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[Seite der Druckausg.: 55]


Jürgen Burckhardt
Zuwanderungspolitik der Zukunft


Wir wollen mit unserem neuen Gesprächskreis "Arbeit und Soziales" unter der Leitung von Frau Dr. Mehrländer wichtige aktuelle Fragestellungen aufgreifen und mit Vertretern aus Politik, Gewerkschaften, Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft diskutieren. Wir haben 1991 insgesamt zehn Veranstaltungen dieses Gesprächskreises durchgerührt - davon acht in den neuen Bundesländern.

Vier dieser Veranstaltungen waren der Problematik: "Ausländerfeindlichkeit/Ausländerpolitik" gewidmet. Dieses Thema hat in der Arbeit unserer Stiftung einen hohen Stellenwert.

  • So haben wir z. B. in Leipzig eine Veranstaltung zum Thema "Ausländer im vereinten Deutschland - Perspektiven der Ausländerpolitik" durchgeführt.
  • In Potsdam haben wir - zusammen mit der Ausländerbeauftragten der Landesregierung Brandenburg - eine Veranstaltung zum Thema "Situation von Asylbewerbern - Umgang mit Ausländerfeindlichkeit" organisiert.
  • Eine weitere Konferenz nimmt sich der Frage an, ob die Bundesrepublik Deutschland auf dem Wege zu einer "multikulturellen" Gesellschaft ist und welche Tendenzen dem entgegenstehen.

Die Abteilung Arbeits- und Sozialforschung unserer Stiftung hat bereits seit Jahren Studien

  • zu sozialen Aspekten der Ausländerbeschäftigung,
  • zur Integration, insbesondere der zweiten Generation der ausländischen Arbeitnehmer, sowie allgemein zur Ausländerpolitik erarbeitet.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist darum bemüht, einen Beitrag zur Versachlichung der gegenwärtigen Diskussion zum Asylrecht zu leisten. Das ist notwendig angesichts unsäglicher Erscheinungsformen von Ausländerfeindlichkeit und einer großen politischen Aufgeregtheit über eine Begrenzung des Zuzugs von Asylbewerbern, über die Vereinfachung des

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Anerkennungsverfahrens sowie zur Frage einer Änderung des Artikels 16 Grundgesetz.

Wir alle müssen sehr acht geben, daß die Ausländerpolitik nicht zum Schlagstock parteipolitischer Auseinandersetzungen wird. Die Folgen würden in unserem Lande lange nachwirken - mit unermeßlichem Schaden nach innen und nach außen. Die bedrückenden Beispiele von Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz - vor allem auch das Verhalten vieler Bürger gegenüber solchen Ausschreitungen - fordern das Engagement gerade auch der Einrichtungen und Institutionen heraus, die sich schon seit langem verantwortungsbewußt mit Fragen der Ausländerpolitik befassen. Eine Befragung ergab: 34 % der Deutschen billigen Angriffe auf Ausländer, zeigen dafür Verständnis. Das ist eine Minderheit - aber eine erschreckend und beunruhigend große.

Wir sind der Auffassung, daß die in der Öffentlichkeit geführte Diskussion zu kurz greift, wenn sie sich in erster Linie nur den Fragen des Zuzugs von Asylbewerbern und deren Folgen zuwendet. Uns erscheint es wichtig, herauszustellen, daß diese Problematik nicht isoliert betrachtet und beurteilt werden kann, sondern eingebettet werden muß in eine ganzheitliche Sicht der Zuwanderungspolitik. In einer Reihe wichtiger Einzelfragen besteht Klärungsbedarf. Wir halten es deshalb für wichtig, eine genaue Analyse bisheriger Wanderungsbewegungen und ihrer Ursachen vorzunehmen, um in der Zukunft besser darauf reagieren zu können. Wenn wir den Begriff "Zuwanderer" benutzen, dann meinen wir nicht ausschließlich Asylbewerber, ausländische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, sondern auch deutschstämmige Aussiedler.

Der Umbruch im Osten, die schweren wirtschaftlichen und sozialen Krisen und die Schaffung von Reisefreiheit und Öffnung der Grenzen der mittel- und osteuropäischen Staaten bilden die Voraussetzung für Emigrationsbewegungen in Richtung Westen. Zugleich schreitet der Fortgang des wirtschaftlichen und politischen Integrationsprozesses in Europa fort. Dies schlägt sich einerseits nieder in einer gewissen Abschottungstendenz der Gemeinschaft gegenüber weiteren Zuwanderungen von außen, andererseits aber auch in einer größeren Binnenwanderung, also innerhalb der Staaten der Gemeinschaft.

Die Süd-Nord-Wanderung richtet sich vor allem auf die südeuropäischen Anrainerstaaten des Mittelmeeres, betrifft also vor allem die Zuwanderung nach

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Spanien, Frankreich und Italien. Mit Blick auf die Vollendung des Binnenmarktes soll also auch diese Wanderungsbewegung mit in die Diskussion einbezogen werden.

Wenn über eine Zuwanderungspolitik der Zukunft diskutiert wird, muß die europäische Dimension berücksichtigt werden. Es ist wichtig, eine ganzheitliche Zuwanderungspolitik im europäischen Raum zu verwirklichen, die die Probleme in den südlichen und östlichen Anrainerstaaten, aber auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft einbezieht.

Die wichtigste Frage liegt für uns darin, ob die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer gegenwärtigen Ausländerpolitik bzw. ihrem Ausländergesetz gerüstet ist, sinnvolle Konzeptionen gegenüber Zuwanderungsbewegungen zu entwickeln. Dabei denken wir nicht nur an die Frage der Begrenzung von Zuwanderungen. Es könnte unter Umständen sogar im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegen, eine Zuwanderung bestimmter Erwerbspersonen zuzulassen, z. B. wenn die demographische Entwicklung zu empfindlichen Lücken im Arbeitskräfteangebot führen sollte. Außerdem legen es außenpolitische Überlegungen nahe, den Eindruck einer "Festung Europa" zu vermeiden.

Wir denken, daß das Problem nicht in erster Linie in der Tatsache von zukünftigen Wanderungsbewegungen liegt, sondern vielmehr darin, daß bei Beibehaltung der bisherigen - mehr reaktiven - Ausländerpolitik, trotz deren Abwehrcharakter, eine ungeplante und damit letztlich nicht steuerbare Zuwanderung einsetzen könnte. Dringend erforderlich ist daher nach unserer Vorstellung eine konstruktive Konzeption für eine übergreifende Wanderungspolitik, in die alle Zuwanderer einbezogen werden sollten. Hier ist eine vorausschauende Politik gefordert.

Sie muß sich auch darum bemühen, die Ursachen zu bekämpfen, die Menschen dazu treiben, ihre Heimat zu verlassen. Wanderungen aus Gründen der Mißachtung von Menschenrechten, wegen der Verletzung von Minderheitspositionen oder aus drückender Armut. Außen- und entwicklungspolitische Maßnahmen gehören also dazu, wenn über Wanderungsbewegungen gesprochen wird.

Armutswanderungen in großem Ausmaß sind ein realistisches Szenario, mit dem wir zu rechnen haben. Und wer in der Politik glaubt - zumal in unseren

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westeuropäischen Demokratien -, mit vermauerten Grenzen oder mit "schnellen Eingreiftruppen" Menschen an den eigenen Grenzen aufhalten zu können, die vor Tenor, Umweltzerstörung oder aus Hunger fliehen - die haben die eine Welt, in der wir leben, noch nicht begriffen. Nur eine sozial und wirtschaftlich gerechte, internationale Ordnung, in der entschlossene und ernsthafte Schritte zur Überwindung des Elends in der Welt und seiner Ursachen gemacht werden, kann bewirken, daß die Menschen in ihrer jeweiligen Heimat bleiben.

Es ist die Aufgabe der politischen Klasse auch in unserem Lande, der Bevölkerung deutlich zu machen, daß das, was wir jetzt leisten können und müssen, ungleich geringer ist als das, was wir leisten müßten, wenn die Armutswanderungen wegen der fehlenden Perspektive in der eigenen Region tatsächlich in großem Stil in Gang kommen sollten.

Wir hoffen, daß unsere Broschüre zur Klärung wichtiger Fragestellungen und zur Versachlichung der aufgeregten Diskussion der letzten Monate in unserem Lande mit beitragen konnte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2001

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