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5. Individuelle Übergangsriten

Im Leben der Gläubigen nehmen nicht nur die Feste des Jahreslaufs eine wichtige Rolle ein, sondern auch individuelle Ereignisse, die den persönlichen Lebenslauf gliedern, erhalten aus der Religion ihre besondere Prägung und Gültigkeit. Dazu gehören vor allem solche Wegmarken wie Geburt, Beschneidung, Hochzeit und Tod. Dort, wo Menschen in einem nichtislamischen Umfeld leben und sich für eine Annahme des islamischen Glaubens entscheiden, tritt zu diesen Ereignissen noch die Konversion hinzu.

Es versteht sich, daß in all diesen Bereichen regionales Brauchtum eine große Rolle spielt und sich mit den islamischen Vorgaben oft eng verwoben hat.

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5.1 Geburt in die oder Konversion zur islamischen Gemeinde

„Jedes Kind wird mit der schöpfungsgemäßen Anlage (zum rechten Glauben) geboren. Und seine Eltern machen aus ihm einen Juden oder einen Christen oder einen Magier. Auch das Vieh wird als unversehrtes, ganzes Tier geboren. Habt ihr denn unter ihnen ein verstümmeltes Tier gesehen?" [Khoury 1988, S. 98. ] Dieses Hadith spiegelt die islamische Grundannahme wider, daß im Islam nicht nur die vollkommene, sondern auch die ursprüngliche Religion der Menschheit verwirklicht ist. Diese Sichtweise nimmt jeden Menschen qua Geburt in die umma, diese „beste Gemeinschaft, die unter den Menschen entstanden ist" (3:110), auf. Das Nichtmuslim-Sein ist folglich eine Degeneration dieses Zustandes, wenngleich die Existenz verschiedener religiöser Gruppen durch den Koran als eine gottgewollte Prüfung charakterisiert wird: „Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Aber er (teilte euch in verschiedene Gemeinschaften auf und) wollte euch (so) in dem, was er euch (d.h. jeder Gruppe von euch) (von der Offenbarung) gegeben hat, auf die Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten Dingen! Zu Gott werdet ihr (dereinst) alle zurückkehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, worüber ihr (im Diesseits) uneins waret." (5:48)

Die Konversion zum Islam erscheint so als Reversion, als Rückwendung zur ursprünglichen und eigentlichen Religion des Einzelnen wie aller Menschen.

Auf diesem Hintergrund ist es einsichtig, daß Initiationsriten zu einer Aufnahme in die islamische Gemeinschaft obsolet sind. Im Allgemeinen reicht es zur Glaubhaftmachung aus, die šahada vor zwei muslimischen Zeugen auszusprechen.

Paradoxerweise ist mittlerweile jedoch zuweilen ein Formular nötig, um die Zugehörigkeit zum Islam zu bestätigen. Die Behörden Saudi Arabiens bedürfen nämlich einer Handhabe, um die Einreise nach Mekka und Medina zu regeln, deren Besuch Nichtmuslimen unmöglich ist. Konvertiten in traditionell nichtmuslimischen Ländern wenden sich daher in dieser Angelegenheit an muslimische Vereine, die entsprechende Bescheinigungen erstellen. Es tritt in diesem Bereich eine Bürokratisierung ein, die dem Wesen des Islams geradezu zuwiderläuft. Aber nicht nur die saudischen Behörden müssen feststellen, daß der überformelle Charakter der islamischen Religionszugehörigkeit zuweilen Probleme aufwirft. Auch deutsche Behörden können keine gesicherte Erkenntnis darüber erlangen, wie viele Muslime genau in diesem Land leben.

Daß die Konversion als verdienstvoll gilt, geht aus einem Ausspruch des Propheten hervor: „Wenn jemand den Islam annimmt und sein Glaube ist aufrichtig, so wird Gott ihm die Verfehlungen, die er sich zuvor hat zuschulden kommen lassen, verzeihen. Und die gute Tat, die er anschließend verrichtet, wird ihm um ein zehn- bis siebenhundertfaches angerechnet, wäh-

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rend die schlechte Tat nur als ein einziges Vergehen vermerkt wird, sofern Gott nicht gänzlich über sie hinweggeht." [Al-Buhari 1991, S. 40f.] Mit der Konversion geht oft auch die Annahme eines islamischen Vornamens einher.

Dem Neugeborenen, das in einer islamischen Familie zur Welt kommt, flüstert man die šahada ins rechte und den Gebetsruf ins linke Ohr. Dieser Ritus begründet aber keinesfalls die Zugehörigkeit zur islamischen Glaubensgemeinschaft, die ja als Geburtsrecht des Kindes gilt. Die šahada soll auch das letzte sein, was einem Sterbenden vor seinem Ende zugesprochen wird. Die Namensgebung eines Kindes geschieht meist am sechsten oder siebten Tag nach der Geburt. Dieser Tag, die ‘aqiqa, ist nach dem Vorbild des Propheten mit einem Opfer verbunden. Wenn es möglich ist, schlachtet der Kindsvater für eine Tochter ein bzw. für einen Sohn zwei Schafe. Deren Fleisch wird in der gleichen Weise verteilt, wie das der Opfertiere am ‘idu-l-adhha. Ein weiterer Brauch an diesem Tag ist es, dem Kind das Kopfhaar zu scheren. Man wiegt das Haar mit Silber auf und spendet dies als Almosen. Auch dieser Ritus folgt der sunna Muhammads.

Wie es keine formelle Aufnahme in den Islam gibt, so ist auch für den Austritt kein Ritus vorgesehen, was jedoch darin begründet liegt, daß der Austritt an sich nicht vorgesehen ist. Traditionell gehört die Apostasie neben dem Ehebruch und dem Mord zu den Vergehen, auf die die Todesstrafe stehen können. Zwar liegt die Begründung dafür nicht direkt im Koran, jedoch läßt der Koran keinen Zweifel daran, daß der Unglaube bei Gott nicht ohne Konsequenzen bleiben kann. „Denen, die ungläubig sind, und (ihre) Mitmenschen) vom Weg Gottes abhalten, und darauf als Ungläubige sterben, wird Gott nicht vergeben", heißt es in Sure 47:34. Diese und weitere Aussagen stellen jenseitige Strafen in Aussicht. Zusammengelesen mit 4:88f. läßt sich die Forderung nach dem Tod des Apostaten folgern. [Vgl. Khoury 1991, S. 21.] Dort heißt es: „Wie könnt ihr hinsichtlich der Heuchler unterschiedlicher Meinung (w. zwei Gruppen) sein, wo doch Gott sie wegen dessen, was sie (an Sünden) begangen haben, zu Fall gebracht hat (?)! Wollt ihr denn rechtleiten, wen Gott irregeführt hat? Wen Gott irreführt, für den gibt es keinen Weg. Sie möchten gern, ihr wäret (oder: würdet) ungläubig, so wie sie (selber) ungläubig sind, damit ihr (alle) gleich wäret. Nehmt euch daher niemand von ihnen zu Freunden, solange sie nicht (ihrerseits) um Gottes willen auswandern! Und wenn sie sich abwenden (und eurer Aufforderung zum Glauben kein Gehör schenken), dann greift sie und tötet sie, wo immer ihr sie findet, und nehmt euch niemand von ihnen zum Freund oder Helfer!" Diese kombinierte Lesart hat Tradition und wird durch Hadithe untermauert, die Muhammad Aussagen zuschreiben wie: „Wer seine Religion wechselt, den tötet!" [Zit. nach: Ebd., S. 22.] Tatsächlich ist die Todesstrafe bei Glaubensabfall im Zusammenhang mit politischer Loyalität und Auswirkungen auf die Gesellschaft zu sehen und entstanden. In diese Richtung deutet auch der Umstand, daß nach dem Verständnis der hanafitischen Rechtsschule die Bestrafung der Apostasie für Männer und Frauen unterschiedlich zu werten ist. Während die drei anderen Rechtsschulen die Todesstrafe für Mann und Frau vorsehen, beschränken sich die Hanafiten darauf, die vom Glauben abgefallene Frau durch Körperstrafen oder Haft zur Absage zu bewegen. In dieser Sichtweise wird der Apostasie der Frau eine weniger gesellschaftsschädigende Wirkung zugeschrieben als der des Mannes. Faktisch ist diese Strafe nur sehr selten verhängt worden. Im „osmanischen Reich fand die letzte Hinrichtung eines Apostaten, soweit bekannt, im Jahre 1843 statt. Als Straftatbestand ist die Apostasie in den Rechtsordnungen der islamischen Staaten formell heute nicht mehr vorgesehen." [Schwartländer / Bielefeldt 1992, S. 28.] Das bedeutet allerdings noch nicht, daß Apostaten vor Ver-

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folgung sicher wären. Prominente Opfer waren im Sudan Mahmoud Muhammad Taha, der am 18. Januar 1985 mit dem Tode bestraft wurde, sowie im Iran Reverend Hossein Soodmand, den man am 13. Dezember 1990 hinrichtete. [Vgl. ebd., S. 50.]

Aber auch dort, wo man von der Kapitalstrafe absieht, ergeben sich für Apostaten zahlreiche Benachteiligungen, die zivilrechtlicher wie sozialer Natur sein können. Beispielsweise ist die Ehe zwischen einer muslimischen Frau und einem nichtmuslimischen Mann in jedem Falle ungültig. Im Falle also, daß der Ehemann sich vom Islam abwendet, ist die Ehe ipso facto geschieden, zumal in vielen Ländern das Familienrecht keine Zivilehe vorsieht. Je nachdem, wieweit im Rechtssystem des betreffenden Landes die familienrechtlichen Vorstellungen der šari‘a inkorporiert sind, können sich Härten im Bereich des Erbrechts und in Fragen des Sorgerechts für Kinder ergeben. Über die generelle Rechtsfähigkeit eines Apostaten gehen die Meinungen auseinander. Mancherorts ist der Glaubensabfall mit einer Geldstrafe belegt. Neben den „offiziellen" Benachteiligungen entstehen jedoch fast immer erhebliche Schwierigkeiten im sozialen Bereich, denn die meisten islamischen Gesellschaften tun sich schwer, einem Apostaten vorurteilsfrei zu begegnen. Die Brüche reichen in Familie, Freundeskreis und Arbeitsumfeld hinein. [Zur Frage der Religionsfreiheit vgl. auch: Bielefeldt 1999; Ders. 1994.]

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5.2 Beschneidung

Die Beschneidung von Jungen, chitan, gilt der šafi‘itischen Rechtsschule als Pflicht, den übrigen als sunna. Der türkische Terminus sünnet weist auf diesen Umstand hin. Im Koran findet sie zwar keine Erwähnung, sie wird aber durchgängig praktiziert.

Der Zeitpunkt der Beschneidung soll vor der Geschlechtsreife liegen. Der ‘aqiqa-Tag gilt als empfehlenswerter Termin, aber auch das Alter zwischen fünf und sieben Jahren wird oft gewählt. Wird die Beschneidung erst in diesem Alter vorgenommen, hat sie auch Dimensionen des Übergangs in die Männerwelt. Männliche Konvertiten zum Islam lassen zumeist auch im Erwachsenenalter die Beschneidung vornehmen.

Die Beschneidung eines Jungen ist ein festlicher Anlaß. Oft werden mehrere Kinder an einem Termin beschnitten. Festliche Kleidung, Geschenke und Süßigkeiten trösten über den erlittenen Schmerz. Türkische Jungen werden oft gekleidet wie kleine Prinzen. Ein verzierter Festanzug in kräftigen Farben, dazu ein gesäumter Umhang und eine mit Pailletten und Federn geschmückte Kopfbedeckung und über allem eine Schärpe mit der Aufschrift masallah, dem Ausruf der Freude über das, „was Gott gewollt hat". Der Volksglaube schreibt diesen Worten eine abwehrende Kraft gegen den „bösen Blick" zu, weshalb sie gerne im Zusammenhang mit Kindern gebraucht werden. Talismane mit dieser Aufschrift sind weitverbreitet.

Die Beschneidung der Mädchen, chafd, geht wie die Jungenbeschneidung auf vorislamische Bräuche zurück. Im Gegensatz zur Jungenbeschneidung hat sie sich jedoch nicht in alle Gebiete ausgebreitet, die unter islamische Herrschaft kamen. Heute ist sie vor allem in Ägypten, dem Sudan, am Horn von Afrika und in verschiedenen westafrikanischen Ländern Brauch. Wo die Mädchenbeschneidung praktiziert wird, ist sie kein islamisches Spezifikum; auch unter Animisten, koptischen Christen und äthiopischen Juden ist sie üblich.

Ein Vergleich mit der Beschneidung von Jungen ist nur bedingt möglich, denn während die Entfernung der männlichen Vorhaut im Allgemeinen keine gesundheitliche Beeinträchtigung mit sich bringt, stellt die „Beschneidung" von Mädchen ein erhebliches gesundheitliches Risi-

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ko dar. Je nach Region reicht der Ritus vom Durchstechen oder Einritzen der Klitoris bis zur völligen Entfernung von Klitoris und Schamlippen verbunden mit anschließender Infibulation. Der Eingriff geschieht vor der Menarche. Meist wird er im privaten Rahmen im Kreis der Frauen vorgenommen und geschieht dann ohne Betäubung, ohne medizinische Kenntnisse und unter unhygienischen Bedingungen mit so ungeeigneten Instrumenten wie Rasierklingen. Diese sogenannte pharaonische Beschneidung ist vor allem im Sudan und in Ägypten verbreitet. Sie bringt es mit sich, daß vor dem Vollzug der Ehe und vor der Niederkunft ein erneutes Aufschneiden des infibulierten Gewebes vonnöten ist. Nach dem Abgang der Nachgeburt wird nicht selten reinfibuliert. Diese Riten bringen oft schwere Infektionen mit sich. Immer wieder kommt es vor, daß Mädchen verbluten oder daß Frauen unter der Geburt sterben. 1997 scheiterte in Ägypten der Versuch, die Beschneidung zu verbieten.

Die regionale Verbreitung der Beschneidung spiegelt sich in den Urteilen der Rechtsschulen wider. Die Hanafiten, die in der Türkei, Südosteuropa, Zentralasien sowie auf dem Subkontinent verbreitet sind, praktizieren die Frauenbeschneidung nicht. Die im Nahen Osten, Ostafrika und Südostasien einflußreiche šafi‘itische Rechtsschule hält die Mädchenbeschneidung für verpflichtend. Malikiten in Nord- und Westafrika sowie Hanbaliten auf der arabischen Halbinsel nennen sie wenigstens „ehrenhaft".

Dabei stützen sich alle Befürworter der Mädchenbeschneidung auf schwache Hadithe, d.h. Prophetenworte, deren Echtheit nicht zweifelsfrei feststeht. So soll Muhammad gesagt haben: „Die Beschneidung ist überlieferte Pflicht für die Männer und ‘ehrenvoll’ für die Frauen." Zum Prozedere wird folgende Überlieferung angeführt: „Wenn du beschneidest, dann nimm nur einen [kleinen] Teil [der Klitoris] und entferne sie nicht ganz. Die Frau wird dann fröhlich und glücklich aussehen, und auch den Gatten wird es erfreuen, wenn ihre Lust ungemindert ist." [Beide Hadithe zitiert nach: Aldeeb 1994, S. 64-94. ]

Besonders dieses Hadith schränkt die Beschneidung eher ein, als daß es sie fördern würde, ebenso die Aussage, daß sie allein für Männer eine Pflicht darstellt. Zumindest die drastischen Formen der Beschneidung lassen sich auf diesem Hintergrund nur schwer islamisch legitimieren.

Wo die Mädchenbeschneidung vollzogen wird, stellt sie in höherem Maße als die Beschneidung der Jungen einen Übergangsritus dar. Das beschnittene Mädchen gewinnt geringfügig an sozialem Status in der Familie und orientiert sein Verhalten nun mehr an dem der Frauen, auch wenn die Beschneidung nicht den Beginn des Erwachsenenalters markiert. In einer stark von magischen Vorstellungen beherrschten Lebenswelt legt sie den Grund für den Vollzug aller Riten, die mit Fruchtbarkeit und Familiengründung zu tun haben. Wie eng der Konnex ist, zeigt sich daran, daß das zu beschneidende Mädchen mancherorts wie eine Braut gekleidet und in der Phase der Erholung von diesem Eingriff auch so angeredet wird. Unbeschnittene Frauen haben in Gesellschaften, in denen der Brauch der Beschneidung noch stark verhaftet ist, kaum Aussichten, einen Ehemann zu finden.

Die Feierlichkeiten anläßlich der Beschneidung fallen bei den Frauen geringer aus als bei der Jungenbeschneidung und sind auf den Radius der Frauen beschränkt. Wie wenig das Ritual letztlich im Islam beheimatet ist, zeigt sich auch daran, daß im Gegensatz zur Jungenbeschneidung weder Darbringung eines Tieropfers noch Festmahl üblich sind. [Vgl. Boehringer-Abdallah 1987, S. 67-76.]

In Deutschland stellt die Beschneidung von Mädchen und Frauen einen Straftatbestand dar. Dabei handelt es sich um gefährliche (StGB § 224) oder schwere Körperverletzung (StGB

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§ 226) bzw. im Falle, daß das Opfer seinen Verletzungen erliegt, um Verstümmelung mit Todesfolge (StGB § 227). Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes e.V. beziffert die Zahl der Frauen, die weltweit beschnitten sind, mit 150 Millionen. Aufgrund der Migration sind auch Frauen und Mädchen in Deutschland betroffen. Beschneidungen werden entweder in Deutschland verübt, oder die Mädchen erleiden sie, wenn sie in den Ferien in die Herkunftsländer reisen. Terre des Femmes e.V. schätzt, daß 21.000 Frauen in Deutschland beschnitten sind, während weiteren 5.500 Mädchen der Eingriff droht. [Diese Zahlen sind am 27.10.2000 der Homepage des Vereins entnommen: http://www.terre-des-femmes.de/mailingfgm2000.html - Terre des Femmes e.V. hat darüber hinaus mit Unterstützung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Gesundheit eine Broschüre herausgegeben: „Wir schützen unsere Töchter", die ins Französische, Englische, Arabische, Somali und Kiswahili übersetzt vorliegt und in der Präventionsarbeit eingesetzt werden soll. Terre des Femmes e.V. hat eine Fortbildung für Hebammen und Mediziner entwickelt, die als Pilotprojekt in den Städt. Kliniken Bielefeld durchgeführt werden soll.]

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5.3 Hochzeit und Ehe

Die Ehe gilt im Islam als einzige erstrebenswerte Lebensform und einziger Ort legitimer sexueller Beziehungen. Vor- und außereheliche Beziehungen, insbesondere solche gleichgeschlechtlicher Art, gelten als verboten und werden mit Körper- oder Kapitalstrafen geahndet. Zölibat und Mönchtum werden ebenfalls abgelehnt. [Zum Mönchtum der Christen äußert sich der Koran: „Wir haben es ihnen nicht vorgeschrieben. (Sie haben es) vielmehr (von sich aus) im Streben nach Gottes Wohlgefallen (auf sich genommen). Doch hielten sie es nicht richtig ein." (57:27)]

Der Vorzug der Ehe ist koranisch begründet: „Und verheiratet diejenigen von euch, die (noch) ledig sind, und die rechtschaffenen von euren Sklaven und Sklavinnen! Wenn sie arm sind, wird Gott sie durch seine Huld reich machen." (24:32) Die Ehe gehört zu den guten Gaben Gottes, der „euch aus euch selbst Gattinnen gemacht" hat. (16:72) Sie gründet auf Liebe und Zuneigung der Partner und deren gemeinsamer Sorge für die nachfolgende Generation. Der Koran gebraucht für das Verhältnis der Ehepartner das Bild des Gewandes, das sie gleichsam füreinander darstellen. (2:187)

Der Islam schreibt der Ehe eine in vielfältiger Weise stabilisierende Wirkung auf die Gesellschaft zu und geht dabei vom Modell der komplexen Großfamilie aus. Die Verantwortlichkeit der Generationen füreinander bringt der Koran zum Ausdruck: „Und dein Herr hat bestimmt, daß ihr ihm allein dienen sollt. Und zu den Eltern (sollst du) gut sein. Wenn eines von ihnen (Vater oder Mutter) oder (alle) beide bei dir (im Haus) hochbetagt geworden (und mit den Schwächen des Greisenalters behaftet) sind, dann sag nicht ‘Pfui!’ zu ihnen und fahr sie nicht an, sondern sprich ehrerbietig zu ihnen, und senke für sie in Barmherzigkeit den Flügel der (Selbst)erniedrigung und sag: ‘Herr! Erbarm dich ihrer, (ebenso mitleidig), wie sie mich aufgezogen haben, als ich klein (und hilflos) war!’" (17:23f.) Auch die Verwandten werden in diese Verantwortlichkeit einbezogen, die sich letztlich in Abstufungen auf die ganze umma erstreckt: „Und gib dem Verwandten, was ihm (von Rechts wegen) zusteht, ebenso dem Armen und dem, der unterwegs ist (oder: dem, der dem Weg (Gottes) gefolgt (und dadurch in Not gekommen) ist". (17:26) Die Fürsorge erstreckt sich ausdrücklich auch auf die schwächsten Glieder der Gemeinschaft. War es in vorislamischer Zeit gang und gäbe gewesen, sich unerwünschter - vor allem weiblicher - Kinder zu entledigen, indem man sie ums Leben brachte, weist der Koran eine solche Praxis entschieden zurück: „Und tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Verarmung! Wir bescheren ihnen und euch (den Lebensunterhalt). Sie zu töten ist eine schwere Verfehlung." (17:31)

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Die Ehe ist nach islamischem Recht ein Vertrag. Zwar ist sie auf Dauer angelegt, [Der sunnitische Islam erkennt die Ehe, die von vornherein auf eine bestimmte Zeitspanne befristet ist, nicht an. Im schiitischen Islam ist diese Institution als mut ‘ a bekannt. Vgl. Hartmann 1992, S. 197.] aber die Möglichkeit einer Ehescheidung besteht unter bestimmten Voraussetzungen. Darin ist die islamische Ehe dem protestantischen Eheverständnis eines „weltlich Dings" näher als dem römisch-katholischen Verständnis der Ehe als sakramental und unauflöslich außer im Tode.

Partner in einer ehelichen Gemeinschaft können dabei grundsätzlich nicht alle Menschen sein, sondern es werden geschlechtsspezifisch Unterscheidungen vorgenommen, und es werden bestimmte Verwandtschaftsgrade von der Zulassung zur Ehe ausgenommen.

Für eine muslimische Frau gilt, daß sie einen Ehegatten allein aus dem Kreis muslimischer Männer wählen kann. Sie kann gleichzeitig allein mit einem Mann verheiratet sein.

Einem muslimischen Mann steht die Möglichkeit offen, unter der Bedingung der gerechten Behandlung, mit bis zu vier Frauen gleichzeitig verheiratet zu sein. Diese Frauen können muslimischen, christlichen oder jüdischen Glaubens sein. Es besteht somit im Bereich der Ehe eine Teilgemeinschaft mit Juden und Christen, die sich direkt aus dem Koran herleitet: „Und (zum Heiraten sind euch erlaubt) die ehrbaren gläubigen Frauen und die ehrbaren Frauen (aus der Gemeinschaft) derer, die vor euch die Schrift erhalten haben". (5,5) Zeitweilig ist diese Erlaubnis auch auf Angehörige des zoroastrischen Glaubens ausgedehnt worden. Unter dem Mogulkaiser Akbar (1556-1605) begünstigte dessen synkretistische Religiosität vorübergehend die Öffnung zum Hinduismus hin. Solche Handhabungen sind Ausnahmen geblieben.

Die grundsätzliche Regelung bedingt es, daß Ehen eines muslimischen Partners mit einem Angehörigen anderer als der vorislamischen monotheistischen Religionen oder auch mit Menschen ohne religiöses Bekenntnis ungültig sind bzw. im Falle der muslimischen Frauen jede Ehe mit einem Nichtmuslim ungültig ist. Diese Regelung findet ihre Begründung meist darin, daß Kinder muslimischer Eltern im islamischen Glauben erzogen werden sollen und daß der Glaubensabfall des muslimischen Ehepartners unter allen Umständen verhindert werden muß.

Während die christliche oder jüdische Ehefrau eines Muslims in der Ausübung ihrer Religion durch ihren Ehemann nicht behindert werden darf - so darf er ihr etwa nicht verbieten, Gottesdienste ihrer Gemeinde zu besuchen oder sich nach den Speisevorschriften ihrer Religion zu ernähren - besteht im Falle der muslimischen Frau, die einen Nichtmuslim heiratet würde, die Befürchtung, dieser könne sie daran hindern, die Kinder im islamischen Glauben zu erziehen oder ihr selbst die Ausübung ihrer Religion unmöglich machen bzw. sie im schlimmsten Fall vom Islam abbringen. Mischehen stehen auch deshalb in keinem guten Ruf, weil eine christliche oder jüdische Ehefrau eben nicht verpflichtet ist, nach islamischen Vorstellungen ritueller Reinheit zu leben und somit für ihre (islamische) Familie die Schwierigkeit erwachsen kann, im eigenen Haushalt etwa rituell unreine Speisen und Getränke oder auch mißliebige Andachtsgegenstände wie Kruzifixe oder Ikonen zu haben. Derartige Vorbehalte haben dazu geführt, daß die Möglichkeit zur Ehe mit einer Jüdin und/oder Christin im Laufe der Zeit als wenig erstrebenswert beurteilt wurde. Die šafi‘itische Rechtsschule lehnt sie sogar vollständig ab; die Erlaubnis erstrecke sich nämlich allein auf die Angehörigen der ursprünglichen Offenbarungsreligionen. Heutige Anhänger seien damit nicht gemeint, da Judentum und Christentum nur noch verfälscht existierten. [Vgl. ebd., S. 101.]

Diese Bestimmungen der Partnerwahl implizieren auch, daß eine gültig geschlossene Ehe ipso facto als geschieden gilt, wenn einer der Partner den vorgegebenen religiösen Rahmen verläßt. Fällt der Ehemann vom Islam ab oder verläßt die Ehefrau ihre Religionsgemeinschaft zugun-

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sten einer nichtmonotheistischen Religion oder des Atheismus, so gilt die Ehe als nicht mehr existent. Die Ehepartner sind unverzüglich voneinander zu trennen.

Verwandtschaftsgrade, innerhalb derer die Ehe unzulässig ist, werden im Koran aufgeführt. „Verboten (zu heiraten) sind euch eure Mütter, eure Töchter, eure Tanten väterlicherseits oder mütterlicherseits, die Nichten, eure Nährmütter, eure Nährschwestern, die Mütter eurer Frauen, eure Stieftöchter, die sich im Schoß eurer Familien befinden (und) von (denen von) euren Frauen (stammen), zu denen ihr (bereits) eingegangen seid, - wenn ihr zu ihnen noch nicht eingegangen seid, ist es für euch keine Sünde (solche Stieftöchter zu heiraten) - und (verboten sind euch) die Ehefrauen eurer leiblichen Söhne. Auch (ist es verboten) zwei Schwestern (zusammen) zur Frau zu haben, abgesehen von dem, was (in dieser Hinsicht) bereits geschehen ist. Gott ist barmherzig und bereit, zu vergeben." (4:23) Nicht nur Blut, sondern auch Milch konstituiert hier Verwandtschaftsverhältnisse.

Die Polygamie, die der Koran gestattet, beschränkt die Anzahl der Ehefrauen im Unterschied zum vorislamischen usus auf vier. Die vorislamische polytheistische Kultur der arabischen Halbinsel hatte sehr unterschiedliche Arten der Vergemeinschaftung von Männern und Frauen gekannt, die durch den Islam jedoch sämtlich aufgehoben wurden zugunsten der islamischen Ehe. Dies brachte verschiedene Neuerungen mit sich, wie etwa die - wenn auch eingeschränkte - Rechtsfähigkeit der Frau und die Abschaffung des Brautkaufs. Beim Abschluß eines Ehevertrages darf die Frau nicht gegen ihren Willen verheiratet werden. Die Braut schließt den Vertrag mit dem Bräutigam indes nicht selbst, sondern bedarf eines männlichen Verwandten oder Vormunds, des wali. Wünscht eine geschiedene Frau oder eine Witwe erneut zu heiraten, bedarf sie zum Vertragsabschluß keiner Vertretung mehr, sondern kann selbst als Vertragspartnerin auftreten. Im Falle, daß minderjährige Brautleute verheiratet werden, vertritt auch den Bräutigam ein wali. Im Ehevertrag haben die Brautleute die Möglichkeit, bestimmte Bedingungen für die Ehe auszuhandeln. So kann die Braut beispielsweise für sich das Recht festschreiben, einzige Ehefrau ihres Mannes zu bleiben und somit die Erlaubnis zur Polygamie umgehen. Mit der Eheschließung verpflichtet sich der Bräutigam - es sei denn, die Braut erläßt ihm dies - zur Zahlung der mahr, der Morgengabe. Diese fließt dem privaten Vermögen der Braut zu und ist somit kein „Brautpreis" mehr, der an die Familie der Braut zu erstatten wäre. Vielmehr dient die Morgengabe als finanzielle Absicherung für den Fall einer Scheidung. Als Schutz gegen die Scheidung kann eine astronomisch hohe mahr vereinbart werden, die jedoch erst im Falle der Scheidung zahlbar würde. Ebenso kann aber nur ein symbolischer Betrag entrichtet werden, so daß die Absicherung völlig wegfällt. Welche Bedingungen die Braut aushandeln kann, hängt jedoch davon ab, über welche Verhandlungsposition sie und ihre Berater gegenüber der Familie des Bräutigams verfügen. Soziale Stellung, persönliche Eigenschaften der Braut, ihr Ruf, die Kenntnis, die Braut und wali von ihren rechtlichen Möglichkeiten überhaupt haben, können so dafür verantwortlich sein, ob der rechtliche Rahmen, in dem die Frau ihr Eheleben fristen wird, mehr oder weniger zu ihren Gunsten ausfällt.

Der Ehevertrag wird rechtskräftig, wenn er in Anwesenheit zweier unbescholtener Zeugen vom wali der Braut und dem Bräutigam geschlossen wird. Die Hinzuziehung eines Imams oder Kadis ist fakultativ. Sie ist jedoch ein geeignetes Mittel zur Vermeidung von Formfehlern beim Vertragsabschluß.

Die Eheschließung ist ein festlicher Anlaß, und die Hadithe sind voller Hinweise darauf, daß sie auch als solcher begangen werden soll. Die Gabe an die Braut und ein Festmahl für Verwandte und Freunde sind obligatorisch. [Das Islamische Zentrum Aachen formuliert seine Vorstellungen von einer islamischen Hochzeitsfeier: „Bei der Feier dürfen die Teilnehmer fröhlich sein, ohne jedoch die vom Islam gesetzten Grenzen zu überschreiten. Als Musikinstrument ist nur eine Art Tambourin erlaubt, und Männer und Frauen müssen getrennt sitzen. Alkoholgenuß, gemischter Tanz oder der von Frauen vor den Augen der Männer sind verboten. Es ist nicht Brauch im Islam, sich gegenseitig Eheringe anzustecken, auch wenn einige Muslime dies in Nachahmung abendländischer Lebensart tun" (Islamisches Zentrum Aachen Bilal-Moschee e.V. 1994).]

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Im ehelichen Leben wirkt sich die Vorstellung aus, Mann und Frau seien zwar - vor allem in spiritueller Hinsicht - gleichwertig, aber in rechtlicher und sozialer Hinsicht nicht gleichberechtigt. Die Einflußsphären von Mann und Frau unterscheiden sich, indem der Frau Haus und Kindererziehung obliegen, während der Mann für die Versorgung der Familie allein und vollständig verantwortlich ist. Er ist verpflichtet, für den Unterhalt seiner Frau(en) und Kinder zu sorgen, während das private Vermögen einer Frau nur dann in das familiäre Budget einfließt, wenn sie sich freiwillig entscheidet, es zur Verfügung zu stellen. Der Koran begründet dieses Verhältnis: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen (als Morgengabe für die Frauen?) gemacht haben." (4:34) Es sei noch einmal betont, daß dieser Vers sich nicht auf die Wertigkeit der Geschlechter bezieht, die keinesfalls in einer solchen Abstufung gesehen wird: „Diejenigen aber, die handeln, wie es recht ist, männlich oder weiblich, und die dabei gläubig sind, werden (dereinst) in das Paradies eingehen, und ihnen wird (bei der Abrechnung) nicht ein Dattelkerngrübchen Unrecht getan." (4:124)

Wo die Ehe noch keinen so paradiesischen Zustand herbeiführt, ist als letzte Möglichkeit nach Beratungen der Partner durch Dritte die Ehescheidung erlaubt. Dieses Recht ist dem Ehemann leichter zugänglich als der Frau. Das islamische Recht hat jedoch auch hier einige Hemmschwellen errichtet, die die Frau vor männlicher Willkür bewahren sollen. So ist es im Falle der Scheidung nötig, eine Frist von drei Monatsperioden der Frau abzuwarten, um eine eventuell vorhandene Schwangerschaft festzustellen. Trennt sich ein Mann definitiv von seiner Frau, kann er sie nicht mehr erneut ehelichen, es sei denn, sie wäre eine Interimsehe mit einem anderen Mann eingegangen, die darauf wieder geschieden worden wäre. Die soll davor schützen, die Scheidung unbedacht auszusprechen und als Druckmittel der Frau gegenüber zu mißbrauchen.

Sind im Falle einer Scheidung Kleinkinder zu versorgen, so bleiben diese zunächst im Haushalt der Frau, die in die Familie ihrer Eltern zurückkehrt. Vor Erreichen der Pubertät kehren die Kinder jedoch in den Haushalt des Vaters zurück, der stets für sie unterhaltspflichtig bleibt. Geht die Mutter zwischenzeitlich eine neue Ehe ein, kehren die Kinder schon früher zurück, damit sie kein Hindernis für die Frau darstellen, wieder zu heiraten. Nach islamischem Verständnis gehören die Kinder zum Vater, sobald sie ein entsprechendes Alter erreicht haben.

Das islamische Recht kennt weder Adoption noch die Anerkennung eines nichtehelichen Kindes durch den Vater.

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5.4 Tod und Bestattung

Die Tragfähigkeit einer Religion erweist sich immer auch besonders darin, ob sie ihren Anhängern den Weg nicht nur durch das Leben, sondern auch aus dieser Welt hinaus weisen kann. So legt auch der Islam Wert auf einen „guten Tod", der von Riten umgeben ist, die der Seele des Verstorbenen den Eintritt ins Jenseits erleichtern sollen.

Mit dem Christentum teilt der Islam die Vorstellung eines Jüngsten Gerichtes und der leiblichen Auferstehung der Toten. Aber die eschatologischen Vorstellungen sind im Einzelnen trotz aller Parallelen nicht deckungsgleich, und die Riten unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht.

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Der Tod tritt dadurch ein, daß die Seele, die zu Beginn des Lebens dem Körper durch Gott eingegeben wurde, ihm nun wieder genommen wird. Diese Einhauchung der Seele als göttlicher Akt wiederholt sich seit der Erschaffung des ersten Menschen, [In Sure 15:28f. findet sich die Schilderung göttlicher Absicht an die Engel: „Ich werde einen Menschen aus feuchter Tonmasse (?) schaffen. Wenn ich ihn dann geformt und ihm Geist von mir eingeblasen habe, dann fallt (voller Ehrfurcht) vor ihm nieder!" ] worin das Verständnis zum Ausdruck kommt, daß jeder Mensch jenseits der elterlichen Zeugung seine Geschöpflichkeit Gott verdankt. Ist absehbar, daß der Tod eines Muslims bevorsteht, so tragen die Umstehenden dafür Sorge, daß die letzen Worte, die der Sterbende auf Erden hört, dieselben sind wie die, die er als erste Worte unmittelbar nach seiner Geburt gehört hat: die šahada, das Glaubensbekenntnis, wird ihm ins Ohr gesprochen. Er soll sie nachsprechen, damit sie seine letzten Worte sind.

Von den Anwesenden wird erwartet, daß sie für den Sterbenden beten und aus dem Koran rezitieren. Ein Hadith legt zu diesem Anlaß besonders die Sure Ya Sin, das ist die 36. Sure, nahe. Darin kommt mehrmals das jenseitige Leben mit himmlischem Lohn und nicht endenden Höllenstrafen zur Sprache. Den Gläubigen wird zugesichert: „Die Gesandten haben die Wahrheit gesagt. Es genügt (w. Es ist nur) ein einziger Schrei, und schon werden sie alle bei uns (zum Gericht) vorgeführt. Und (zu ihnen wird gesagt:) ‘Heute wird niemand (im mindesten) Unrecht getan. Und euch wird nur (für) das vergolten, was ihr (in eurem Erdenleben) getan habt. Die Insassen des Paradieses sind heute (auf ihre Weise) beschäftigt und lassen es sich dabei wohl sein: Sie und ihre Gattinnen liegen im Schatten (behaglich) auf Ruhebetten und haben (köstliche) Früchte (zu essen) und (alles) wonach sie verlangen. ‘Heil!’ (wird ihnen entboten) als (Gruß)wort von seiten eines barmherzigen Herrn. (Ihr) aber, ihr Sünder, müßt euch heute (von den Frommen) absondern. (Denn für euch steht die Hölle bereit.)" (36:52-59)

Ist der Tod eingetreten, gilt es, eine Reihe von Verpflichtungen zu erfüllen, die die muslimische Gemeinde ihren Toten schuldet. Waschung, Bekleidung, Totengebet und Bestattung nach islamischem Ritus obliegen als Pflicht der Gemeinde im Sinne einer Kollektivpflicht, fard kifaya. Im Falle, daß sich kein Muslim bereitfindet, der dem Toten diese letzten Dienste erweist, macht sich die ganze Gemeinde schuldig. Umgekehrt gilt die Pflicht aber als erfüllt, wenn nur einige Gemeindemitglieder die erforderlichen Handlungen und Gebete vollziehen. Die mit der Bestattung der Toten verbundenen Riten sind dabei kaum flexibel, was sie von den christlichen Bestattungsriten unterscheidet, die in der Gestaltung, dem Zeitpunkt, dem Ort und der Art der Bestattung und der damit verbundenen Feier verschiedene Möglichkeiten eröffnen, zu denen seit einiger Zeit auch die Einäscherung des Leichnams zählt, sofern sie nicht als Absage an den Wiederauferstehungsglauben gemeint ist. [Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1995.]
Dieser Unterschied muß im Blick behalten werden, weil es sonst unverständlich ist, weshalb Muslime so sehr auf die Ermöglichung ihrer Riten drängen.

Der Zeitraum, der zwischen dem Eintritt des Todes und der Bestattung, die unbedingt eine Erdbestattung sein muß, liegen kann, soll möglichst kurz sein. Wer am Vormittag stirbt, soll noch am Nachmittag desselben Tages beigesetzt werden. Wer am Nachmittag stirbt, soll am Morgen des folgenden Tages zu Grabe getragen werden. Diese Eile rührt daher, daß nach islamischer Auffassung die Seele des Menschen, wenn sie vom Leib geschieden ist, zunächst vom Todesengel Izrail zu einem Zwischengericht in den Himmel gebracht wird. Dort erfährt sie, ob Paradies oder Hölle sie erwarten und wird dann wieder in den Körper zurückgebracht. Im Grab treten zwei weitere Engel, Munkar und Nakir, zu ihr und fragen sie nach ihrem Gott, ihrem Propheten, ihrer Religion und ihrer Gebetsrichtung. Kennt die Seele die richtigen

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Antworten - Gott, Muhammad, der Islam und Mekka - bestätigen die Engel ihr den künftigen Eingang ins Paradies; kennt die Seele die richtigen Antworten nicht, setzt noch im Grab eine Peinigung ein. Eine Verzögerung der Bestattung führt so auch zu einer Verzögerung der Befragung durch die Engel.

Daher legt man Wert auf eine zügige Vornahme der notwendigen Handlungen. Dem Toten werden zunächst die Augen geschlossen und das Kinn mit einem Stoffstreifen festgebunden. Um ein Aufblähen des Leibes zu verhindern, kann dieser mit einem Gewicht belastet werden.

Die Waschung des Toten entspricht einer Ganzkörperwaschung, wie sie auch von den Lebenden zu bestimmten Anlässen vorzunehmen ist. Da der Leichnam dazu entkleidet wird, nimmt stets ein Angehöriger des gleichen Geschlechtes, meist mit zwei Helfern, die Totenwaschung vor. Ehepartner dürfen jedoch den verstorbenen Partner waschen. Die hanafitische Rechtsschule sieht dies allerdings anders: Im Falle von Ehepartnern gilt für die Hanafiten, daß eine Witwe zwar ihren verstorbenen Mann waschen kann, im Falle einer verstorbenen Ehefrau die Waschung jedoch nur durch Frauen geschehen darf. [Vgl. Abu Dawud 1990, S. 894 Anm. 2614.]

Die Waschung ist aufwendig: „Der Leichnam wird auf dem Rücken auf einen erhöhten Platz gelegt, von dem aus das Wasser gut abfließen kann, und wird vom Bauchnabel bis zu den Knien mit einem Tuch zugedeckt. Zunächst wird durch leichten Druck auf den Unterleib versucht, den Körper zu entleeren. Danach werden die Ausscheidungs- und Geschlechtsteile unter dem Tuch gewaschen, wozu der Wäscher seine Hand mit einem Stofftuch umwickelt. Dann erfolgt die eigentliche rituelle Waschung, die der vor dem Gebet entspricht. Zuerst werden Mund und Nasenlöcher gereinigt sowie Hände, Gesicht, Kopf und Füße gewaschen und sodann der ganze Körper, wobei zuerst die rechte und dann die linke Körperhälfte gewaschen wird. Die einmalige Waschung des Leichnams ist verpflichtend, eine zweite und dritte gilt als empfehlenswert. Abschließend wird der Körper abgetrocknet und mit Kampfer eingerieben." [Lemmen 1999a, S. 18f.]

Von dieser Waschung existiert eine Ausnahme; Märtyrer werden so bestattet, wie sie zu Tode gekommen sind.

Der Leichnam wird nun in weiße Tücher gewickelt, in denen er auch bestattet wird. Für einen Mann werden drei Tücher benötigt, für eine Frau noch zwei zusätzliche Tücher für Kopf und Brust. Mit Stoffstreifen werden die Tücher zugebunden und der Tote auf einer Bahre zum Begräbnisort getragen, der sich traditionell außerhalb der Städte und Siedlungen befand.

Für verstorbene Muslime muß ein rituelles Totengebet verrichtet werden. Ein Hadith legt nahe, daß dies auch für Kinder gilt: „Für jedes verstorbene Kind soll das Totengebet verrichtet werden, auch wenn seine Eltern eine unrechtmäßige Beziehung hatten, denn jedes Kind hat von Natur aus die Anlage, Muslim zu sein. Und wenn beide Elternteile Muslime sind oder sich der Vater zum Islam, die Mutter aber zu einer anderen Religion bekennt, so ist für das Kind im Todesfall das Gebet zu verrichten, sofern es nach der Geburt geschrien hat. Das Gebet wird nicht verrichtet, wenn es nach der Geburt nicht geschrien hat, denn dann handelt es sich um eine Fehlgeburt." [Al-Buhari 1991, S. 180.] Eine Ausnahme bilden auch hier die Märtyrer, von denen man annimmt, daß sie unverzüglich ins Paradies eingehen. Die Frage, ob für sie ein Totengebet gehalten werden muß oder nicht, wird von den Hanafiten bejaht, von Šafi‘iten und Hanbaliten abschlägig beurteilt. [Vgl. Abu Dawud 1990, S. 893 Anm. 2609.] Gebete für Nichtmuslime werden nicht verrichtet. Über ein Totengebet

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für Menschen, die sich selbst das Leben genommen haben, bestehen unterschiedliche Ansichten. Aus dem Leben Muhammads wird überliefert, daß er ein solches Gebet verweigert habe, um ein Beispiel zu geben. [Vgl. ebd., S. 903f. Nr. 3179.] Für die Opfer von hadd-Strafen wird das Gebet mehrheitlich befürwortet.

Der Ort des Totengebetes wird von den Rechtsschulen ebenfalls verschieden bevorzugt, zumal der Leichnam dabei präsent sein soll. Šafi‘iten nennen die Moschee als adäquaten Platz dafür. Hanbaliten lassen das Gebet in der Moschee zu, wohingegen Malikiten und Hanafiten das Gebet auf einer freien Fläche außerhalb der Stadt verrichtet wissen wollen. [Vgl. Lemmen 1999a, S. 20 Anm. 23.]

Die Teilnahme am Totengebet ist für Männer verpflichtend. Die Teilnahme von Frauen wird überwiegend abgelehnt. Sollten sie anwesend sein, halten sie sich abseits der Männer. Dies gilt auch für den Trauerzug, in dem sie allenfalls in Abstand hinter den Männern mitgehen. Der Leichnam wird von den teilnehmenden Männern abwechselnd auf ihren Schultern getragen und zügig und unter Schweigen zum Begräbnisplatz gebracht.

Dort wird er so ins Grab gelegt, daß er auf der rechten Körperseite liegend mit dem Gesicht nach Mekka ausgerichtet ist. Dazu wird am Fuß des Grabes eine entsprechende Nische vorbereitet, die nach der Grablegung mit Lehm oder einem Holz verschlossen wird. Die Teilnehmer an der Beerdigung werfen jeweils drei Handvoll Erde ins Grab unter den Worten: „Daraus haben wir euch erschaffen; dazu lassen wir euch zurückkehren, und daraus werden wir euch ein zweites Mal hervorbringen." [Zitiert nach: Ebd., S. 22.] Die Verfüllung des Grabes ist Aufgabe der Trauergemeinschaft, die danach noch einige Bittgebete spricht und im Hinblick auf die Befragung im Grab den Verstorbenen belehrt.

Grundsätzlich sind Muslime unter Muslimen zu bestatten. Die Totenruhe gilt als in aeternam zu wahren und wird so ernstgenommen, daß Grabpflege und -schmuck als Störung dieser Ruhe empfunden und abgelehnt wird. Jeglicher Totenkult ist dem orthodoxen Islam fremd, was einer der Gründe für die Spannungen ist, die im Hinblick auf sufische Gemeinschaften bestehen. Deren teilweise stark ausgeprägter Heiligenkult findet an den Gräbern heiliger Frauen und Männer seine Fortsetzung. Entgegen der gelehrten Forderung nach schlichten Gräbern finden sich überall in der islamischen Welt aufwendig gestaltete Grabstätten, deren bekannteste sicher der Taj Mahal sein dürfte.

Die Trauer soll sich von vorislamischen Trauerriten dadurch absetzen, daß laute Klagen, Zerreißen der Kleider und ähnliche Ausbrüche unterbleiben. Nach prophetischem Vorbild ist das Weinen um den Verstorbenen gestattet, sofern die Trauer kein Hadern mit dem göttlichen Willen beinhaltet.

In den drei Tagen nach Eintritt des Todes ist es angezeigt, die Hinterbliebenen zu Hause zu besuchen und zum Zeichen der Kondolenz eine Zeitlang bei ihnen zu bleiben. Beileidsbekundungen nach dieser Frist sind verpönt. Für Witwen besteht nach dem Tod des Ehemannes eine besondere Trauerzeit, idda. Für vier Monate und zehn Tage kleiden sie sich schmucklos, verlassen das Haus kaum oder gar nicht und dürfen keine Versprechen zu einer neuen Eheschließung machen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

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