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TEILDOKUMENT:


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Jan Niessen
Die Europäische Union und der Kampf
gegen den Rassismus nach dem Vertrag
von Amsterdam


1. Die Rechtsgrundlage für die Bekämpfung rassischer Diskriminierung

Der Vertrag von Amsterdam hat den europäischen Institutionen beträchtliche Befugnisse verliehen, gegen Diskriminierung aus Gründen der Rasse vorzugehen.

Erstens ermächtigt Artikel 13 des EG-Vertrags die Institutionen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Diskriminierung Einhalt zu gebieten. Trotz aller Einschränkungen stellt Artikel 13 im Vergleich zu dem alten Vertragswerk, in dem eine solche Rechtsgrundlage nicht existierte, einen großen Fortschritt dar. Er verleiht den Gemeinschaftsinstitutionen das Recht, Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.

Die Starting Line Group hätte die Aufnahme verschiedener Artikel vorgezogen, die sich mit den unterschiedlichen und spezifischen Gründen für Diskriminierung befassen (z.B. ein Artikel über Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse [zusammen mit Religion], einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung). Der Artikel zu rassischer und ethnischer Diskriminierung hätte Diskriminierung aus Gründen der Rasse, Hautfarbe, Religion und der nationalen, sozialen oder ethnischen Herkunft mit einschließen sollen, wie im eigenen Vorschlag der Starting Line Group, dem Starting Point, angeregt.

Zweitens enthält Titel IV des EG-Vertrags verschiedene Artikel, die eine Rechtsgrundlage für rechtliche und andere Maßnahmen zur Förderung einer Gleichbehandlung von Drittstaatsangehörigen und EU-Bürgern bieten. Es handelt sich um Artikel 62 (1) über Kontrollen an den Binnengrenzen, Artikel 62 (1) über die Reisefreiheit von Staatsangehörigen dritter Län-

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der, Artikel 63 (3) a über Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen, die Erteilung von Visa für einen langfristigen Aufenthalt und Aufenthaltstitel, einschließlich solcher zur Familienzusammenführung, Artikel 63 (3) b über illegale Migranten und Artikel 63 (4) über Rechte und Bedingungen, aufgrund derer sich Staatsangehörige dritter Länder, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, in anderen Mitgliedstaaten aufhalten dürfen.

Artikel 137 (4) bietet eine Rechtsgrundlage für Maßnahmen im Hinblick auf Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder, die sich rechtmäßig im Gebiet der Gemeinschaft aufhalten.

Die Schlussfolgerungen der Präsidentschaft des Europäischen Rats von Tampere fordern unter Hinweis auf Titel IV die faire Behandlung von Staatsangehörigen dritter Länder sowie Rechte, die denen der EU-Bürger vergleichbar sind. Dieses EU-Programm sollte natürlich ehrgeiziger sein und die Gleichbehandlung fördern. Auf der Grundlage von Titel IV könnten die Institutionen der Europäischen Union diesbezügliche Vorschläge verabschieden und damit die Diskriminierung von Drittstaatsangehörigen auf Gebieten wie Freizügigkeit und Familienzusammenführung beseitigen. Zur Unterstützung der europäischen Institutionen haben wir teilweise als Fortsetzung des Starting Line-Vorschlags eine Reihe neuer Vorschläge für Richtlinien in diesen Bereichen ausgearbeitet. Wir hoffen, dass diese Vorschläge die Unterstützung zahlreicher staatlicher Organisationen und Nichtregierungsorganisationen finden. [The Amsterdam Proposals. Die von der ILPA (Immigration Law Practitioners‘ Association) und der MPG (Migration Policy Group) unterbreiteten Vorschläge für Richtlinien zu Einwanderung und Asyl (Brüssel/London 2000). Diese Veröffentlichung und eine Zusammenfassung in englischer, französischer und deutscher Sprache können von der MPG-Webseite heruntergeladen werden ( www.migpolgroup.com) .]

Drittens verbietet Artikel 12 des EG-Vertrags jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Die von den Regierungen der Mitgliedstaaten akzeptierte Auslegung dieser Klausel bezieht sich nur auf die Staatsangehörigkeit in einem der Mitgliedstaaten. Interessanterweise spricht Artikel 12 von einem Verbot der Diskriminierung im Anwendungsbereich dieses Vertrags. Durch die Aufnahme von Titel IV in den EG-Vertrag wurde der Bereich erweitert und beinhaltet jetzt auch Fragen im

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Zusammenhang mit Einreise, Aufenthalt und der Gleichbehandlung von Staatsangehörigen dritter Länder. Beim Entwurf des Vertrags von Amsterdam wurde dies möglicherweise übersehen, und die Juristen müssen wahrscheinlich prüfen, in welchem Ausmaß sich Artikel 12 jetzt auch auf Staatsangehörige dritter Länder bezieht. Er sollte wohl zumindest bedeuten, dass die Diskriminierung unter verschiedenen Gruppen von Staatsangehörigen dritter Länder verboten ist und dass die Benachteiligten eine Gleichbehandlung mit denjenigen Staatsangehörigen dritter Länder erfahren, die bevorzugt behandelt werden. In dieser Hinsicht schlage ich vor, dass wir einerseits die Juristen und Rechtsabteilungen der EU zu Rate ziehen und andererseits die Möglichkeiten sondieren, bei einem klaren Fall von Diskriminierung eines Staatsangehörigen dritter Länder ein Gerichtsverfahren einzuleiten.

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2. Die Anti-Rassismusrichtlinie

Der EU-Kommission gebührt Lob für den Umgang mit ihren neuen Befugnissen. Im selben Jahr, in dem der Vertrag von Amsterdam in Kraft trat, legte sie unter anderem einen Vorschlag für eine Richtlinie über Diskriminierung aus Gründen der Rasse vor. Auf Ersuchen des Europäischen Parlaments prüfte die EU-Kommission sorgfältig den Starting Line-Vorschlag, während sie ihren eigenen Vorschlag ausarbeitete. Der im Juni 2000 vom Rat angenommene Vorschlag mag schwächer sein als die von der Starting Line-Koalition unterbreiteten, befasst sich aber dennoch mit zahlreichen, von nichtstaatlichen Akteuren vorgetragenen Belangen. Dazu zählen insbesondere die folgenden:

  • Die Richtlinie des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – nachfolgend kurz Anti-Rassismusrichtlinie genannt - verbietet mittelbare und unmittelbare Diskriminierung sowie Belästigung, Viktimisierung und die Erteilung von Anweisungen zur Diskriminierung.

  • Der Geltungsbereich der Richtlinie umfasst Zugang zu Erwerbstätigkeit, Beschäftigung und Arbeitsbedingungen, jede Art von Berufsausbildung, Mitgliedschaft in Berufsorganisationen, Sozialschutz einschließlich Gesundheitsdiensten, soziale Vergünstigungen, Bildung so-

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    wie Zugang zu der Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Gütern und Dienstleistungen, einschließlich von Wohnraum.

  • Die Anti-Rassismusrichtlinie gestattet positive Maßnahmen.

  • Die Anti-Rassismusrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zum Erlass von Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die zur Durchsetzung der in der Richtlinie enthaltenen Bestimmungen erforderlich sind, und gestattet nichtstaatlichen Akteuren gerichtliches Vorgehen im Falle von Diskriminierung.

  • Die Beweislast wird gleichberechtigter zwischen dem Opfer von Rassismus und dem Beklagten aufgeteilt.

Dank der schnellen Reaktion des Europäischen Parlaments konnten die Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten vor dem Ende der portugiesischen Präsidentschaft abgeschlossen werden, wobei die Situation Österreichs sehr förderlich war. Die 14 Mitgliedstaaten konnten einfach nicht die Annahme der Anti-Rassismusrichtlinie blockieren, solange sie die Sanktionen gegen Österreich aufrechterhielten. Österreich konnte sich aus dem einfachen Grund keinen Widerstand gegen die Richtlinie leisten, weil dieses Land der Welt beweisen musste, dass seine Menschenrechtsbilanz genauso gut war wie die jedes anderen Mitgliedstaats.

Eine äußerst wichtige Empfehlung des Europäischen Parlaments zur Stärkung der Anti-Rassismusrichtlinie wurde im endgültigen Text aufgenommen, nämlich die den Nichtregierungsorganisationen zugewiesene Rolle bei der Überwachung der Umsetzung der Richtlinie. Dies kann als Anerkennung der bedeutenden Rolle angesehen werden, die die Nichtregierungsorganisationen im Kampf gegen den Rassismus übernehmen und bereits seit nahezu zehn Jahren durch die Forderung nach gesetzgeberischen Maßnahmen der Gemeinschaft spielen. Diese Anerkennung beinhaltet auch eine Verpflichtung: Die Nichtregierungsorganisationen müssen ihre Rolle weiterhin übernehmen, insbesondere im Hinblick auf die Umsetzung der Gemeinschaftsgesetzgebung in nationale Gesetze und Praktiken der Mitgliedstaaten, der Beitrittskandidaten und der Türkei als assoziiertem Mitglied.

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3. Die Anti-Rassismusrichtlinie und die Gesetze der Mitgliedstaaten

Die Anti-Rassismusrichtlinie muss bis Juli 2003 in die nationale Gesetzgebung der Mitgliedstaaten aufgenommen werden. Dieser Prozess setzt die aktive Beteiligung der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments und der europäischen nichtstaatlichen Akteure einerseits sowie der nationalen Parlamente und nationalen nichtstaatlichen Akteure andererseits voraus.

  • Die EU-Kommission wird zweifelsohne eine wesentliche Rolle bei der Umsetzung der Richtlinie spielen und die einheitliche Übertragung aller in der Richtlinie enthaltenen Bestimmungen ermöglichen. Das Europäische Parlament kann regelmäßige Fortschrittsberichte anfordern. Derartige Berichte könnten Hinweise darauf geben, wo die Umsetzung auf Probleme stößt und was zu ihrer Beseitigung erforderlich ist. Nichtstaatliche Akteure auf europäischer Ebene könnten den gesamten Prozess überwachen und Informationen zwischen ihren jeweiligen Wahlkreisen austauschen. Es könnte ein gezielter Austausch über im Zusammenhang mit Anpassungen an nationale Gesetzgebung stehende spezifische Fragen organisiert werden. Beispielsweise verlangt die Anti-Rassismusrichtlinie von den Mitgliedstaaten die Ernennung einer oder mehrerer mit der Förderung der Gleichbehandlung befasster Stellen. Einige Mitgliedstaaten haben mit diesbezüglichen Organen bereits Erfahrungen gemacht, von denen andere Mitgliedstaaten, die diese Stellen erst noch einrichten müssen, profitieren könnten.

  • Auf nationaler Ebene sollen nationale Parlamente und nichtstaatliche Akteure die Umsetzung überwachen. Die nationalen Parlamente könnten klare Richtlinien im Hinblick darauf geben, wie und innerhalb welchen Zeitrahmens die Anti-Rassismusrichtlinie in nationales Recht umgesetzt wird. Ferner sollten sie regelmäßig über die hierbei erzielten Fortschritte informiert werden. Die Migration Policy Group stellt in Zusammenarbeit mit der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit eine Studie über einen Vergleich der Bestimmungen der Anti-Rassismusrichtlinie mit der Gesetzgebung in den 15 Mitgliedstaaten fertig. Sie wird aufzeigen, was die einzelnen Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Anti-Rassismusrichtlinie leisten

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    müssen. Die Studie könnte für staatliche und nichtstaatliche Akteure gleichermaßen ein hilfreiches Instrument sein.

  • Der gesamte Prozess bietet den Nichtregierungsorganisationen die Möglichkeit, die Regierungen aufzufordern, über die in der Anti-Rassismusrichtlinie festgelegten Bestimmungen hinauszugehen. Die Richtlinie stellt zu Recht fest, dass es den Mitgliedstaaten frei steht, ein höheres Maß an Schutz vor Rassismus vorzuschreiben. Die Anti-Rassismusrichtlinie ist eindeutig ein Kompromiss. Manche Mitgliedstaaten werden bei verschiedenen Bestimmungen das Schutzniveau erhöhen wollen. Aus diesem Grund bereiten wir ein Papier vor, das den vom Europäischen Parlament und 400 Organisationen aus der gesamten Gemeinschaft unterstützten Starting Line-Vorschlag mit der Anti-Rassismusrichtlinie vergleicht. Dieses Papier wird klare Hinweise darauf geben, bei welchen Bestimmungen die nationale Gesetzgebung im Vergleich zu den in der Anti-Rassismusrichtlinie enthaltenen Erfordernissen gestärkt werden muss.

  • Staatliche und nichtstaatliche Akteure können sich bereits auf die Zeit vorbereiten, in der die Anti-Rassismusrichtlinie in nationale Gesetzgebung umgesetzt worden ist. Einrichtungen, die Hüter der Gesetze eines Landes sind (Polizei, Richter) und solche, die den Opfern von Diskriminierung Beistand leisten könnten (Anwälte, Gewerkschaften, Arbeitgeber, NROs) sollten in der Anwendung und der richtigen Nutzung der Anti-Diskriminierungsgesetzgebung unterwiesen werden. Eine Informationskampagne zur Erweiterung des Bewusstseins für die Existenz und Inhalte der Anti-Rassismusrichtlinie sollte insbesondere die Opfer von Rassismus zum Ziel haben.

Ein ähnliches Aktionsprogramm muss mit allen relevanten Beteiligten in den Beitrittskandidatenstaaten durchgeführt werden. Zu diesem Zweck ist eine Stärkung der Partnerschaften zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in der Europäischen Union, den Beitrittskandidaten und der Türkei vonnöten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

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