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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 21]
Drei Jahre nach der Wende, zwei Jahre nach der Vereinigung ist die wirtschaftliche, soziale, politische und geistige Situation in Ostdeutschland bei weitem nicht so, wie sie von zahlreichen Politikern und anderen Vertretern des öffentlichen Lebens ausgemalt, prognostiziert und von einer großen Mehrheit der Bevölkerung erhofft und erwünscht worden ist. Ein massiver Stimmungswandel hat die Menschen erfaßt, der ihre großen Unsicherheiten, Zweifel, Unklarheiten in Bezug auf die privaten Lebensperspektiven ebenso wie auf künftige gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt reflektiert. Sie fragen immer skeptischer: Wohin treiben wir eigentlich bis zum Jahre 2000 und danach? Darauf gibt es heute kaum zufriedenstellende, überzeugende Antworten. In diese sensibilisierte Stimmungslage platzen die schockierenden Exzesse von Hoyerswerda, von Rostock, der Brandanschlag in der Gedenkstätte Sachsenhausen, dazu über 1.000 rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten geringeren Ausmaßes gegen Personen, meist gegen Ausländer, allein schon in diesem Jahr (bis September 1992). Zwei Drittel davon allerdings in den alten Bundesländern. Wie konnte das geschehen? Was geht in den Köpfen der Menschen, besonders der jüngeren Altersgruppen, vor? Wie groß und bedrohlich sind hier im Osten die solchen Aktionen zugrundeliegenden Bewußtseinspotentiale, die entsprechenden Einstellungen, Motivationen, Handlungsbereitschaften? Auf welche Gegenkräfte kann man bauen? Wie sind sie zu aktivieren? Die Zunahme von Rechtsextremismus, Gewalt, Kriminalität, von Parteien- und Staatsverdrossenheit, von Intoleranz, Haß, Aggressionen gegen Andersartige (Ausländer, Juden) und Andersdenkende, von Erfahrungen und Gefühlen der sozialen Benachteiligung und Deklassierung ist heute eine Realität im vereinten Deutschland, besonders stark ausgeprägt in den neuen Ländern. Wundern wir uns noch, wenn man immer häufiger bei jüngeren wie auch bei älteren Auslän- [Seite der Druckausg.: 22] derInnen und Ausländern aber auch bei Deutschen die resignierende Meinung hört: Am liebsten würde ich auswandern! Die Ablehnung "der Deutschen" steigt auch im Ausland an. Diese Lagebeschreibung ist sehr allgemein. Ich will versuchen, sie mit Ergebnissen unserer Jugendstudien zu konkretisieren und zu stützen. Dabei beziehe ich mich hauptsächlich auf zwei Untersuchungen unter Schülern und Lehrlingen in Sachsen sowie Sachsen-Anhalt (vgl. Tabelle 1 bis 3). Teilweise wird aber auch auf frühere Ergebnisse der DDR-Jugendforschung Bezug genommen sowie auf eine für Gesamtdeutschland repräsentative Jugendstudie vom Sommer 1991. Unsere letzte Untersuchung wurde im April 1992 bei 3.800 14- bis 18jährigen durchgeführt und bezog sich auf folgende Schwerpunkte:
Hier kann also lediglich über Ergebnisse von Einstellungs-, von Bewußtseinsforschungen berichtet werden, nicht über direkte Beobachtungen und Analysen der rechtsradikalen Szene, etwa über deren Aktionen oder Gruppenverhalten. Die Relativität solcher Befragungen ist gut bekannt und soll ausdrücklich betont werden. Empirische Analysen komplexer sozialpsychologischer Gegenstände erfordern stets den Einsatz verschiedener Verfahren, quantitativer wie qualitativer. Einige Untersuchungen des ehemaligen Leipziger Jugendforschungsinstitutes belegen:
Obgleich sie immer häufiger und nachdrücklicher ihr Desinteresse an der offiziellen Politik betonen, sind sie in Wirklichkeit keineswegs politisch uninteressiert. Allerdings sind die Themen und Formen ihres politischen Engagements im Alltag oft ganz andere als die Parteien dies in herkömmlicher Weise von ihnen erwarten. Gegenwärtige Politik die mit Parteien, Parteienstreit, Lebensferne und dogmatischer Pragmatik sowie mit negativen Stereotypen über Politiker assoziiert wird das ist nicht ihre Welt, das läßt sie zunehmend kalt. [Seite der Druckausg.: 25] Daß dies so ist, liegt nicht an den Jugendlichen, sondern an den Parteien, die deren Nerv heute nicht mehr treffen, deren Lebensprobleme und Lebensgefühle, Alltagssorgen zu wenig berücksichtigen. Läuft die Jugend den politischen Parteien davon, weil beide Seiten die veränderte Welt, besonders die Lebenswelt der jungen Ostdeutschen, zunehmend divergent wahrnehmen und interpretieren? Die jungen Leute suchen daher eine politisch-weltanschauliche Orientierung, einen haltgebenden Standpunkt jenseits der offiziellen Politik der Parteien. Sie mischen sich von außen ein, agieren quasi als Außenstehende. Dafür bietet sich das Links-Rechts-Spektrum an, das zur politischen Positionierung und Identitätsbildung von ihnen erstaunlich häufig genutzt wird. Hier vollzieht sich gegenwärtig häufig ein höchst bedeutsamer Prozeß der Profilierung des politisch-weltanschaulichen Standpunktes und Bewußtseins unter Jugendlichen, der allerdings von der Öffentlichkeit bisher kaum beachtet wird. Das wird sich ändern müssen. Heute betrachtet sich etwa jeder 4. junge Sachse als Linker (positioniert sich links von der Mitte) und etwa jeder 5. als Rechter (rechts von der Mitte). Jüngere Jugendliche (Schüler der 8. bis 10. Klassen und Lehrlinge) neigen jedoch bedeutend häufiger zu rechten und weniger zu linken Positionen als ältere. Die Zahl der Jugendlichen, die sich mit linken oder rechten Positionen identifizieren, steigt weiter an. Das belegt eindeutig der Vergleich zwischen 1990 und 1992. Linke und rechte Positionen werden 1992 aber nicht nur häufiger, sondern auch entschiedener, Effektiver, radikaler vertreten als noch vor zwei Jahren. In unserer Zeit ist ein Polarisierungstrend zwischen linken und rechten Positionen, eine Verschärfung der politisch-ideologischen Gegensätze, der zunehmenden Antipathie, von Haß und Gewalttätigkeit gegenüber der anderen Seite klar zu erkennen. Wir haben es hier offenbar mit extrem gegensätzlichen Strömungen zu tun, die zweifellos eine hohe soziale Sprengkraft besitzen und weiter akkumulieren. Die Vertreter beider Seiten werden immer allergischer gegen die andere Seite, immer anfälliger für populistische Anschauungen, Losungen und auch sensibler für zufällige Ereignisse. Sie werden immer weniger beeinflußbar, steuerbar für die Parteien und andere Institutionen, oft auch unzugänglicher für [Seite der Druckausg.: 26] rationale Argumentationen. Wenn Affekte zunehmen, eskaliert irrationales Denken. Bemerkungen über Ursachen dieser sozialen/mentalen Erscheinungen und Trends Derartig schnelle und massive Veränderungsprozesse bei der rechtsextremen Orientierung, der Fremdenfeindlichkeit, der Parteienverdrossenheit, der affektiven Stimmungslage und des aggressiven Verhaltens im Alltag, wie sie in letzter Zeit unter ostdeutschen Jugendlichen beobachtet werden, weisen auf fundamentale Wandlungsprozesse der Gesellschaft hin, können nur daraus eine Erklärung finden. Mentalitätswandlungen dieser Art können nicht aus jugendspezifischen Bedingungskonstellationen abgeleitet werden. Sie sind ja auch nicht nur auf jüngere Jahrgänge begrenzt. Die Jugend wächst stets in einer von den Erwachsenen, von älteren Generationen "produzierten" Welt heran, reagiert auf deren Existenzbedingungen, Lebensweise, Lebensprobleme. Wenn 13-14jährige Jugendliche heute verstärkt zu Fremdenhaß, Gewalt, rechtsextremen Ideologien neigen, dann tun sie das doch nicht "aus sich heraus" oder wegen plötzlich veränderter pubertärer Antriebe, sondern weil ihre soziale und kulturell-geistige Umwelt anders geworden ist. Deshalb möchte ich kurz auf einige Faktoren der sehr komplexen Bedingungsstruktur hinweisen, die zunächst mehr das Leben, Denken und Werten der erwachsenen Bevölkerung in Ostdeutschland charakterisieren:
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ist der mobilisierende Gegenentwurf jenseits von rechts und böse? Fest steht, die Menschen sind dann aktiv, optimistisch, selbstsicher, weniger leicht von extremistischen Ideologien verführbar, wenn sie an die Zukunftsfähigkeit ihres Gesellschaftssystems glauben, wenn sie es als überlegen, progressiv, auf der Siegerstraße sehen. Dies ist ein wichtiges Element des Zeitgeistes. Wenn eine solche Überzeugung schwindet, beeinträchtigt das die Lebensgrundstimmung der Menschen. Stichwortartig sollen einige der Faktoren genannt werden, die massenhaft wirksam sind und Frustrationskomplexe auslösen können:
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Arbeitslosenzahl 18%, in Ostdeutschland 1992 mehr als das doppelte, einschließlich der verdeckten Formen. Die Menschen sind dem Arbeitsmarkt ausgeliefert, ältere haben meist nur sehr geringe Chancen einer Wiederbeschäftigung. Ein sozialer und beruflicher Abstieg hat Millionen betroffen. [Seite der Druckausg.: 29]
im Vergleich zu früher völlig verändert. Die Kommunikation wird auf sachliche Informationen beschränkt. Der andere wird mehr und mehr als potentieller Rivale betrachtet. Egoistisches, rücksichtsloses Konkurrenzverhalten breitet sich aus, worunter viele leiden. Auch in der Familie kommt es teilweise zu einem Verlust von emotionalen Tiefenbindungen zwischen den Partnern, besonders oft zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern. Dies sind einige der sozialen Faktoren und Lebensbereiche, die das gegenwärtige hohe Problem- und Konfliktpotential, das Stimmungstief, die typischen Urteils- und Verhaltensmuster im Alltag, in der öffentlichen Meinung erzeugen und dadurch die Mentalität großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung stark beeinflussen. Eine bedeutende "soziale Allergie" breitet sich aus, regt auf, macht reizbar, führt zu heftigen aggressiven Reaktionen. Doch wird bekanntlich durch solche Lebensbedingungen nicht automatisch Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, nationalistische/rassistische Mentalität determiniert. Die Menschen können auf gleiche Problem- und Konfliktlagen sehr unterschiedlich reagieren:
Das gilt für Jung und Alt allerdings mit spezifischen Besonderheiten. Spätestens an dieser Stelle ist zu fragen, ob diese sehr verkürzte und pragmatische Beschreibung der typischen sozialen Probleme in den neuen Bundesländern überhaupt für die Jugendlichen, vor allem für die 14- bis 18jährigen Schüler und Lehrlinge charakteristisch ist. [Seite der Druckausg.: 30] Sie sind doch eigentlich (noch) gar nicht direkt Betroffene der Misere auf dem Arbeitsmarkt, des sozialen Abstiegs, sind kaum unmittelbare Verlierer der Einheit wie Alte und viele Frauen, sie wachsen viel leichter in die neue Lebenswelt hinein etc. Das trifft für 16- bis 20jährige, aber noch viel mehr für 12- bis 15jährige zu. Trotzdem ist Fremdenfeindlichkeit, das rechtsextreme Einstellungs- und Verhaltenssyndrom gerade bei ganz jungen Menschen sehr stark, stärker als bei über 20jährigen verbreitet. Offenbar spielt bei Jugendlichen aber auch bei vielen Älteren die unmittelbare Betroffenheit, die reale individuelle Lebenslage häufig keine so wesentliche Rolle. Entscheidend sind dann vielfach andere, das Bewußtsein und Verhalten vermittelt prägende Einflüsse, vor allem Urteils- und Wertungsmuster, Denkklischees der öffentlichen Meinung, soziale Stimmungen, soziale Klimata in der gesellschaftlichen Umwelt, in den verschiedensten lokalen, schichten- und gruppenabhängigen Lebenswelten, vor allem in den speziellen Mikromilieus. Die wichtigsten Multiplikatoren dieser vermittelten Erfahrungen (Stimmungen, Wertungen, Stereotypen, andere Faktoren der öffentlichen Meinung) sind Familienmitglieder, weitere Bezugspersonen im Alltag, insbesondere Freunde und Freizeitgruppen, auch Medienereignisse. Selektiv ausgewählte Medienberichte besitzen bekanntlich eine bedeutende Verstärkerfunktion für die Entwicklung des Bewußtseins und Verhaltens. Wenn es zutrifft, was durch unsere Untersuchungen wie auch durch zahlreiche Alltagsbeobachtungen, etwa von Lehrern, erneut belegt wird, daß sich Schüler der 8. und 9. Klassen bereits in der Häufigkeit wie in den typischen Bewußtseinsstrukturen von älteren Rechts- und Linksorientierten kaum unterscheiden, so dürfte das von großer praktischer Bedeutung sein. Dann müßte den 12- bis 15jährigen Heranwachsenden eine viel größere Aufmerksamkeit als bisher geschenkt werden: in der Schule, in der Familie und vor allem bei der Gestaltung ihrer Freizeit. Dann müßte dies die strategische Zielgruppe bei den Präventivmaßnahmen sein. Mit 15 Jahren oder später wäre, so gesehen, präventiv nicht mehr viel zu erreichen. Die rechtsextremen Einstellungs- und Verhaltensstrukturen haben sich ja dann schon überwiegend herausgebildet und verfestigt. So wäre in diesem Alter eher Therapie gefordert, womit andere Herangehensweisen der Bildung, Erziehung und Lebensgestaltung notwendig sind. Die ständig wachsenden Zahlen von Gewalttaten im Alltag sowie die Ergebnisse unserer Forschungen und andere Beobachtungen lassen befürchten, daß rechts-extreme Orientierungen und Verhaltensweisen, einschließlich gewalttätiger Ak- [Seite der Druckausg.: 31] tionen bei jugendlichen Gruppierungen, in nächster Zeit weiter eskalieren werden. Soziale Krisenzeiten und Konfliktlagen führen stets zu einer schnellen Polarisierung des politischen Denkens und der politischen Kräfte sowie zum damit verbundenen Anwachsen von Haß und Gewalt. Solche Aktionen werden sich künftig vermutlich nicht nur gegen Ausländer richten, obwohl diese Hauptzielscheibe der Aggressionen bleiben werden. Sie werden sich verstärkt gegen die andere Seite wenden, also gegen Linke, Rote, vielleicht zunehmend gegen Liberale, Demokraten, die öffentlich Widerspruch und Widerstand gegen Rechtsextreme leisten. Vieles deutet darauf hin, daß Haß, Auseinandersetzungen, Kämpfe zwischen Rechten und Linken, besonders zwischen den extrem rechts und links Eingestellten anwachsen werden. Es könnte auch sein, daß sich Haß und Aggressionen bald verstärkt gegen Polizisten und andere Ordnungskräfte entladen. Sollte diese Entwicklung eintreten, wäre tatsächlich ein Vergleich mit der politischen Spannungssituation Ende der 20er Jahre in vieler Hinsicht realistisch. In jedem Fall sollte die gegenwärtige Lage mit dem Blick auf solche künftig möglichen Entwicklungsprozesse betrachtet werden. Das stellt eine große Herausforderung für die Sozial-, Jugend-, Bildungspolitik, für die politische Bildung in allen Lebensbereichen der Jugend dar und kann gewiß nicht nur mit gutgemeinten Verbalerklärungen von Politikern oder mit ein paar Millionen DM bewältigt werden. Die folgenden drei Tabellen beziehen sich auf Ergebnisse der Jugendstudie 92. Befragt wurden 14- bis 18jährige aus den Ländern Sachsen und Sachsen-Anhalt
[Fn_1: Ausführliche Informationen über unsere Forschungsergebnisse befinden sich in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitschrift "Das Parlament" B 38/92. Peter Förster, Walter Friedrich: Politische Einstellungen und Grundpositionen Jugendlicher in Ostdeutschland, S. 3-15. [Seite der Druckausg.: 32]
Anhang Die folgenden Tabellen beziehen sich auf Ergebnisse der Jugendstudie 1992. Befragt wurden 14- bis 18jährige aus den Ländern Sachsen und Sachsen-Anhalt.
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[Seite der Druckausg.: 34]
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