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TEILDOKUMENT:

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Friedrich Heckmann
Nationalstaat, multikulturelle Gesellschaft und ethnische Minderheitenpolitik


1. Nationalstaat und ethnische Minderheitenpolitik

In der internationalen wissenschaftlichen Diskussion über Nation und Nationalstaat läßt sich - bei allen sonstigen Unterschieden und Gegensätzen - immer wieder eine Differenzierung in einen ethnischen und, auf der anderen Seite, einen politischen Nations- und Nationalstaatsbegriff feststellen. Wir werden im folgenden zeigen, daß zur Erklärung relevanter Unterschiede in der Minderheitenpolitik von Staaten die Unterscheidung eines ethnischen und eines politischen Nations- und Nationalstaatskonzepts sinnvoll ist.

1.1 Der ethnisch begründete Nationalstaat und Minderheitenpolitik

Der ethnisch begründete Nationalstaat, den wir am Beispiel Deutschlands diskutieren, beruht auf der politischen Ideologie des ethnischen Nationalismus. (Nationalismus wird hier nicht als kritischer Begriff eines überzogenen Nationalgefühls, sondern als Kategorie für eine politische und soziale Bewegung verstanden.) Der ethnische Nationalismus strebt ethnische Gemeinsamkeit als Fundament staatlicher Organisation an; ethnische und staatliche Grenzen sollen übereinstimmen.

Der ethnische Nationsbegriff definiert Nation als Volk mit "eigenem" Staat. Für das Verständnis des ethnischen Nations- und Nationalstaatsbegriffs ist also der Volksbegriff zentral. Nachdem der Volksbegriff bis in die Aufklärung ein abwertender Begriff gewesen war, erfuhr er unter dem Einfluß Herders eine dramatische Aufwertung und "Nobilierung" (vgl. Schönemann 1989, S. 279). "Volk" wurde zu "Urvolk", zu einer ursprünglichen, "natürlichen", auf Abstammung beruhenden kulturellen und politischen Gemeinschaft (vgl. Heller 1963, S. 162). "Volk" wurde zum kollektiven Subjekt des Geschichtsprozesses und die Menschheit als in Völker gegliedert begriffen. Dieses kollektive Subjekt habe eine bestimmte Individualität und Persönlichkeit und sei durch einen spezifischen "Volksgeist" ausgezeichnet. Das Volk als Geschichtssubjekt begründet

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dann unter bestimmten Bedingungen "seinen" Staat, z.B. durch Zusammenschluß mehrerer kleinerer Staaten oder durch Herauslösung aus einem Staatsverband, und wird zur Nation; der resultierende Staat wird zum Nationalstaat.

Im ethnischen Nationalismus wird Ethnizität nicht nur zum Konstituierungsprinzip des neuen Staats, sondern auch für ethnische Minderheiten. Die Norm, Nationalstaaten als kulturell möglichst homogene Gebilde zu etablieren, macht die im Sinne der Nationalkultur heterogenen Gruppen, die im Staatsgebiet leben, zu ethnischen Minderheiten. Der "ethnische Nationalstaat" ist nicht nur ein allgemeines Legitimationsmuster staatlicher Organisation, sondern ein Prinzip, das praktische und konkrete Politik gegenüber ethnischen Minderheiten in verschiedenen Bereichen bestimmt. Wir wollen das an den Bereichen Akkulturation-Assimilierung, Staatsangehörigkeit und Einbürgerung sowie Fragen der politischen Partizipation aufzeigen.

Die Mehrzahl der auf der Welt existierenden Nationalstaaten hat Bevölkerungen, die ethnisch heterogen sind. Für den ethnischen Nationalstaat, der ethnische Homogenität anstrebt, sind im Staatsgebiet lebende ethnische Minderheiten ein Störfaktor, der die "nationale Einheit" bedroht. Durch Assimilierungspolitik versucht der Staat die nationale Einheit herzustellen und die ethnischen Minderheiten als separate Gruppen aufzulösen. Das Deutsche Reich von 1871 praktizierte z.B. in Schleswig-Holstein anti-dänische Politik und wollte seine polnischen Bewohner germanisieren; auch die Weimarer Republik erkannte zwar ethnische Minderheitenrechte in der Verfassung an, aber Erlasse und Verordnungen zum Minderheitenschutz, z.B. im Schulwesen und in der Verwaltung, blieben vage oder fehlten ganz.

Man sollte von einer Tendenz zur Assimilierungspolitik sprechen, die im ethnischen Nationalstaat "angelegt" ist, d.h. konkrete ethnische Nationalstaaten können durch Verträge, auf der Basis weiterer Wertvorstellungen oder politischer Leitbilder und Interessenlagen den ethnischen Minderheiten durchaus bestimmte kulturelle Rechte geben, aber diese müssen dem Staat gewissermaßen "abgerungen" werden.

Die ethnische Definition des Nationalstaates liegt auch dem deutschen Konzept von Staatsangehörigkeit und Staatsangehörigkeitspolitik zugrunde. Da sich die Nation als Abstammungsgemeinschaft mit gemeinsamer Kultur und Geschichte

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begreift, werden auch die Zugehörigkeit zu dieser Nation und die rechtliche Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen, die Staatsangehörigkeit, eng aneinander gebunden. Die Konsequenzen dieses Prinzips sind sehr weitgehend und bedeuten:

  • Die Nachkommen von deutschen Staatsbürgern gelten ebenfalls als deutsche Staatsbürger, selbst wenn sie - aus unterschiedlichen Gründen - die Rechte als Staatsbürger nicht wahrnehmen können [Fn_1: Dies war bis vor kurzem für die Bürger der ehemaligen DDR als größter von diesem Grundsatz betroffener Gruppe der Fall.];

  • Deutsche im ethnischen Sinn, vor allem also deutsche Minderheiten in verschiedenen Staaten Osteuropas, sind deutschen Staatsbürgern fast gleichgestellt; kommen sie als "Aussiedler" in die Bundesrepublik, wird ihnen die Staatsbürgerschaft zuerkannt;

  • die Aufnahme in eine solche, sich als Abstammungs- und Kulturgemeinschaft verstehende Nation ist schwierig bzw. kann nur als Ausnahme begriffen werden, d.h. Einbürgerungen, von Nicht-Deutschen sind ein Vorgang, bei dem hohe Hürden zu überspringen sind.

Als weitere Implikation der engen Verknüpfung von ethnischer und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit ergibt sich in bezug auf die politischen Rechte von Einwandererminderheiten, daß der Satz "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" ethnisch eingeengt wird; da politische Wahlrechte, wie erst ganz kürzlich durch das Bundesverfassungsgericht entschieden, auf Staatsbürger begrenzt sind, Staatsbürgerschaft und ethnische Zugehörigkeit aneinander gebunden sind, wird die Migrantenbevölkerung, die ihre Lebensperspektive in der Bundesrepublik hat, aber in ihrer ganz großen Mehrheit ohne deutsche Staatsbürgerschaft ist, von demokratischen Beteiligungsrechten ausgeschlossen. In der Wirklichkeit heißt das vor allem: ein beträchtlicher Teil der Arbeiterschaft, in manchen Großstädten bis zu 20 %, ist ohne Wahlrecht auch auf der untersten Stufe, ist politisch ausgeschlossen. Das erinnert am Ende des 20. Jahrhunderts an Verhältnisse des 19. Jahrhunderts.

Die Hindernisse bei der Einbürgerung, die in der "Logik" des ethnischen Nationalstaates liegen, der Ausschluß vom Wahlrecht und die Regelung der wesentlichen Statusfragen über ein Ausländerrecht begründen insgesamt einen

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Ausländerstatus, der ein Bürger 2. Klasse ist [Fn_2: Mit weiteren relevanten internen Differenzen innerhalb der ausländischen Bevölkerung, z.B. zwischen EG-Angehörigen und Nicht-EG-Angehörigen, könnte man auch von Bürgern 3. oder 4. Klasse sprechen.].
Dieser Ausländerstatus wird auf solche "Inländer" übertragen, die als Kinder von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland geboren werden.

Die Beziehung des ethnischen Nationalstaats zu ethnischen Minderheiten zusammenfassend ließe sich resümieren: der ethnische Nationalstaat empfindet ethnische Minderheiten als Problem, als Verletzung seiner Staatsidee, ein Problem, das entweder durch Assimilierung und/oder Kontrolle der fremden Minderheiten gelöst werden muß.

1.2 Demotisch-unitarisches Nationskonzept und ethnische Minderheiten

Von dem gerade dargestellten ethnischen Nations- und Nationalstaatskonzept läßt sich eine politische Nationalstaatskonzeption unterscheiden. Politische Nationskonzepte begreifen Gemeinsamkeit, "Gemeinschaft" und Solidarität in der Nation als politisch begründet: die Gemeinsamkeiten von Wertvorstellungen, Institutionen und politischen Überzeugungen, und nicht eine gemeinsame "Abstammung" machen eine Nation aus. Als politische, nicht-ethnische Nationsbegriffe unterscheiden wir ein demotisch-unitarisches und ein ethnisch-plurales Konzept. Ich werde hier ausschließlich auf das demotisch-unitarische eingehen, da es für Deutschland eine größere Bedeutung hat.

"Volk" ist politisch zunächst eine Kategorie der Aufklärung und bürgerlichen Revolution, die die Quelle politischer Legitimation bezeichnet. Das Volk, und nicht der Fürst oder religiöse Instanzen, begründen legitime politische Herrschaft. "Volk" ist in diesem Sinne ein nicht-ethnisches, politisches und rechtliches Konzept, entwickelt gegen die Lehre von der Souveränität der Fürsten. Es bezeichnet eine politische Gemeinschaft, die die Quelle politischer Legitimation ist. Wie Francis mehrmals betont, ließen sich viele Konfusionen vermeiden, wenn man deutlicher zwischen ethnischem und politischem Volksbegriff, zwischen "ethnos" und "demos" unterscheiden würde (vgl. Francis 1965 und Lepsius 1986).

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"Nation" ist historisch nicht eine makrogesellschaftliche Einheit, sondern ebenfalls ein innergesellschaftlicher, politischer Begriff, der zentrale Konfliktlinien im vorrevolutionären und revolutionären Frankreich bezeichnet:

  • Zwischen der französischen Aristokratie und dem absoluten König; "Nation" zu sein, wird von der Aristokratie gegen den König in ihrem Bestreben reklamiert, legitime Herrschaft zu beanspruchen (vgl. Schönemann 1989, S. 281);

  • in der französischen Revolution verkörpert "Nation" den Legitimationsanspruch des "Dritten Standes" auf politische Herrschaft in der Gesamtgesellschaft gegen die feudalen Kräfte.

"Nation" ist also ein innergesellschaftlicher Begriff, nicht ein Begriff, der Außenbegrenzungen des Staates meint.

Die Legitimität und das Funktionieren des neuen demokratischen Systems erforderte, daß die Bürger eine Einheit bilden sollten und unterstellt einen "allgemeinen Willen". Es schien deswegen das Recht und sogar die Pflicht des neuen Nationalstaates, alle Partikularismen, einschließlich ethnischer, einzuebnen und die Homogenisierung der Staatsbevölkerung, die der absolutistische Staat begonnen hatte, fortzusetzen und zu vollenden.

Faßt man vorhergehende Analysen zum demotisch-unitarischen Nationalstaat in bezug auf seine Haltung gegenüber ethnischen Minderheiten zusammen, läßt sich ausführen: im demotischen Nationalstaat ist aufgrund seiner zentralen Staatsideen eine Vereinheitlichungs- und Assimilierungstendenz "angelegt", die ethnische Vielfalt prinzipiell als problematisch erscheinen läßt. Hier besteht also, aus verschiedenen Gründen, eine Übereinstimmung zwischen ethnischem und demotisch-unitarischem Nationalstaat.

Aber es bestehen auch, auf der anderen Seite, relevante, für praktische und konkrete Politik folgenreiche Unterschiede, vor allem für die Politik gegenüber Einwandererminderheiten. Da sich der demotische Nationalstaat in seiner Legitimation nicht auf ethnische Abstammung beruft, ist er "offener" für Zuwanderer, zumindest in einem rechtlichen Sinne. Das Einbürgerungsrecht in Frankreich ist z.B. auf der Linie dieser Prinzipien eines der offensten in Europa. Diese Offenheit zeigt sich insbesondere

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  • an der Einfachheit und Leichtigkeit der Einbürgerung,

  • dem Institut der Erklärungseinbürgerung, die bestimmten Personengruppen auf ihren Wunsch die Staatsbürgerschaft verleiht, ohne daß der Staat das verhindern könnte, und

  • an den "automatischen" oder "halb-automatischen" Mechanismen des Erwerbs der Staatsbürgerschaft.

Mit der Offenheit des Staatsangehörigkeitsrechts im demotischen Nationalstaat Frankreichs entfallen auch in einem beträchtlichen Ausmaß die weiter oben dargestellten Probleme des Ausschlusses der Migrantenbevölkerung von der politischen Partizipation. Ausländerwahlrecht muß dann nicht zu einem zentralen Thema werden. Daß damit gesellschaftliche Probleme der Ungleichbehandlung, der ethnischen Vorurteile und der Diskriminierung weiterbestehen, muß wohl nicht gesondert hervorgehoben werden; aber die Bedingungen, diese Probleme anzugehen, sind günstiger. Prinzipiell ist das Wahlrecht die wichtigste Form demokratischer Interessenvertretung und erlaubt der Migrantenbevölkerung, Politiker für ihre Anliegen zu interessieren und zu gewinnen bzw. ihre eigenen Repräsentanten in die Politik zu schicken.

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2. "Ausländer"- und Minderheitenpolitik in der Bundesrepublik

In diesem Abschnitt will ich auf die ethnische Pluralisierung der Bundesrepublik und einige Hauptdimensionen der politischen Diskussion und Auseinandersetzung um ethnische Minderheiten eingehen. Dabei wird von tagespolitischen Aspekten abgesehen und stattdessen versucht, strukturelle Problematiken aufzuzeigen. Eingegangen wird auf den Ausländerstatus der "neuen" ethnischen Minderheiten, damit zusammenhängend, aber gesondert diskutiert, auf Fragen der Interessenvertretung und politischen Partizipation der "Ausländer"; weiterhin sprechen wir über Aspekte einer zukünftigen Zuwanderung in die Bundesrepublik; schließlich über die mit allen diesen Fragen zusammenhängende Zukunft des Nationalstaates.

Die Lage der ethnischen Minderheiten im Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland und das politische Bewußtsein der Mehrheitsgesellschaft über diese Thematik sind durch Paradoxien gekennzeichnet: die Bundesrepublik erklärt

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sich nach wie vor als Nicht-Einwanderungsland, erlebt aber schon seit vielen Jahren aufgrund ihrer Attraktivität ein Ausmaß an Zuwanderung wie nur wenige Länder auf der Welt. Angesichts dieser Fakten, aber auch unter Berücksichtigung des Arguments, daß Deutschland sicherlich kein klassisches Einwanderungsland wie etwa die USA oder Australien ist, sprachen wir schon vor zehn Jahren mit Bezug auf die "Gastarbeiter" vom Vorliegen einer "Einwanderungssituation" (Heckmann 1981); in jüngerer Zeit wird - bei Einsichtigen - davon gesprochen, daß die Migranten ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik hätten, oder die Bundesrepublik sei ein De-facto-Einwanderungsland bzw. ein "unerklärtes Einwanderungsland". Zu den Paradoxien gehört es auch, daß "Inländer", die im Land geboren sind und nirgendwo anders gelebt haben und leben wollen, als Ausländer gelten, weil sie ausländische Eltern haben, und andere "Inländer" aus dem Ausland kommen und freien Zugang zur Staatsbürgerschaft haben, die häufig keine oder nur ganz wenige ethnische Merkmale als Deutsche, z.B. die deutsche Sprache, aufweisen, die aber "Abstammungsbeziehungen" zum deutschen Volk geltend machen können. Die genannten Sachverhalte hängen zusammen mit dem ethnischen Nationsbegriff in Deutschland.

Über die Einwanderung in die Bundesrepublik und das Verhältnis zu den verschiedenen Zuwanderergruppen gibt es privat wie in politischen Öffentlichkeiten leidenschaftliche Diskussionen. Während man in den 70er Jahren hierbei als Schlüsselbegriff über "Integration" stritt, steht heute vielfach das Wort von der "multi-kulturellen" Gesellschaft im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Von einigen als Schreckbild verstanden, von anderen als deskriptive Kategorie gemeint und von einer weiteren Gruppe schließlich als positiver normativer Begriff und normative Herausforderung interpretiert, spiegelt dieses Wort dennoch, daß ein bestimmtes "Seßhaftwerden der fremden Zuwanderer" stattgefunden hat und daß sich die ethnisch-kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung verändert hat. Alle drei Interpretationen übertreiben jedoch ein wenig; weder ist die nationale Identität der Deutschen bedroht, noch hat sich eine bisher ethnisch relativ homogene Bevölkerung in ethnisch-plurale Segmente aufgelöst, noch kann legitimerweise erwartet werden, daß sich überkommene nationale Wertvorstellungen über Nacht in einen kulturellen Pluralismus und Internationalismus auflösen. Das Reden von der multi-kulturellen Gesellschaft zeugt aber davon, daß sich wirklich etwas verändert hat, neue Problemlagen entstanden sind und die Gesellschaft versucht, sich dessen bewußt zu werden und damit

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auseinanderzusetzen. Wir glauben jedoch, daß mit den vorgenannten Problempunkten "Ausländerstatus", "Partizipationsproblematik von Nicht-Staatsbürgern", "Ausmaß der Zuwanderung" und "Zukunft des Nationalstaates" die anstehenden gesellschaftlichen Probleme exakter benannt werden können als mit der Formel von der "multi-kulturellen Gesellschaft". Das Hauptproblem der neuen ethnischen Minderheiten besteht darin, daß sie "anwesend, aber nicht zugehörig sind". Zwar bestehen eindeutige Zugehörigkeiten über die verschiedensten gesellschaftlichen Beziehungen, vom Wirtschaftsleben bis in den Freizeitbereich hinein, bis hin zur Verpflichtung, Steuern zu zahlen, aber die Nicht-Staatsangehörigkeit ist in entscheidender Weise auch eine gesellschaftliche Nicht-Zugehörigkeit und Ausschließung, die sich durch einen expliziten Ausländerstatus definiert.

Ausländer zu sein, bedeutet nicht nur etwas Rechtstechnisches, sondern ist eine gesamte Lebenslage. Der Ausländerstatus wird zentral definiert durch das Ausländergesetz, das mit seinen fast undurchdringlichen Bestimmungen und Auflagen ein Ausländerkontrollgesetz ist [Fn_3: Der Hamburger Jurist Rittstieg qualifiziert das neue Ausländergesetz als "ein kompliziertes Juristengesetz mit zahlreichen, unübersichtlichen Verweisungen ... In erster Linie bringt es nicht den Betroffenen mehr Rechtssicherheit, sondern perfektioniert das ausländerbehördliche Instrumentarium" (Rittstieg 1990, S. 1). Bei Einreise und Aufenthaltsbestimmungen sowie in weiteren Punkten gibt es relevante Vorteile für EG-Angehörige, die sie zu "Ausländern" 1. Klasse" machen.].
Die politischen Fragen, die sich um die neuen ethnischen Minderheiten entwickelt haben, sind dann auch nicht klassische Fragen einer ethnischen Minderheitenpolitik, sondern Fragen des Aufenthalts, der "Rückkehr" [Fn_4: Vgl. z.B. das Gesetz zur Förderung der Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer aus dem Jahre 1983.],
des Familiennachzugs, der Abschiebung, der Gewährung und des Ausschlusses von bestimmten wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, kurz "Ausländerrecht".

Den Ausländerstatus zu verlassen ist schwer, durch hohe Hürden bei der Einbürgerung, aber auch, was den Doppelbindungen vieler Migranten gerecht würde, durch die Nicht-Zulassung doppelter Staatsangehörigkeit. Ausländerstatus bedeutet, vor allem für die über 3 Mio. Nicht-EG-Angehörigen, Unsicherheit des Aufenthalts, vielfach das Objekt von Diskriminierung und ethnischen Vorurteilen zu sein. Die gebetsmühlenartig wiederholte These, die Bun-

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desrepublik sei kein Einwanderungsland, sichert den Ausländerstatus als gesellschaftliche Stellung zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit legitimatorisch ab.

Den gesellschaftlichen Status der Ausländer zu verändern, ist schwierig; Nicht-Bürger können keine Bürgerrechtskampagnen führen. Die "civil-rights"-Bewegung in den USA ging eben um die Durchsetzung der formal bestehenden Rechte als Staatsbürger. Nur im Falle von Staatsangehörigkeit könnten auch klassische Lösungen ethnischer Minderheitenprobleme wie territoriale und personale Autonomie angewandt werden. Und solange die neuen ethnischen Minderheiten fremde Staatsangehörige sind, "steht ihnen nach geltendem Völkerrecht der Zugang zum Minderheiten- und Volksgruppenschutz nicht offen" (Kimminich 1985, S. 118).

Teilaspekt des Ausländerstatus und der gesellschaftlichen Ausschließung ist der Ausschluß vom politischen Wahlrecht, kürzlich durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt. De facto bedeutet er, einen relevanten Teil der Arbeiterschaft der Bundesrepublik von der politischen Partizipation auszuschließen, was an frühindustrielle Verhältnisse des 19. Jahrhunderts erinnert. Bei hohen Einbürgerungshürden ist mit dem Ausschluß von Nicht-Staatsbürgern vom (auch nur kommunalen) Wahlrecht eine Situation entstanden, die in demokratischen Gesellschaften als eine gravierende Legitimationslücke des politischen Systems bezeichnet werden muß. Die Interessenvertretung der "ausländischen Bevölkerung" ist darum auf vermittelte Formen über Beauftragte und Verbände und Organisationen der Mehrheitsgesellschaft wie Gewerkschaften, Kirchen oder Wohlfahrtsverbände angewiesen, die aus unterschiedlichen Gründen für Interessen der "Ausländer" einstehen.

Ein weiterer, gravierender Problempunkt im Zusammenhang der angesprochenen Fragen ist das Ausmaß zukünftiger Einwanderung in die Bundesrepublik. Durch die starke Zuwanderung der letzten Jahre sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen Kapazitätsprobleme entstanden, die eine weitere Zuwanderung im bisherigen Ausmaß oder - im Zusammenhang mit Krisen in Osteuropa - über das bisherige Maß hinaus, zu einer weiteren Verschärfung von Infrastrukturproblemen im Bereich des Wohnens, des Arbeitsmarktes, des Bildungs- und sozialen Dienstleistungssystems führen müssen. Auch mit der Verschärfung ethnischer Vorurteilsprobleme wäre dann zu rechnen. Da die Bun-

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desrepublik nicht die Probleme Osteuropas auf ihrem Territorium lösen kann, wird es zu Begrenzungen der Einwanderung kommen müssen; eine beginnende Diskussion um ein Einwanderungsgesetz mit bestimmten Quoten für verschiedene Zuwanderergruppen ist ein wichtiger Reflex auf diese Entwicklungen. Aber auch eine bessere Trennung von Problemen des politischen Asyls und solchen der "normalen" Arbeitsmigration aus wirtschaftlichen Gründen wird notwendig, um das Asyl nicht immer mehr zu einem "Ersatzweg" der Arbeitswanderung werden zu lassen.

Ein letzter Problembereich, der die Lage der ethnischen Minderheiten zentral angeht, ist schließlich die Zukunft des Nationalstaats, genauer müßte gesagt werden, des ethnisch-begründeten Nationalstaats. Von einem ethnischen hin zu einem stärker sich politisch und ethnisch-plural verstehenden Nations- und Nationalstaatsbegriff auf der Basis eines politisch-staatsrechtlichen Volksbegriffs zu gehen, wäre eine Voraussetzung auch eines anderen Staatsbürgerschafts- und damit Einbürgerungsverständnisses. Der ethnische Nationsbegriff kommt unter Druck durch die wachsende Internationalisierung, die nicht nur wirtschaftliche, kulturelle und soziale Bereiche umfaßt, sondern inzwischen auch den heiligsten Raum der Souveränität von Nationalstaaten, nämlich die Fragen von Krieg und Frieden erreicht hat: diese werden mit und für die Bundesrepublik international entschieden.

Als Fazit der auf die Bundesrepublik bezogenen Überlegungen läßt sich festhalten: Die Hauptproblematik besteht in der Lage der neuen ethnischen Minderheiten der Arbeitsmigranten. Praktisch und konzeptuell verhindert der Ausländerstatus, daß hier "klassische" Lösungen von Minderheitenproblemen angewandt werden können:

  • Völkerrechtliche Minderheitenschutzverträge greifen nicht; sie sind auf nationale Minderheiten zugeschnitten, nicht für Einwanderungsminderheiten gedacht.

  • Die Konzepte der personalen oder territorialen kulturellen Autonomie setzen einen rechtlichen Zugehörigkeitsstatus voraus.

  • Bürgerrechtsbewegungen und "affirmative action" sind Bewegungen von und für Staatsbürger.

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  • Das Konzept des Niederlassungsrechts, d.h. die Gewährung zentraler staatsbürgerlicher Rechte an Nicht-Staatsbürger (wie z.B. des Wahlrechts), ist durch Verfassungsgerichtsentscheid zurückgewiesen worden.

In dieser Situation kann als politisches und rechtliches Mittel zunächst auf den wichtigsten Punkt des bisherigen Schutzes der neuen ethnischen Minderheiten, nämlich die Bewahrung und den Ausbau verfassungs- und allgemeinrechtlicher Regelungen, die für Staatsbürger wie für Nicht-Staatsbürger gelten, verwiesen werden. Das ist aber keine Strategie, die für die Migrantenbevölkerung wesentliche Fragen beantwortet, und für die Bundesrepublik nicht die gravierende Legitimationslücke ihres politischen Systems schließt. Ein konsequenter Schritt wäre darum die Aufhebung des Ausländerstatus durch die radikale Erleichterung der Einbürgerung; das setzt auch ein Umdenken bei der ausländischen Bevölkerung selbst voraus. Damit wären nicht mit einem Zaubergriff die Probleme inter-ethnischer Beziehungen und die sozialen Probleme der Arbeitsmigranten beseitigt, aber grundlegend bessere Voraussetzungen für deren schrittweise Verbesserung gegeben.

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Literatur

Francis, E.K.: Ethnos und Demos, Berlin 1965

Heckmann, F.: Die Bundesrepublik: Ein Einwanderungsland. Zur Soziologie der Gastarbeiterbevölkerung als Einwandererminorität, Stuttgart 1981

Heller, H.: Staatslehre, Leiden 1963

Kimminich, O.: Rechtsprobleme der polyethnischen Staatsorganisation, München/Mainz 1985

Lepsius, M.R.: "Ethnos" und "Demos". Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die Euroäpäische Einigung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1986, S. 751-759

Rittstieg, H.: Sozialer Rechtsstaat nicht für Ausländer. Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 5.1.1990. Vervielfältigtes Manuskript, Universität Hamburg 1990

Schönemann, B.: "Volk" und "Nation" in Deutschland und Frankreich 1760-1815, in: Hermann, U., Oelkers, J. (Hg.): Französische Revolution und Pädagogik der Moderne, Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 24, Weinheim/Basel 1989, S. 275-292

[Seite der Druckausg.: 52 = Leerseite]


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