten, die den Übergang in eine Ausbildung oder zu-

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mindest in frauenspezifische Berufe verhindern, es gibt aber auch Formen geschlechts- und/oder nationalitätenspezifischer Benachteiligung und Diskriminierung auf dem Ausbildungsstellenmarkt und Erschwernisse durch eine nicht adäquate Beratung. Erfahrungen mit Mädchen türkischer Herkunft, die eine Ausbildung aufgenommen und teilweise abgeschlossen haben, belegen (so Hahn 1991, S. 245 ff.):

  • Auch Mädchen im "heiratsfähigen" Alter von 18 und mehr Jahren können die Einwilligung der Eltern für die Aufnahme einer mehrjährigen Ausbildung finden;

  • Mädchen türkischer Herkunft, die es schaffen, eine Ausbildungsstelle in ihrem Wunschberuf zu erhalten - nicht selten nach Widerständen auch seitens der Lehrer und der Berufsberatung, wobei letztere dem Bildungsstand angemessenere und leichter realisierbare Berufe vorschlägt - sind in der Ausbildung erfolgreich und werden oftmals auch von ihren Familien unterstützt. Den Wunschberuf lernen und ausüben zu können, stellt eine enorme Motivation dar, die Ausbildung auch bei äußeren Schwierigkeiten in Schule, Familie oder Umwelt durchzuhalten. Umgekehrt führt die Ausbildung in einem eigentlich nicht gewünschten, nur aus Verlegenheit aufgenommenen Beruf dazu, daß die Stelle bei äußeren Schwierigkeiten schnell aufgegeben wird.

  • Es gibt auch in türkischen Familien verschiedene Faktoren, die in der Berufswahl der Tochter wirksam werden und die von dem vorne geschilderten Muster abweichen können. Solche Faktoren sind z.B. (nach Hahn 1991, S. 249) die Wertvorstellungen und Überzeugungen der Eltern, die konkrete Familiensituation (materielle Ressourcen und Notwendigkeiten der Mithilfe im Haushalt) und die Überzeugungs- und Durchsetzungsfähigkeit des Mädchens. Die Vorstellungen der Eltern zum Ausbildungsberuf alleine sind nicht ausschlaggebend; sie müssen im Zusammenhang mit den anderen Faktoren gesehen werden.

  • Die einzelnen Kriterien wie Vereinbarkeit mit der Rolle der Frau, Verwertbarkeit in der Türkei können bei manchen Familien und bei

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    manchen Mädchen zurücktreten hinter dem Anspruch, auf jeden Fall eine Ausbildung zu machen. Stets muß die Gesamtsituation des Mädchens und der Familie gesehen werden.

  • Manchmal vermögen es die Mädchen im Verlauf der Ausbildung, den notwendigen Spielraum auszuhandeln; so finden sie z.B. die Akzeptanz der Eltern für eine bis in den Abend reichende Arbeitszeit, für die Teilnahme an mehrtägigen Seminaren oder für den Umgang mit nackten Menschen, z.B. als Arzthelferin oder Krankenschwester (s. dazu Hahn 1991, S. 252).

Einschränkungen bei der Berufswahl, so belegt eine Auflistung nach Nationalitäten, gibt es nicht für Mädchen türkischer Herkunft. Geschlechtsspezifische Sozialisation und die Orientierung an der Frauenrolle schaffen Barrieren, aber mindestens ebenso hohe bewirken die Lebensbedingungen als ausländische Frau in Deutschland. Es gilt, Spielräume wahrzunehmen und in der beruflichen Orientierung und Beratung aufzugreifen und eventuell sogar zu erweitern.

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4.Hinweise für die Beratung junger Ausländerinnen

Es ist vorauszusehen, daß sich die Situation von Mädchen ausländischer Herkunft bis in die 90er Jahre eher verschlechtern als verbessern wird. Neben der Situation als Ausländerin spielen die Entwicklung des Arbeitsmarktes für Frauen und innerfamiliäre Konflikte eine Rolle. Vor allen Dingen aber wird die Diskrepanz zwischen den Berufswünschen der Mädchen auf der einen und dem Angebot an Ausbildungsstellen, die den Zugang zu zukunftsträchtigen Berufen eröffnen auf der anderen Seite, ohne besondere Mühe von Seiten der Beratungspersonen, insbesondere der Berufsberater und Lehrer, nicht zu überwinden sein. Es gilt, sowohl die Berufsorientierung und die Berufsberatung im Hinblick auf das Ziel, das Berufsspektrum der Mädchen zu erweitern, zu effektivieren, die Voraussetzungen der jungen Ausländerinnen für die Aufnahme eines von ihnen gewünschten Berufes zu verbessern als auch die Betriebe zu einer Änderung ihrer Vormeinungen gegenüber nicht völlig angepaßten ausländischen Mädchen zu bewegen.

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Die Darstellung der Situation und der Schwierigkeiten Mädchen ausländischer Herkunft soll nicht dazu führen, resignativ zu verharren und die Meinung zu vertreten, angesichts der vielschichtigen und großen Barrieren könne nichts getan werden. Es gilt vielmehr, bei Kenntnis der spezifischen Bedingungen den vorhandenen Handlungsspielraum zu nutzen. Es gibt eine hohe Bildungsmotivation der ausländischen Eltern, die durch Informationen und durch für sie akzeptable Angebote an Ausbildungsstellen zu nutzen ist. Unter Umständen ist es auch bei Mädchen italienischer und sogar bei türkischer Herkunft möglich, daß der Hochzeitstermin bis nach der Beendigung der Ausbildung zurückgestellt wird, wenn solche Überlegungen in die Beratungssituation einbezogen werden. Spielräume müssen erkannt und genutzt werden, um die Situation der Mädchen zu verbessern. In dem Handbuch der Bundesanstalt für Arbeit werden konkrete Vorschläge gemacht (s. Bundesanstalt für Arbeit 1993).

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Literaturhinweise

Berufsbildungsbericht, hg. vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Bad Honnef 1989 ff.

Boos-Nünning, U.: Berufswahl türkischer Jugendlicher, Entwicklung einer Konzeption für die Berufsberatung. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 121, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1989.

Boos-Nünning, U.,A. Jäger, R. Henscheid, W. Sieber, H. Becker: Berufswahlsituation und Berufswahlprozesse griechischer, italienischer und portugiesischer Jugendlicher, Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 140, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg 1990.

Bösselmann-Meyer, K., M. Ehrke, Dr. Horlitz: Junge Türkinnen beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf. Ergebnisse von Gruppendiskussionen, in: Ehrke, M. (Hrsg.): Interkulturelle Berufsausbildung. Positionen und Erfahrungen, Berlin 1989, S. 203-237.

Bundesanstalt für Arbeit (Hrsg.): Jugendliche ausländischer Herkunft vor der Berufswahl. Handbuch für die Berufsberatung, Wiesbaden 1993.

Hahn, R.: "Hier läuft ja nichts ohne Abschluß". Ausbildungsverfahren von Mädchen aus der Türkei - Einige Ergebnisse einer Untersuchung in West-Berlin, in: Deutsch lernen 3,1990, S. 242-263.

[Seite der Druckausg.: 51]

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Nieke, W., U. Boos-Nünning (Hrsg.): Ausländische Jugendliche in der Berufsausbildung. Auf dem Weg zur Chancengleichheit?, Opladen 1991.

Schweikert, K., unter Mitarbeit von B. Dresbach: Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher. Zwischenbericht zum BIBB-Forschungsprojekt 1.503 "Berufsbildungssituation ausländischer Jugendlicher", hektografiertes Manuskript, Berlin 1991.

Yakut, A., H. Reich, U. Neumann, U. Boos-Nünning: Zwischen Elternhaus und Arbeitsamt: Türkische Jugendliche suchen einen Beruf, Berlin 1986.

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[Seite der Druckausg.: 52 = Leerseite]


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