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[Seite der Druckausg.: 103 ]


Diether Döring
Einige Anmerkungen zum Alterssicherungssystem der Schweiz aus deutscher Sicht


Mir ist die Aufgabe gestellt worden, eine Bewertung der Schweizer Alterssicherungskonzeption aus deutscher Sicht vorzunehmen. Ich will zum Ersten einige vergleichende Anmerkungen bezüglich der AHV und der gesetzlichen Rentenversicherung, zum Zweiten bezüglich der betrieblichen Altersversorgung in der Schweiz und Deutschland machen.

Es ist im Vortrag von Frau Brombacher Steiner deutlich geworden, in welcher Weise sich beide Staatssysteme unterscheiden. Was Ihnen jedoch vermutlich nicht bewusst sein wird, ist, dass das deutsche System vor der Rentenreform 1956/57 eine frappante Übereinstimmung mit der heutigen schweizerischen Konzeption aufwies. Die ältere deutsche Rentenversicherung war seit ihrer Gründung in der Bismarck-Zeit ein kombiniertes Modell aus lohnunabhängigen Festbeträgen und einer zusätzlichen beitragsorientierten Komponente, also eine eher gemischte Lösung aus grundsichernden und einkommensbezogenen Elementen, wie sie heute die Schweizer AHV darstellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist in Deutschland zusätzlich durch das Sozialversicherungsanpassungsgesetz 1948 eine Mindestrente eingeführt worden, die nicht bedarfsorientiert war. Anfang der fünfziger Jahre bezog immerhin ein Drittel aller deutschen Altersrentner diese Mindestrente. Eine gewisse Nähe zwischen Schweizer AHV und älterem deutschen Modell erkennen wir auch in der Verwendung der lohnbezogenen Beiträge. Diese flossen teils in einkommensbezogene Rententeile, teils aber auch in lohnunabhängige Rentenelemente, waren also stark umverteilungsorientiert. Ich sage dies, um deutlich zu machen, dass entgegen der verbreiteten Anschauung, das deutsche Modell sei immer beitragsgerecht, leistungsgerecht, einkommensbezogen gewesen, wir in Wirklichkeit in den fünfziger Jahren einen gewissen Systemwechsel vollzogen haben: weg von einer eher „gemischten„ Lösung, wie wir sie heute in der Schweiz vorfinden, hin zu einer Lösung, die seitdem eher auf Differenzierung setzt. Die Reform 1956/57 tat etwas Zweites, das man nicht übersehen darf. Sie hob die Durchschnittsren-

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ten im deutschen Modell um ca. 70% an [Vgl. H.G. Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945–1957, Stuttgart 1980.] und fixierte die erreichbaren Ersatzraten auf Basis einer langfristigen Arbeitnehmerbiographie auf jenes Niveau, das wir in etwa heute haben. In der Schweiz fallen die Ergebnisse auf Basis einer langfristigen Durchschnittsverdienerbiographie deutlich niedriger aus. Wir haben aber auch eine andere Seite der „Medaille„: Schauen wir auf die Kleinverdiener und mehr auf jene differenzierte Erwerbsbiographie mit abhängigen und selbstständigen Anteilen, die sich heute zunehmend herausbildet, dann können wir vermehrt Fälle feststellen, die im Rahmen des schweizerischen Modells deutlich besser wegkommen.

Nun zur betrieblichen Zusatzsicherung: zunächst dem wenig eindrucksvollen deutschen Fall. Das deutsche System der betrieblichen Alterversorgung in der privaten Wirtschaft ist bis heute ein freiwilliges System, in dem grob ein Viertel der Erwerbstätigen im Westen Ansprüche erwerben. Etwa 5% des gesamten Alterssicherungsbudgets der Älteren werden über betriebliche Systeme erbracht. Die meisten Nachbarländer zeigen hier viel höhere Anteile (vgl. Übersicht 1). Dies gilt auch für die Schweizer Zusatzsicherung [Vgl. D. Döring: Systemlogik der Alterssicherung. Expertise im Auftrag der Hans Böckler-Stiftung, Frankfurt a.M. 2000.].
Sie ist im Übrigen nicht leicht darstellbar, weil sie ein obligatorisches System mitten im Aufbau ist. Wenn ich die heutigen Finanzierungsanteile in die fernere Zukunft hinein verlängere, wird die berufliche Komponente in der Schweiz mehr als 50% des Gesamtbudgets der Älteren ausmachen.

Gewaltig sind auch die Unterschiede in den Vermögenspositionen (vgl. Übersicht 2). Das deutsche Beispiel fällt auch hier nicht eindrucksvoll aus. Die Übersicht tut dem deutschen System allerdings etwas Unrecht, weil sie sich nur auf betriebsunabhängige Pensionskassen bezieht; in Deutschland jedoch die unternehmensinternen Systeme eine wichtige Rolle spielen. Der schweizerische Fall zeigt einen gewaltigen Vermögensaufbau. Bei den Werten ist zu bedenken, dass die Schweizer konservativ in der Bewertung des Vermögens sind. Sie haben vermutlich schon in der Aufbauphase die Größenordnung des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Wenn man diesen Prozess weiterdenkt, kommt es künftig zu einer wahrhaft gigantischen Kapitalansammlung.

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Übersicht 1: Betriebliche Altersversorgung in fünf ausgewählten europäischen Ländern im Vergleich




Land

Reichweite bei
Beschäftigten der
Privatwirtschaft in %
(Größenordnung)


Betrieblicher
Alterssicherungsanteil
in %




Besteuerung


25

D

unterschiedlich

GB

50

30

nachgelagert

F

90

21

nachgelagert (soweit nicht steuerbefreit)

NL

95

32

nachgelagert

CH

90

(> 50)

nachgelagert

Quelle: D. Döring: Systemlogik der Alterssicherung. Expertise im Auftrag der Hans Böckler-Stiftung, Frankfurt a.M. 2000.

Übersicht 2: Vermögensprofile von Pensionsfonds in fünf ausgewählten europäischen Ländern


Land

Vermögen
in % des BIP


Anlagetendenzen

Unternehmensexterne Anlage vorgeschrieben


1992

1997



D

6,5

5,6

Anleihen

nur teilweise

GB

61,7

89,9

Aktien

ja

F

3,1

4,6

Anleihen, Geld

Hauptsystem für non-cadre ist umlagefinanziert

NL

75,5

88,5

Aktien, Immobilien

ja

CH

59,7

83,7

Anleihen

ja

Quelle: D. Döring: Systemlogik der Alterssicherung. Expertise im Auftrag der Hans Böckler-Stiftung, Frankfurt a.M. 2000.

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Abschließend: Ich schaue mit Sympathie auf die Schweizer AHV und deren Konstruktion. Die Universalität und die Stützung der Rentenansprüche von Kleinverdienern sowie von Erwerbstätigen mit stark unterbrochenen Erwerbsbiographien sind der Grund meiner Sympathie. Allerdings darf man den ungünstigeren Durchschnittsverdienerfall im Vergleich zum deutschen System nicht übersehen. Dieser ist letztlich die Ursache dafür, dass die Schweizer die Zweite Säule per Gesetz zu einer Art „Zweitsozialversicherung„ gemacht haben, die für den Durchschnittsverdiener ein Gesamtrentenniveau anstrebt, das in etwa der deutschen GRV für sich allein betrachtet entspricht. Ein weiterer Unterschied ist, dass die Schweizer einen extremen Anteil von Kapitaldeckung im Gesamtsystem ansteuern. Ob sie diese Dynamik wirklich brauchen, habe ich meine Zweifel. Kapitaldeckungen dieser Wucht können auch über die Sozialpolitik hinaus beachtliche politische Steuerungsprobleme machen. Wie wirkt dies auf das Schweizer demokratische System? Wie treffen die Schweizer Vorsorge, um diese politische Brisanz im Griff zu halten? Dabei will ich kein Missverständnis aufkommen lassen. Ich bin sehr wohl der Meinung, dass allen Alterssicherungssystemen eine gewisse Beimischung von Kapitaldeckung gut tut. Die Frage ist nur, ob man eine solche Übermacht aufbauen muss. In Bezug auf die Mischung von Umlage und Kapitaldeckung bilden beide Länder somit Extreme. Deutschland hat einen im internationalen Vergleich relativ niedrigen, vermutlich deutlich zu niedrigen, Anteil von Kapitaldeckung im Gesamtsystem.

[Seite der Druckausg.: 107 ]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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