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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 7]



Wilhelm Heitmeyer
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt bei Jugendlichen




I. Unzureichende Erklärungsansätze

Fremdenfeindlichkeit und Gewalt sind keine besonderen Zeichen für Jugendliche. Dies liegt schon allein daran, daß sich Jugendliche in ihrer Sozialisation nur mit Bedingungen auseinandersetzen, die ihnen Erwachsene bereitstellen oder zumuten. Weder Fremdenfeindlichkeit noch Gewalt sind deshalb als Eigenschaft von Personen zu begreifen, sondern als Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt und ihren Strukturen, die auch z.T. Gewaltstrukturen sind, in denen gewalttätig gehandelt wird, wie z.B. in Familien. Fremdenfeindlichkeit und Gewalt sind auch Ergebnis der Auseinandersetzung mit politischen Legitimationen und Positionen, die über Medien etc. transportiert werden.

Eine solche Auffassung macht also Gegenpositionen sichtbar zu besonders beliebten Erklärungen, um dann ein eigenes Erklärungsmuster deutlich zu machen. Nun ist ganz offensichtlich, daß diejenigen Erklärungen, die am weitestgehenden die Probleme erklären, die politisch unbeliebtesten sind. Beliebt sind dagegen solche Erklärungen, die Fremdenfeindlichkeit aus den Mechanismen der Entstehung herauslösen und auf individuelle Personen und anthropologische Grundkonstanten reduzieren. Die Beliebtheit steigt noch weiter an, wenn man dann auch noch leibhaftiger Fremdenfeinde habhaft werden kann, um sich so dann in entsprechender Pose von ihnen distanzieren zu können. Diese Reduzierung auf Fremdenfeinde ist gewissermaßen das seitenverkehrte Bild der Fremdenfeindlichkeit und weist ein entsprechend vereinfachtes Schema auf. So wie die Fremdenfeinde die Fremden ausschließen wollen, um die Probleme zu beseitigen, so einfach wollen zahlreiche politische Interessenten die Fremdenfeinde einschließen – im wahrsten Sinne des Wortes. Dies sind dann bestenfalls Verschleierungen von Ursachen.

Zu diesen beliebten Erklärungen, die pikanterweise besonders auch im Rechtsextremismus gepflegt werden, möchte ich kurz Stellung nehmen.

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  1. Die erste Erklärung ist biologistisch angelegt und wird in der Verhaltensbiologie gepflegt. Danach wird Fremdenangst angeboren. Als Belege dienen Kleinkinder. Nun ist aber zurecht darauf hingewiesen worden, daß bei biologistischen Ansätzen es universalistischer Belege bedarf, d.h. Belege, die immer und überall gelten. Davon kann aber keine Rede sein, daß diese zu finden sind. Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, daß Fremdheitsgefühle etwas völlig Normales darstellen. Stellen Sie sich vor, sie kommen in ein Lokal und viele Tische sind frei, nur an einem Tisch sitzen zwei Personen. Genau an diesem Tisch nehmen Sie Platz. Es treten befremdliche Gefühle auf, weil es der eingelebten Kultur widerspricht – nicht mehr und nicht weniger. Oder ein anderes Beispiel: Kinder ganz unterschiedlicher ethnischer Herkunft spielen in der Regel im Kindergarten und anderswo ganz selbstverständlich miteinander. Sie streicheln sich, sie streiten sich, sie vertragen sich. Nimmt man einige von ihnen zur Seite und fragt sie nach Fremden, nach Negern, nach Türken, dann tauchen sehr schnell die entsprechenden negativen Stereotypen auf. Die kulturellen Einübungen durch die Erwachsenen beginnen zu wirken. Würde man daraus die politische Konsequenz ziehen, so müßte die Botschaft lauten: Da daran nichts zu ändern ist, müssen die Fremden raus.

  2. Eine zweite Erklärung nenne ich Schwellenmodell. Darin wird zur Erklärung die Zahl der Fremden herangezogen. Dabei spielt der Begriff der "Pferchungstoleranz" eine zentrale Rolle. Wird eine Toleranzschwelle überschritten, dann, so die Behauptung, kommt es zur Gewalt gegen Fremde. Auch diese Erklärung kommt aus verhaltensbiologischer Tradition und wird bereits vielfach übernommen. So behauptet ein prominenter Kriminologe, daß dann, wenn die 10%-Grenze überschritten sei, die Bevölkerung rebellisch würde. Es verschlägt einem den Atem, woher der Herr dies weiß. Es gibt keinen Beleg für objektive Kriterien. Wenn dies so wäre, dann müßte es in Frankfurt, mit einem Anteil von 25%, einen regelrechten Krieg geben. Dagegen dürften in Rosenheim, wo es kaum Ausländer gibt, die sogenannten "Republikaner" mit ihren fremdenfeindlichen Positionen nicht 20% der Stimmen bei Kommunalwahlen erhalten. Und eine Erklärung der Fremdenfeindlichkeit mit Hilfe des Schwellenmodells in Ostdeutschland dürfte bei einem Anteil von z.T. unter 1% etwas schwerfallen.

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    Nun läßt sich nicht bestreiten, daß Enge, sei es in Wohnungen oder anderswo, schnell zu Konflikten führen kann. Aber dies ist nicht auf die ethnische Zugehörigkeit der in dieser Dichte lebenden Menschen zurückzuführen, sondern ist unabhängig davon, d.h. auch bei Menschen gleicher ethnischer Herkunft tritt dies auf. Bestenfalls wäre die ethnische Herkunft ein Verstärker, aber nicht die Ursache selbst. Auch bei dieser politisch z.T. offenen, z.T. unter der Hand gehandelten Erklärung ist die Konsequenz klar: Ausländer raus.

    Man könnte weitere Erklärungen solcher Güte heranziehen. Ich will es dabei belassen, aber noch einmal auf einige problematische Punkte hinweisen. Indem man Fremdenfeindlichkeit psychologisiert, trägt man dazu bei, den Blick nur auf die personelle Ebene zu lenken. Dabei muß man nicht einmal die bereits genannten Konsequenzen teilen, sondern kann auch auf die scheinbar moderate Variante springen, die nicht weniger gefährlich ist. Sie lautet: Wir müssen die Einstellungen der Leute ändern, aber bitte nur nicht die Ursachen für die Entstehung der Einstellungen verändern, denn das wäre mit politischen Kosten verbunden. Dies ist eine besonders subtile wie brutale Form der Instrumentalisierung von Fremden. Man tut so, als ob man was tue – und liefert im Grunde Fremde aus.

    Ich bevorzuge nun ein sozialisationstheoretisches Erklärungsmodell, in dem strukturelle Faktoren und individuelles Verhalten zusammen betrachtet werden, um zu erklären, wie es zu fremdenfeindlichen und gewaltakzeptierenden Positionen bei Jugendlichen kommt, die sich z.T. miteinander verbinden und erst dann rechtsextremistische Konturen annehmen.



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II. Grundelemente des Rechtsextremismus

Wenn ich nun von Rechtsextremismus spreche, dann unterscheide ich zwei Grundelemente:

Da sind zunächst Ideologien der Ungleichheit, in denen die Ungleichwertigkeit von Menschen und die Forderungen nach Ungleichbehandlung enthalten sind. Nationalismen, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus finden hier ihren Platz. Dieses Grundelement enthält also Orientierungen zur Interpretation der gesell-

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schaftlichen Realität. Diese politischen Orientierungen sind deshalb ideologisch – und ich verwende die Negativform von Ideologie – indem sie die Realität zum Zwecke des eigenen Machterwerbs verzerrt wiedergeben.

Das zweite Grundelement ist Gewaltakzeptanz mit ihren Dimensionen der Gewaltbilligung, Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit. Dieses Grundelement basiert auf der Grundannahme, daß letztlich alle Vorgänge in der Natur und in der Gesellschaft über Gewalt geregelt werden, d.h. daß Gewalt als normale Aktionsform legitim sei. Das zweite Element enthält also die Handlungsform. Erst wenn beide Elemente zusammenfließen, spreche ich von Rechtsextremismus. Wenn die Deutung heutiger Vorgänge durch Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus und mit entsprechenden Perspektiven für heutiges Handeln versehen sind, ist dies Neonazismus.

Eine solche Vorgehensweise hat gleich mehrere Vorteile:

  1. Sie ermöglicht die Unterscheidung unterschiedlicher Zugangsweisen von Jugendlichen in das politische Terrain:

    • Der klassische Weg wäre der, daß die ideologischen Positionen attraktiv sind. Der Einzelne ist überzeugt von der Stimmigkeit der Ideologien der Ungleichheit. Dann bekommt Gewaltakzeptanz die Funktion der Durchsetzung im politisch zielgerichteten Sinne.

    • Der zweite Weg ist m.E. sehr viel häufiger zu finden. Er führt über die Gewaltakzeptanz als Mittel zur Dokumentation von Stärke und Durchsetzung oder auch der Anschlußsuche und des Statuserwerbs. Dann bekommen Ideologien der Ungleichheit die Funktion der Legitimation von Gewalt.

    Die jeweiligen Zugänge haben weitreichende Konsequenzen, denn die sehr schnellen Etikettierungen haben bei den Jugendlichen mit dem zweiten Zugangsweg weitreichende Konsequenzen. Etiketten haben ja häufig die fatale Wirkung, daß sich die so Etikettierten erst im Nachhinein in ihrem realen Verhalten den Etiketten, und d.h. den damit verbundenen Erwartungen anpassen. Und dann setzt sich ein Selbstlauf in Gang: Die Etikettierten spüren, daß sie dadurch Gewinn erzielen. Mit Neonazis beschrieben zu werden, er-

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    höht den eigenen Machtzuwachs, weil gleichzeitig wahrgenommen wird, daß bei jenen, die das Etikett verwenden, immer auch die Angst mitschwingt.

  2. Der zweite Vorteil einer differenzierten Vorgehensweise liegt darin, daß die geschlechtsspezifische Situation differenzierter wahrgenommen wird; denn rechtsextremistische Orientierungen sind beileibe nicht nur ein Männerproblem. Betrachtet man diese Frage unter dem Blickwinkel unterschiedlicher Formen der politischen Beteiligung, dann zeigt sich folgendes Bild: Je weiter man sich vom konventionellen politischen Verhalten, also der Mitgliedschaft in Organisationen entfernt und zunächst Wahlentscheidungen und dann die Alltagsorientierungen z.B. gegenüber Fremden in der Straßenbahn, an der Ladenkasse und im Wartezimmer des Arztes betrachtet, desto kleiner ist im "Strang" der Ideologien der Ungleichheit die Geschlechterdifferenz. Größer ist der Unterschied im Bereich der Gewaltbereitschaft und selbstverständlich in der Gewalttätigkeit. Die Funktion von Mädchen und Frauen ist vor allem die des "Resonanzraumes", gewissermaßen zur Legitimation des männlichen Verhaltens.

  3. Ein weiterer Vorteil liegt darin, daß man die Verengung auf die Mitgliedschaft in formellen Organisationen und Parteien vermeidet. In einer Zeit, in der die Distanz von Jugendlichen gegenüber Institutionen jeder Art immer größer wird, also auch die politische Sozialisation und die Freizeit jenseits von Institutionen stattfindet, ist es ein Unding, immer noch auf den alten Kriterien zu beharren. Indem wir uns frühzeitig davon getrennt haben, war weder die Verjüngung der Szene noch die Verlagerung in informelle Gruppen eine Überraschung, während das Bundeskriminalamt oder der Verfassungsschutz immer noch von Zuordnungsschwierigkeiten etc. sprechen, weil das Phänomen so "neu" sei.

    Aus dieser Differenzierung läßt sich erkennen, daß es wichtig ist, genau hinzusehen, welche Funktionen sowohl die Ideologien der Ungleichheit bzw. der Gewaltakzeptanz haben. Zum zweiten ist es wichtig, genauer die Prozesse zu betrachten, die – und das ist mein zentraler Ansatzpunkt – immer aus der gesellschaftlichen Normalität heraus entstehen, und zwar im Zusammenwirken von strukturellen Bedingungen und subjektiven Verarbeitungen. Insofern ist auch nicht viel von diesen "Haufentheorien" zu halten, deren Vertreter meinen, man müsse nur alle schlimmen Bedingungen addieren und schon hätte man Erklärungen.

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III. Allgemeine Erklärungsversuche

Ich komme deshalb jetzt zu meinem dritten zentralen Punkt, zu Erklärungsversuchen. Dazu muß ich eine Vorbemerkung einfügen, denn ich soll als Westdeutscher nach Erklärungen suchen für Prozesse, die in der ostdeutschen Gesellschaft ablaufen. Dieses bereitet mir erhebliche Probleme, weil ich mir nicht sicher bin, ob meine Deutungen und Annahmen über die ostdeutsche Gesellschaft zutreffen. Insofern will ich weder Gewißheiten noch Wahrheiten, sondern nur Deutungsangebote vorstellen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Dies betone ich deshalb so ausdrücklich, weil mir vieles unklar ist, während ich gleichzeitig immer wieder mit Erstaunen erlebe, wie ungeheuer viele Schnelluntersuchungen vor allem mit den unseligen Ost-West-Vergleichen aus dem Boden schießen, die dann aber in der Regel nur immer wieder neue Prozent-Angaben zu irgend etwas produzieren, aber an Erklärungen wenig hergeben, sondern sich statt dessen trefflich zur politischen Instrumentalisierung eignen.

Ich werde jetzt folgendermaßen vorgehen: Ich will versuchen, auf einige Entstehungsprozesse in der westdeutschen individualisierten Gesellschaft einzugehen, um zu zeigen, aus welcher gesellschaftsstrukturellen Normalität heraus ich die Entstehungsprozesse erkläre. Danach werde ich auf einige strukturelle Bedingungen der ehemaligen formierten DDR-Gesellschaft kurz eingehen und die Bedingungen zu markieren versuchen, die m.E. maßgeblich für die Erklärung der ostdeutschen Entwicklung heranzuziehen sind. In diese Bedingungen sind dann wiederum die Entstehungsprozesse, die ich für die westdeutsche Seite annehme, gewissermaßen "einzubauen". Diese etwas kompliziert erscheinende Beschreibung ist aber der Sachlage angemessen, denn einige Entstehungsmomente sind nur aus den spezifischen Bedingungen einer bestimmten Gesellschaft zu sehen, andere sind gesellschaftsunspezifisch, d.h. laufen in ähnlicher Weise so auch in anderen Gesellschaften ab.

Zunächst ist es notwendig, sich mit den rigorosen, auf Hochtouren gebrachten Modernisierungsprozessen zu beschäftigen. Bei diesen Modernisierungsprozessen wird gnadenlos eindimensional gedacht: Mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Brüderlichkeit usw. Bei genauerem Hinsehen – und leider hat Karl Marx, der Dialektiker, dies nicht getan – zeigt sich, daß diese Modernisierungsprozesse dialektisch ablaufen:

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  • Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit;
  • je weniger Gleichheit, desto mehr Konkurrenz;
  • je mehr Konkurrenz, desto weniger Solidarität;
  • je weniger Solidarität, desto mehr Vereinzelung;
  • je mehr Vereinzelung, desto weniger soziale Einbindung;
  • je weniger soziale Einbindung, desto mehr rücksichtslose Durchsetzung.

In diese Qualität von Modernisierungsprozessen sind nun Individualisierungsprozesse eingelagert. Deren Kennzeichen ist – grob verkürzt – ein Doppelgesicht. Einerseits werden dem einzelnen immer mehr Handlungsmöglichkeiten angeboten, andererseits wird der einzelne immer mehr aus sozialen Zusammenhängen herausgelöst. Lebensläufe stellen sich nicht mehr quasi von selbst her, sondern müssen von einzelnen selbst hergestellt werden. Das Aufwachsen in einer enttraditionalisierten Welt enthält neue Chancen, aber auch Verhängnisse. Gleichzeitig lassen sich auch in der Jugendphase zahlreiche gesellschaftlich hergestellte Widersprüche ausmachen, die aber von Jugendlichen – und dies führt oft in Dilemmata hinein – individuell gelöst werden sollen. Dadurch wird die Entwicklung einer eigenständigen, möglichst konsistenten Identität zusehens komplizierter und störanfälliger. Diese Konstellation kann dann zu Problemen führen, wenn sich bei Jugendlichen der Eindruck festsetzt, daß sie die Kontrolle über ihre eigenen Wege verlieren, da sie Vereinzelungserfahrungen, Handlungsunsicherheit im Hinblick auf die angestrebte berufliche Normalbiographie und Ohnmachtserfahrungen nicht bewältigen zu können glauben.

Dies sind zunächst zentrale ökonomisch-soziale Alltagserfahrungen, die viele betreffen. Wie werden sie nun bearbeitet? Ich will an drei zentralen Ausschnitten aufzeigen, wie

  1. ökonomisch-soziale Alltagserfahrungen auf gesellschaftlich erzeugten Problemlagen basieren;
  2. diese subjektiv verarbeitet werden und politisches Umformungspotential freisetzen, so daß
  3. Anknüpfungsmöglichkeiten für rechtsextremistische Konzepte entstehen.


  1. Handlungsunsicherheiten können zurückgeführt werden auf die Auflösung der beruflichen Normalbiographie, auf Statusverunsicherungen und auf die

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    Entstrukturierung der Lebensphase Jugend. Dies sind gesellschaftlich erzeugte Problemlagen, die dazu führen, daß die Berechenbarkeit von Lebenswegen sinkt. Damit steigt der Zwang, sich flexibel verhalten zu müssen. Jugendliche können daher heute mehr entscheiden als frühere Jugendgenerationen, sie müssen aber auch mehr entscheiden, ohne daß es klar ist, woraufhin sie entscheiden sollen. Notwendig wird vor allem eine Form des flexiblen Umgangs, eine Bastelmentalität, um mit diesen Anforderungen fertig zu werden. Gleichzeitig sind die Jugendlichen auch gezwungen, vieles "unter Vorbehalt" zu tun. Orientierungen und Handlungsweisen dürfen sich nicht festsetzen, weil dadurch ein flexibles Reagieren auf schnell wechselnde gesellschaftliche Angebote der Kulturindustrie wie Anforderungen des Berufssystems behindert würde.

    Ein Teil der Jugendlichen versucht nun, den Umgang mit diesen unübersichtlichen Situationen zu regeln, indem nach Gewißheiten gesucht wird, um Verhaltenssicherheit zu erlangen. Gewißheitssuche ist also das subjektive Verarbeitungsergebnis und Kernstück des politischen Umformungspotentials. Zu diesen Gewißheiten gehört auch der Bezug auf eindeutige Normanweisungen; gehört die Totalidentifikation mit Stärke verheißenden Symbolen und Ritualen; auch die Einordnung in "natürliche" Hierarchien und die Zugehörigkeit zu mächtigen Institutionen, in deren Schutz dann Stärke und Selbstbewußtsein entwickelt werden sollen. Vor allem gehört auch die Anbindung an scheinbar natürliche und damit unabänderliche Prinzipien dazu, die die Situation klären und z.T. den einzelnen entlasten sollen. Dazu gehört auch das Prinzip der "Stärke", als klares und "klärendes" Prinzip.

    Das politische Problempotential besteht darin, daß Politikkonzepte besondere Anknüpfungspunkte finden, die soziale Vorurteile gegenüber jenen artikulieren, die angeblich den jeweils eigenen Status bedrohen. Es sind jene erfolgreich, die versprechen, die "alte Ordnung" (was immer das sein mag) wiederherzustellen, so daß Statusängste gemindert werden. Fremdenfeindlichkeit kann hier als ein politisches Mittel greifen, wenn "natürliche" Vorrechte und Hierarchien als politischer Ansatz "sinnhaft" erscheinen, um Stabilität (wieder)herzustellen. Der Ansatzpunkt liegt darin, nicht bearbeitete ökonomisch-sozial verursachte Entfremdungsangst in Überfremdungsangst umzuwandeln.

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  2. Ohnmachtserfahrungen können darauf zurückgeführt werden, daß sich die Konkurrenzbedingungen als übermächtig erweisen und den Vereinzelten der Erfahrung "Der Stärkere setzt sich durch" ausliefern. Dies sind wiederum gesellschaftlich erzeugte Problemlagen. Da Ohnmachtserfahrungen die Handlungsalternativen zur Realisierung eigener Lebensplanungen einengen, kann Gewalt in ihren vielfältigen Variationen zu einem subjektiv sinnhaften Mittel oder auch Selbstzweck werden.

    Gewaltakzeptanz bzw. Einverständnis mit Gewalt ist dann ein subjektiv attraktives Verarbeitungsergebnis, denn

    • sie schafft Eindeutigkeit in unklaren, unübersichtlichen Situationen;
    • sie ist eine zumindest augenblicklich wirkende (Selbst-)Demonstration der Überwindung von Ohnmacht;
    • sie garantiert die Wahrnehmung durch andere, die mit kommunikativen Mitteln nicht mehr herstellbar war;
    • sie schafft zumindest kurzfristig partielle Solidarität bzw. erweist sich als klar erkennbarer Prüfstein für Solidarität;
    • sie erweist sich aufgrund von Sozialisationserfahrungen als ein erfolgreiches Handlungsmodell.

    Die Tendenz des einzelnen, möglichst zur Mehrheit gehören zu wollen, öffnet politischen Honorationen große Spielräume. Diese werden umso größer, je höher sie im Hierarchiegefüge stehen, um für eine Mehrheit sprechen zu können. Insofern ist z.B. die Äußerung eines Innenministers, daß man eine "durchrasste Gesellschaft" nicht zulassen werde, katastrophal. Dabei ist es für die Wirkung völlig unerheblich, daß diese Äußerung später irgendwie zurückgenommen wird. Die Wirkung ist da – und wird durch die Rücknahme sogar noch verstärkt bei jenen, die quasi auf solche Äußerungen gewartet haben. Denn es wirkt jetzt ein Wahrnehmungsmechanismus, der uns allen zu schaffen macht: Wir glauben das, was wir sehen. Leider sehen wir nur das, was wir glauben wollen. Im Falle der obigen Äußerung wird die Rücknahme umgedeutet in einen Beleg für die schon immer geäußerte Position, daß die Ausländer zuviel Macht und Einfluß haben. Man kann diesen Umstand auch auf andere Phänomene wie z.B. den Antisemitismus beziehen. In jedem Fall ist dies eine heimtückische Form von Gewalt, weil sie die Integrität von Fremden in Gefahr bringt.

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    Gewaltakzeptanz ist hier Kernstück des politischen Umformungspotentials zwecks vermeintlicher Wiedergewinnung von Kontrolle über Lebenswege, Sozialräume etc. Da Gewalt als Mittel besonders "starke" Begründungen benötigt, besteht die Gefahr, daß nach solchen politischen Konzepten gesucht wird, die einsichtig die Gewalt legitimieren. Dazu bieten sich rechtsextremistische Konzepte an.

    Das politische Problempotential liegt darin, daß Politikkonzepte Anknüpfungspunkte finden, wenn sie darauf setzen, die alltägliche Erfahrung "Der Stärkere setzt sich durch" umzuformen in die politische Maxime "Der Stärkere soll sich durchsetzen". Diese Umformung gelingt umso leichter, je "normalisierter" in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit eine Ideologie der Ungleichheit ist, mit deren Hilfe subtile und offene Formen von Gewalt gegenüber macht- und rechtlosen Fremden oder auch Andersdenkenden legitimiert werden können.

  3. Vereinzelungserfahrungen lassen sich zurückführen auf die Auflösung sozialer Milieus, so daß die selbstverständliche Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, die insbesondere in krisenhaften und orientierungsbedürftigen Zeiten mit hohem Flexibilitätsdruck auch Stabilität verleihen kann, nicht mehr umstandslos gegeben ist. Dies sind wiederum gesellschaftlich erzeugte Problemlagen. Wenn aber unklar ist, zu welchen sozialen Gruppierungen man sich dauerhaft zugehörig fühlen kann, dann gewinnen jene Gruppierungskategorien an Bedeutung, die gewissermaßen zugewiesene Naturmerkmale sind oder als solche verstanden werden. Das subjektive Verarbeitungsergebnis dieser alltäglichen Erfahrung ist dann diese Suche nach "neuen", anderen Gruppierungsmöglichkeiten. Damit sind vor allem die Hautfarbe, "Rasse" und Nation gemeint. Dies sind Zugehörigkeiten, die einem keiner nehmen und derer man sich kaum entledigen kann, die unabhängig von individuellen Leistungs- und Konkurrenzprinzipien gültig sind. Die im Alltag zerschmolzenen Erfahrungen von selbstverständlicher Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit sollen also ersetzt werden durch Zusammengehörigkeitsgefühle zur Nation. Nationale Stimmungen sollen als Bindemittel dafür dienen, was als Erfahrung im nahen Lebensraum nicht mehr bzw. immer weniger erreichbar scheint. Das politische Umformungspotential von alltäglicher Erfahrung in politische Orientierung liegt also hier in der Suche nach umstandsloser, leistungsunabhängiger Zugehörigkeit.

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    Das politische Problempotential liegt vor allem darin, daß Politikkonzepte besondere Anknüpfungspunkte finden, die Gemeinschaftsgefühle über nationalisierende Positionen propagieren und damit gleichzeitig Ungleichheitsvorstellungen transportieren.



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IV. Besondere Situation in den neuen Bundesländern

Diese Prozesse müßten jetzt auf die Bedingungen in einer formierten Gesellschaft der ehemaligen DDR gespiegelt werden. Tut man dies, dann sind die Vorgänge überhaupt kein Wunder.

  1. Die historischen Quellen liegen darin, daß der Antifaschismus in der ehemaligen DDR im Grunde keine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte war, sondern einen ritualisierten Umgang mit der Geschichte darstellte, der wohl völlig äußerlich blieb. Wenn man per se zu den Siegern zählt, ist kritische Auseinandersetzung überflüssig.

  2. Die Hauptquellen liegen sicherlich in den DDR-speziellen Ursachen des Aufwachsens und Lebens in autoritären und repressiven Verhältnissen. Solches Aufwachsen ist immer in hohem Maße mit Minderwertigkeitsgefühlen und Verletzungen verbunden, wenn dies nicht durch Nischen aufgefangen wird. Hinzu kam noch, daß das mit einer Erziehung zu einfachen Freund-Feind-Bildern verbunden war, die auf die "System"-Abgrenzung bezogen war. In solchen Verhältnissen kann der einzelne solange sozial unauffällig leben, solange er sich in klar strukturierten Situationen befindet. Er "funktioniert", ohne selbst unter einem persönlichen Leidensdruck zu stehen. Jede Abweichung von diesem normalen Muster löst jedoch massive Ängste und Verunsicherung aus, wenn also Verhältnisse unübersichtlich werden, wenn vor allem der Alltag fremd wird. Heutige Veränderungen, zumal abrupte Einbrüche von Lebenszusammenhängen, bringen verstärkt Handlungsunsicherheit in beruflicher Hinsicht, Ohnmachtserfahrungen etwa in neuen Konkurrenzsituationen und Vereinzelungserfahrungen durch Auflösung von familiären Milieus oder Firmenzusammenhängen hervor. Diese Erfahrungen müssen nun verarbeitet werden. Aber auf dem Hintergrund der Erfahrungen in der formierten autoritären Gesellschaft.

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  3. Die dritte Quelle gehört nicht zu den Ursachen, sondern leistet eher einen Beitrag zur Eskalation. Auf zwei Umstände muß dabei hingewiesen werden. Zum einen trägt es zur Eskalation bei, wenn westdeutsche Politik massiv nur nach ökonomischen Gesichtspunkten an der Zerstörung von Lebenszusammenhängen mitwirkt. Dies betrifft vor allem auch die Schließung von Betrieben. Sie hatten im DDR-Alltag eine größere sozial integrierende Wirkung als in Westdeutschland. Deshalb bedeutet ihre Schließung auch mehr als Arbeitsplatzverlust, was für sich genommen schon schlimm ist.

    Zum zweiten trägt die demonstrative Überlegenheit von Westdeutschen erheblich dazu bei, daß eine Entwicklung zu mehr Selbstbewußtsein erheblich behindert wird, um souverän und ohne den Hang zu Schuldverschiebungen auf Fremde mit den Problemen fertig zu werden. Denn so entsteht die Neigung, daß individuelle Unterlegenheitsgefühle gewissermaßen in "deutsche" Überlegenheitsgefühle umgebogen werden. Dies läßt sich dort am besten dokumentieren, wo man in jedem Fall dann Sieger ist: deshalb überfallen einige Gruppen, etwa der Skins, besonders gern einzelne Fremde oder in jedem Fall Unterlegene.

Was zeichnet die Gewaltszene aus?

Es ist auffällig, daß im Vergleich mit Auseinandersetzungen in Westdeutschland eine sehr viel größere Brutalität auftritt, Gewalt also entgrenzt zu sein scheint. Woher kommt diese Entgrenzung?

Je stärker autoritäre Erziehung und staatliche Repression auftreten, die nicht in sozialen "Nischen" abgefedert werden können, desto weniger kann sich Eigenverantwortlichkeit entwickeln.

Fallen dann noch Alltagserfahrungen und offizielle Darstellung auseinander, ergeben sich brisante Situationen, die zu Interpretationsleistungen und "Balanceakten" herausfordern, denen gerade autoritär disponierte Personen nicht gewachsen sind und deren innerer Leidensdruck immer mehr steigt. Wenn dann diese Außensteuerung und Außenkontrolle entfallen, sind kaum verinnerlichte Orientierungsmarken, wie z.B. sinnhafte moralische Positionen, glaubwürdige Positionen etc. vorhanden. Es tritt eine anomische Situation ein, d.h. Norm-

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und Regellosigkeit, so daß Gewalt freien Lauf erhält, wenn Angst und Verunsicherung erfahren werden.

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V. Arbeit – ein Mittel gegen Rechtsextremismus?

Nun wird ja immer wieder behauptet, daß das beste Mittel gegen Rechtsextremismus die Integration in den Arbeitsbereich sei. Dies ist so einfach nicht, denn in unserer Langzeituntersuchung zeigt sich ganz deutlich, daß dies eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung darstellt. Denn wenn trotz formaler Integration nur instrumentalistische Arbeitsorientierungen wie "Kohle machen", Karriere oder auch nur Sicherheit vorhanden waren, zeigten sich große Auffälligkeiten, wenn diese Orientierungen in Gefahr geraten. Es fehlten sachlich-inhaltliche Arbeitsorientierungen, um aus der Tätigkeit selbst für sich Sinn zu entwickeln. Deshalb ist auch zu warnen vor den Erfolgsmeldungen, die eine rechnerische Ausgeglichenheit von Angebot und Nachfrage aufzeigen, um von der Lösung des Ausbildungsstellenproblems zu sprechen.

So hat man Mitte der 80er Jahre in Westdeutschland auch argumentiert – und ein politisches Inkubationsproblem entstehen lassen, was zeitversetzt aufbricht. Denn man hat Jugendliche instrumentalisiert. Dies könnte sich in Ostdeutschland wiederholen, wenn dort Berufsmöglichkeiten wieder eingegrenzt werden. Diesmal nicht durch staatliche Zuweisung, sondern durch kapitalistische Mangelzuweisung. Außerdem: noch so gutgemeinte Sondermaßnahmen sind kein Ersatz für eine gewünschte Normalausbildung. Sondermaßnahme bleibt Sondermaßnahme und erzeugt Statusprobleme in der Gruppe der Altersgleichen. Und diejenigen, die auf bessere Zeiten warten wollen, geraten in eine biographische Ungleichzeitigkeit hinein im Vergleich zu den Altersgleichen, die wiederum Status verleihen. Um dort wieder mithalten zu können, muß man auf instrumentalistische Arbeitsorientierungen umschalten, um den Vorsprung über "schnelle Kohle" aufzuholen.

Hier lagert gefährliches Potential, was nicht einfach mit dem Schlachtruf "Hauptsache Arbeit", "Hauptsache von der Straße weg" beseitigt wird. Es entsteht erst wieder durch die verkürzte Sicht und mündet in einen "materiellen Nationalismus", der sich normalisiert und gleichzeitig abkoppelt von einem "völkischen Nationalismus" alter Prägung. Deshalb haben neonazistische

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Gruppen immer weniger Chancen, zunächst in Westdeutschland , während in Ostdeutschland aufgrund von Modernisierungsrückständen die Chancen vorübergehend besser scheinen. Das wird sich ändern. Aber damit ist das Problem nicht vom Tisch, den es ist nur ein Formenwandel des Rechtsextremismus, der sich parallel zu gesellschaftlicher Modernisierung herstellt. M.E. ist der Neonazismus eine historisch überholte Variante des Rechtsextremismus. Weitaus gefährlicher ist der "materielle Nationalismus", weil er in der gesellschaftlichen Normalität lagert und weitgehend sozial akzeptiert ist. Wenn dies nicht so wäre, müßten ansonsten intensive Überlegungen zu Veränderungen der Ursachen im Gange sein.

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VI. Fazit

Ich befürchte, daß wir weiterhin ungerührt an den verschiedensten Stellen an sozialen, beruflichen oder politischen Desintegrationsprozessen mitstricken. Sie bringen Gewalt hervor, denn wenn sich soziale Verantwortung und Einbindung auflöst, müssen die Folgen des eigenen Handelns für andere nicht berücksichtigt werden. Schon gar nicht gegenüber jenen, mit denen ohnehin instrumentalistisch umgegangen wird - und dazu gehören die Fremden. Die Gewaltschwelle sinkt. Wenn die selbstverständliche soziale Zugehörigkeit und Akzeptanz soweit aufgelöst ist, daß nur noch die Gewißheit übrig bleibt, Deutscher zu sein, dann bekommt Gewalt eine Richtung.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 2001

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