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3. Aufgaben und Erfordernisse allgemeiner Integrationspolitiken Wie die bisherigen Ausführungen bereits erkennen lassen, können die Aufgaben der Prävention, Regulierung und Verminderung von sozialen Konflikten in multikulturellen Einwanderungsgesellschaften nicht allein durch spezielle Integrationspolitiken erreicht werden. Diese sind auf das besondere Politikfeld Migration" gerichtet und beziehen sich daher insbesondere auf Fragen der Integration der Einwanderungsminderheiten und der Steuerung neuer Migrations- und Zuwanderungsprozesse. Da aber Probleme und Konflikte in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen entstehen und existieren und dabei vielfältige Wechselwirkungen auftreten (können), müssen die speziellen durch allgemeine Integrationspolitiken ergänzt werden. Bei diesen geht es in erster Linie darum, für die Probleme und Konflikte in anderen gesellschaftlichen Bereichen bzw. auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Lösungen" zu finden und so die Integration insgesamt zu fördern. Derartige allgemeine Sozialintegrationspolitiken" (Fijalkowski 1994) müssen verschiedenen Aufgaben gerecht werden. Dazu gehören insbesondere die Bewältigung gesellschaftlicher und politischer Probleme und die Förderung von individuellen Fähigkeiten und gesellschaftlicher Kommunikations- und Lernprozesse. 3.1 Bewältigung gesellschaftlicher und politischer Probleme Die Entstehung und Entwicklung von sozialen Konflikten und die damit verbundene Gefahr von sozialen Desintegrationsprozessen sind in vielen Fällen verursacht durch nicht bewältigte soziale und politische Probleme.
[Fn.96: Zum Verständnis des Begriffs „soziale Probleme" vgl. die folgende Definition: „Als soziale Probleme bezeichnet man soziale Bedingungen und Ereignisse, die größere Gruppen bzw. Kategorien von Gesellschaftsangehörigen (vielleicht sogar die Gesamtbevölkerung) in ihrer Lebenssituation beeinträchtigen, öffentlich bzw. von Teilen der Öffentlichkeit als veränderungsbedürftig definiert und zum Gegenstand von politischen Programmen und Maßnahmen gemacht werden." (Albrecht 1989, S. 506)]
[Seite der Druckausg.: 56 ] Auch nach dem Darmstädter Appell" (1995), der von namhaften Experten aus der Politikwissenschaft und der Politischen Bildung verfaßt wurde, besteht eine Vielzahl von Problemen, deren geistige und politische Bewältigung neue und schwierige Aufgaben für Politik und Politische Bildung in den westlichen Demokratien darstelle. Genannt werden in diesem Zusammenhang
[Fn.98: Kritisch anzumerken ist allerdings, daß diese Aufzählung eher additiven Charakter hat und wichtige Problemfelder, wie z.B. die sozialen Ungleichheiten, die Ungleichheiten und Veränderungen im Geschlechterverhältnis sowie die Zentrum-Peripherie-Verhältnisse im globalen Maßstab nicht genannt und zudem Fragen nach der Gewichtung und den zugrundeliegenden Logiken nicht aufgeworfen werden.] Eine politische Bewältigung dieser Probleme ist erforderlich, wenn Prozesse der Integration von einzelnen Konflikten und der Gesellschaft insgesamt gefördert werden sollen. Unter strukturellen Gesichtspunkten beeinträchtigen diese nämlich in der Regel die Lebenssituation und -perspektiven von erheblichen Teilen der Bevölkerung. Zudem produzieren sie Gefühle und Erfahrungen der Verunsicherung, der Ohnmacht und der Bedrohung. Dies fördert wiederum Tendenzen, sich vermittels der Identifizierung von vermeintlich Schuldigen zu entlasten und durch die Ausübung von latenter oder manifester Gewalt gegenüber Fremden" und/oder sozial Schwächeren Gefühle der Orientierung, der Vergemeinschaftung, der Handlungsfähigkeit, der Überlegenheit und des Selbstbewußtseins zu gewinnen. Damit gehen Tendenzen einher, soziale Probleme zu ethnisieren und ungelöste soziale Probleme und Konflikte auf andere gesellschaftliche Bereiche, Probleme und Personen(-gruppen) zu übertragen. Auf diese Weise werden unechte" Konflikte produziert, die am ehesten gewaltförmig ausgetragen werden und besondere Schwierigkeiten der Lösung aufwerfen. Politiken, die zu einer Bewältigung zentraler gesellschaftlicher und politischer Probleme wirksam beitragen, können diese Tendenzen der sozialen Desintegration vermindern und so den Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt fördern (vgl. Hengsbach/Möhring-Hesse 1995; Teufel 1996). Dies würde sich indirekt auch für die Minderheitenbevölkerung aller Voraussicht nach positiv auswirken: je umfassender und erfolgreicher nämlich die Politiken z.B. in den Bereichen Beschäftigung, Wohnung, Bildung und soziale Sicherheit sind und je stärker die Gleichheit ein tragendes Prinzip dieser Politiken ist, desto eher kann davon ausgegangen werden, daß dieses auch zur Integration der Immigranten beiträgt (Werner 1994, S. [Seite der Druckausg.: 57 ] 143). Zudem kann damit der Entstehung und Entwicklung von Phänomenen eines verlockenden Fundamentalismus" (Heitmeyer/Müller/Schröder 1997b) entgegengewirkt werden, da die damit einhergehenden Orientierungen und Verhaltensweisen ihre Wurzel nicht zuletzt in sozialen Ängsten haben, die (mit-)verursacht sind durch die von ungelösten komplexen sozialen Problemen ausgehenden Bedrohungsgefühle (Hufen 1992, S. 473). Um illusionäre Hoffnungen zu vermeiden, ist allerdings zu berücksichtigen, daß eine politische Bewältigung oder gar Lösung" von sozialen Problemen nicht einfach ist. So werden darauf gerichtete Maßnahmen in der Regel mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. Dazu gehören neben dem komplexen Charakter vieler Probleme vor allem schwer veränderbare ökonomische Strukturen, rechtliche Rahmenbedingungen, gesellschaftspolitische Machtverhältnisse, finanzielle Zwänge und internationale Abhängigkeiten. Trotz dieser Schwierigkeiten, die grundsätzliche Fragen der Steuerungsfähigkeit des Staates, der Regierbarkeit der Gesellschaft und der Leistungsfähigkeit westlicher Demokratien aufwerfen (Lehner 1992; Scharpf 1991), kann aber gleichwohl davon ausgegangen werden, daß Politik" gegenüber gesellschaftlichen Problemen und Entwicklungen nicht gänzlich ohnmächtig ist, sondern diese zumindest in einem bestimmten Ausmaß beeinflussen kann. Innerhalb des jeweiligen politischen Gestaltungsspielraums ist in jedem Fall eine adäquate Problemperzeption erforderlich.
[Fn.99: Nach Schmidt beinhaltet dies eine adäquate „Wahrnehmung eines Sachverhaltes, der als behandlungs- oder lösungsbedürftiges Problem angesehen wird, die ihm zuteil werdende Bewertung und die zu seiner Bewältigung bevorzugte Therapie seitens der Akteure, die an der Willensbildung und Entscheidung über die Problemlösung beteiligt sind" (Schmidt 1995, S. 777).]
Unter Gesichtspunkten einer demokratischen Form der Integration müssen Strategien zur Bewältigung gesellschaftlicher und politischer Probleme mit Bemühungen zur Verminderung der Spannungen zwischen den demokratischen Idealen und der 'realen Demokratie'" (Bobbio) einhergehen.
[Fn.101: In eine ähnliche Richtung gehen die von Klafki entwickelten Überlegungen zur Auswahl zwischen unterschiedlichen Problemlösungsstrategien: „Aus diesem Grundsachverhalt (der Existenz unterschiedlicher Problemlösungsstrategien, A.S.) folgt jedoch keineswegs die umstandslose Anerkennung aller solcher Positionen als gleichberechtigt. Vielmehr stellt sich die Frage nach Kriterien, mit deren Hilfe die Geltung unterschiedlicher Lösungsvorschläge für ein Schlüsselproblem oder einzelne seiner Teilelemente wertend beurteilt werden kann. Das entscheidende Kriterium läßt sich in der Frage ausdrücken: Wieweit können die einem Lösungsvorschlag zugrundeliegenden Prinzipien für alle potentiell Betroffenen verallgemeinert werden?" (Klafki 1990, S. 305)]
Im Gegensatz hierzu existieren in der Wirklichkeit der westlichen Demokratien jedoch vielfältige neue alte Ungleichheiten", deren Kern die ungleiche Verteilung von Lebensrisiken und Lebenschancen" darstellt (Franz/Kruse/RoIff 1986, S. 6). Soziale Ungleichheit besteht so als Ungleichheit zwischen sozialen Klassen und Schichten, zwischen Männern und Frauen, zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen, zwischen Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, und denen, für die das nicht gilt, zwischen Ausländern in Gastländern und der einheimischen Bevölkerung, aber auch zwischen verschiedenen Volksgruppen einer Nation... Es geht jedoch auch um die Ungleichheit in internationaler Perspektive. Hier ist das eklatanteste Beispiel ... das Macht- und Wohlstandsungleichgewicht zwischen sogenannten entwickelten und wenig entwickelten Ländern." (Klafki 1990, S. 304) Zum Abbau dieser sozialen Ungleichheiten, die sich in den vergangenen Jahren erheblich verschärft haben
[Fn.106: So enthält eine im Frühjahr 1997 veröffentlichte gemeinsame Stellungnahme der Evangelischen und der Katholischen Kirche in Deutschland die Feststellung: „Tiefe Risse gehen durch unser Land." (Deutsche Bischofskonferenz/Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1997).] , sind Maßnahmen erforderlich, die über den begrenzten Raum" des Politischen hinausreichen. Von daher muß die Demokratie auf gesellschaftliche Räume ausgeweitet werden und somit von der politischen zur sozialen Demokratie übergehen.
[Fn.107: Nach Bobbio beinhaltet eine Ausweitung des Demokratisierungsprozesses nach der Erreichung des allgemeinen Wahlrechts nicht so sehr den Übergang von der repräsentativen zur direkten Demokratie, sondern die Ausweitung von gesellschaftlichen Räumen, die demokratischen Prinzipien unterworfen werden. Nach der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts gehe es bei Demokratisierung also nicht so sehr um Antworten auf die Frage „Wer wählt?" als vielmehr um Antwort auf die Frage „Wo wird gewählt?" Die Wahl wird dabei als der typischste und gewöhnlichste Akt der demokratischen Partizipation angesehen, diese allerdings nicht darauf reduziert (Bobbio 1988b, S. 19f.). „Die Demokratisierung der gesellschaftlichen Bereiche erweitert und ergänzt die politische Demokratie." (Bobbio 1988c, S. 63)]
[Seite der Druckausg.: 60 ] gen. Deshalb sind gezielte Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit unter der Geltung des Grundgesetzes nicht nur zulässig, sondern geradezu geboten. [Fn.108: Vgl. dazu auch die Formulierung in Art. 3 S. 2 der Verfassung der Republik Italien. „Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich einschränken, und die volle Entfaltung der Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes vermindern." Insofern stellt das Sozialstaatsprinzip einen integralen Bestandteil der Demokratisierungsperspektive dar (Alexy 1994, S. 192). Im Zusammenhang mit der aktuellen Sozialstaatsdiskussion weist Joas zu Recht darauf hin, daß Kontroversen über die Ausfüllung dieses Auftrages durchaus möglich sind, aber das Prinzip selbst, das im Grundgesetz ein „Verfassungsstrukturprinzip" darstelle, nicht in Frage gestellt werden dürfe. Diese Anknüpfung an das Sozialstaatsprinzip schließt meines Erachtens nicht aus, der von Giddens vertretenen Aufforderung zu folgen, „den Sozialstaat grundlegend zu überdenken", dabei auch weiterreichende Probleme der globalen Armut einzubeziehen und die Neugestaltung des Sozialstaates an Modellen der „positiven Wohlfahrt" zu orientieren (Giddens 1997.S. 39f.und S. 186ff.).] Zur Verminderung sozialer Ungleichheiten können darüber hinaus auch Rechte und Formen der kollektiven Selbsthilfe beitragen. Sie ermöglichen es, gesellschaftliche Interessen nicht nur individuell, sondern auch kollektiv zu organisieren und zu vertreten. Damit wird dem Tatbestand Rechnung getragen, daß die reale Gesellschaft, die den demokratischen Systemen zugrunde liegt, pluralistisch strukturiert ist und somit sind nicht mehr primär die Individuen, sondern vor allem die Gruppen die Protagonisten des politischen Lebens" sind (Bobbio 1988b, S. 14f.). Insbesondere für Angehörige sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen bietet diese kollektive Demokratie" (Fraenkel 1973) verbesserte Möglichkeiten der Selbsthilfe und Mitwirkung. Vor allem in Deutschland, aber auch in anderen westeuropäischen Demokratien sind diese Mitwirkungsmöglichkeiten in Form des kollektiven Arbeitsrechts (Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampffreiheit sowie Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung) verankert worden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß dies bisher nur in einem sehr beschränkten Maße erfolgt ist und die bestehenden Ansätze gegenwärtig vor dem Hintergrund von Tendenzen der Globalisierung, Modernisierung und Deregulierung nicht nur unter einem erheblichen Druck stehen, sondern auch überdacht und weiterentwickelt werden müssen. [Fn.109: Zur aktuellen Diskussion über das kollektive Arbeitsrecht vgl. u.a. Blanke 1995; Mückenberger 1995; Hartwich 1997; Engelen-Kefer 1997.] 3.2 Förderung individueller Kompetenzen und gesellschaftlicher Kommunikations- und Lernprozesse Ob und in welchem Ausmaß Integrationsprozesse und -politiken erfolgreich sind, ist nicht nur abhängig von der Bewältigung strukturelle Probleme durch politische Maßnahmen auf der Makro-Ebene, sondern auch von Faktoren, die auf der Mikro- und Meso-Ebene des Politischen liegen. Von Bedeutung sind in dieser Hinsicht insbesondere Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Individuen sowie Prozesse der Interaktion zwischen ihnen (Claußen 1995). Dies gilt insbesondere dann, wenn Demokratie" nicht nur als ein Mittel der Interessenvertretung verstanden wird, sondern auch als ein Verfahren zur Schaffung eines öffentlichen Forums, in dem durch Dialog statt durch Rückgriff auf Macht strittige Fragen - im Prinzip - gelöst oder zumindest beigelegt werden können" (Giddens 1997. S. 37) [Fn.110: Diese Ersetzung von Gewalt durch Formen der Kommunikation und des Dialogs stellt nach Giddens den Kern der „dialogischen Demokratie" und ein zentrales Element der „Demokratisierung der Demokratie" dar. „Verständnis für den Standpunkt des anderen" ermögliche „vermehrte Selbsterkenntnis, die ihrerseits wieder die Verständigung mit anderen fördert." Die Ersetzung von Gewalt durch Dialog und Kommunikation sei allerdings nicht zwangsläufig, da „das Verhältnis zwischen den beiden (Dialog und Gewalt, A.S.) in empirischen Kontexten offensichtlich komplex ist. In vielen Situationen verringern Gespräche nicht die Feindseligkeiten und die Möglichkeiten von Gewaltanwendung, sondern vergrößern sie." (Giddens 1997, S. 327)]. [Seite der Druckausg.: 61 ] Zu den Faktoren, die auf der subjektiven Ebene Hindernisse für die Realisierung dieser dialogischen Demokratie" darstellen, gehören zum einen die Phänomene der politischen Apathie und Gleichgültigkeit, die sich im Gegensatz zu dem demokratischen Anspruch der Aktivbürgerschaft in den westlichen Ländern entwickelt haben und häufig in einem engen Zusammenhang mit einer einseitigen Orientierung an den Outputs des Systems, d.h. den Vorteilen, die der Wähler von der Politik erwartet, stehen (Bobbio 1988, S. 23ff.). Ein weiteres Hindernis stellen die Einstellungen und Verhaltensweisen dar, die den autoritären Sozialcharakter traditioneller und moderner Prägung kennzeichnen. Nach Claußen sind dazu insbesondere die folgenden fünf Strukturkomponenten zu zählen:
Diese Merkmale, deren Herausbildung durch verschiedene gesellschaftliche Bedingungen und Prozesse gefördert wird, kommen in einer spezifischen Ausprägung der physischen Grundstruktur, vor allem in einer Ich-Schwäche und Autonomieunfähigkeit zum Ausdruck, wobei diese Merkmale wiederum die Orientierung an rechtsextremistischem Gedankengut begünstigen. Unter Gesichtspunkten demokratischer Integrationsprozesse besteht daher eine zentrale politische Aufgabe darin, bei den Individuen die Entwicklung eines Sozialcharakters mit demokratischem Profile fördern, für den allgemein Ich-Stärke und Autonomie sowie im einzelnen insbesondere solche Dispositionen und Kompetenzen wie Reflexionsfähigkeit, Kommunikations- und Kritikfähigkeit, Konflikt- und Kompromißfähigkeit, Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit, Empathie, die Fähigkeit zu vernetzendem Denken" sowie Handlungsfähigkeit charakteristisch sind (Claußen 1995, S. 368ff.; Klafki 1990, S. 306). Über diese Dispositionen und Kompetenzen verfügen die Individuen in der Regel nicht von selbst; vielmehr müssen sie im Rahmen von Sozialisationsprozessen erst angeeignet werden. Dazu können Prozesse des sozialen, politischen und interkulturellen Lernens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im schulischen und außerschulischen Bereich einen wesentlichen Beitrag leisten.
[Fn.111: Hierbei muß berücksichtigt werden, daß die Dispositionen und Verhaltensweisen der Individuen nicht allein durch intentionale und institutionalisierte Lernprozesse, sondern auch durch eine Vielzahl anderer Faktoren und Agenturen beeinflußt werden. Unter Gesichtspunkten der Policy-Analyse stellt intentionales und institutionalisiertes Lernen ein Mittel der politischen Steuerung dar. Informations-, Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit sind Instrumente, die in der Regel individuell-präventiven Charakter haben; sie sind in erster Linie auf die Beeinflussung und Veränderung von individuellen Einstellungen und Verhaltensweisen, nicht so sehr von gesellschaftlichen Bedingungen gerichtet, die ursächlich den zu behebenden Problemzuständen zugrunde liegen. Durch Informationen und Aufklärung, durch Aufrufe und Appelle sowie durch Erziehung und Bildung sollen die Meinungs- und Urteilsbildung der einzelnen Individuen und der Öffentlichkeit gefördert, deren Grundüberzeugungen und Werthaltungen beeinflußt und so der Entstehung bzw. Verschärfung von Problemen oder Konflikten vorgebeugt werden (Windhoff-Héritier 1987, S. 32f.; Schubert 1991, S. 175). Der in diesem Zusammenhang verschiedentlich erhobene Einwand der „Pädagogisierung" gesellschaftspolitischer Probleme ist meines Erachtens nur dann gerechtfertigt, wenn bei den pädagogischen Prozessen von romantisierenden Vorstellungen eines problem- und konfliktlosen gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgegangen wird und strukturelle Zusammenhänge außer acht gelassen werden. Andererseits können auch Ansätze, die ausschließlich auf die strukturelle Ebene bezogen sind und pädagogische Problemstellungen als Beeinträchtigung, Ablenkung oder gar Gegensatz hierzu auffassen, verkürzten Charakter haben, da subjektive Fähigkeiten und Lernprozesse zentrale Elemente von Integrationsprozessen bilden.]
[Seite der Druckausg.: 62 ] mung allgemeiner pädagogischer Aufgaben, zum anderen aber auch um die Lösung einer spezifischen Aufgabe, nämlich darum, mit pädagogischen Mitteln zur Bewältigung der besonderen Herausforderungen, Probleme und Konflikte beizutragen, die mit der Entwicklung multikultureller Einwanderungsgesellschaften verbunden sind. Zu derartigen interkulturellen Kompetenzen gehört es insbesondere, daß die Lernenden
[Fn.112: „In der Auseinandersetzung zwischen Fremdem und Vertrautem ist der Perspektivwechsel, der die eigene Wahrnehmung erweitert und den Blickwinkel der anderen einzunehmen versucht, ein Schlüssel zu Selbstvertrauen und reflektierter Fremdwahrnehmung. Die durch die Perspektivwechsel erlangte Wahrnehmung der Differenz im Spiegel des anderen fördert die Herausbildung einer stabilen Ich-Identität und trägt zur gesellschaftlichen Integration bei. Eine auf dieser Grundlage gewonnene Toleranz akzeptiert auch lebensweltliche Orientierungen, die mit den eigenen unvereinbar erscheinen, sofern sie Menschenwürde und -rechte sowie demokratische Grundregeln achten." (Kultusministerkonferenz 1996, S. 6)] Diese interkulturellen Kompetenzen sind Schlüsselqualifikationen für alle Individuen. Von daher sind zu den Adressaten entsprechender Lernprozesse nicht nur die Angehörigen der zugewanderten, sondern auch die der einheimischen Bevölkerungsgruppen zu zählen. Innerhalb dieser Lehr- und Lernprozesse können unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden (Auernheimer 1995, S. 170ff.):
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zentristischer und monokultureller Denkweisen zu fördern. Weitere wichtige Aufgaben bestehen in der Vermittlung von Konfliktfähigkeit und der Fähigkeit, globales Denken und lokales Handeln miteinander zu verknüpfen. Dazu kann vor allem die Auseinandersetzung mit sog. Schlüsselproblemen beitragen. Dies bietet nach Klafki die Möglichkeit, ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart und der Zukunft, die Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller und die Bereitschaft zu gewinnen, an der Bewältigung dieser Probleme mitzuwirken (Klafki 1990,S.302ff.). Unter Integrations- und Demokratisierungsgesichtspunkten sind die genannten Kompetenzen und Lernprozesse nicht nur in schulischen, sondern auch in außerschulischen Zusammenhängen von Bedeutung. In Auseinandersetzung mit anwachsenden rechtsextremistischen Orientierungen bei Jugendlichen in der Folge der deutschen Vereinigung sind z.B. im sozialpädagogischen Bereich Konzeptionen einer akzeptierenden Jugend- [Seite der Druckausg.: 64 ] arbeit mit rechten Jugendszenen" entwickelt und erprobt worden (vgl. z.B. Krafeld 1993). Dabei wird davon ausgegangen, daß rechtsextremistische Orientierungen von Jugendlichen ein Produkt sozialer Alltagserfahrungen und -probleme sind und in dieser Hinsicht unzureichende Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der aktiven Gestaltung von Lebensverhältnissen eine zentrale Rolle spielen. Die pädagogische Arbeit ist darauf gerichtet, die Jugendlichen nicht auszugrenzen, sondern diese als Personen wie auch als soziale Gruppen ernst zu nehmen und zu akzeptieren". Indem den Jugendlichen soziale Räume zu ihrer Entfaltung angeboten werden, zwischen ihnen und den pädagogischen Mitarbeitern soziale Beziehungen entwickelt werden und von seiten der Mitarbeiter Einmischungen in die Lebensverhältnisse stattfinden, aus denen die Probleme der Jugendlichen resultieren, sollen sich Einstellungs- und Verhaltensänderungen entwickeln, die mit Aufklärung, Belehrung oder umgekehrt auch mit Bestrafung nicht zu erreichen wären "(Krafeld 1993, S. 313). Im Hinblick auf die demokratische Bewältigung von Konflikten allgemein und den Abbau von Diskriminierungen im besonderen sind Formen und Prozesse des politischen, sozialen und interkulturellen Lernens nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch in der Aus- und Fortbildung von Erwachsenen von Relevanz. Dies gilt zum einen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst (Polizei, Ausländerbehörden, Ämter, Schulen usw.), die mit Ausländern" als Kunden" zu tun haben. Wie Erfahrungsberichte zeigen, sind hier noch vielfältige Schritte erforderlich, die dazu beitragen, die bei einem Teil der Bediensteten vorhandenen Tendenzen, Ausländer" als Menschen zweiter Klasse zu sehen und entsprechend herabwürdigend, verletzend, demütigend und benachteiligend zu behandeln, abzubauen.
[Fn.114: Dieser Gesichtspunkt wird auch in verschiedenen Stellungnahmen europäischer Institutionen betont. So wird z.B. in der „Mitteilung der Europäischen Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 23. Februar 1994 über Zuwanderungs- und Asylpolitik" von der Notwendigkeit gesprochen, „die öffentlichen Bediensteten, die für ethnische Minderheiten zuständig sind, besser auszubilden. Dies gilt insbesondere für Lehrer und Polizisten sowie das Personal der für Zuwanderung, Wohnungsangelegenheiten, Gesundheit und soziale Sicherheit zuständigen Behörden. Vor allem die in Auskunfts- und Beratungsstellen Tätigen sollen darauf aufmerksam gemacht werden, daß sie eine wichtige Rolle beim Abbau rassistischer Vorurteile zu spielen haben (Verhaltensregel)." (zitiert nach: Die Ausländerbeauftragte des Senats von Berlin 1994, S. 73f.)]
Für die Gesamtheit antirassistisch bzw. interkulturell angelegter Lernprozesse gilt, daß diese im Rahmen demokratischer Integrationsprozesse nicht in Form einer geschlossenen Bindungspädagogik erfolgen, d.h. auf eine Anpassung der Lernenden an vorgegebene und nicht mehr hinterfragbare Zielsetzungen und Wertungen gerichtet sein, son- [Seite der Druckausg.: 65 ] dem offenen Charakter haben und somit den Lernenden Möglichkeiten der eigenständigen Reflexion und Beurteilung sowie Verhaltensalternativen einräumen sollten. [Fn.116: Vgl. Schmiederer 1977. Nach Klafki ist mit einer derartigen Orientierung „die Chance verbunden, daß jeder Lernende die Unverzichtbarkeit eigener Urteilsbildung, reflektierter Entscheidung und eigenen Handelns - für den jungen Menschen mindestens als Perspektive der eigenen 'Weiterbildung' - erkennt, sich also, reflexiv vermittelt, als betroffen und mitverantwortlich erfährt. Zugleich wird erkennbar, daß die Lehrenden in einem so verstandenen pädagogischen Dialog den Lernenden gegenüber bestenfalls graduelle Vorsprünge haben, also Mit-Lernende, kritisch Befragte und zu Befragende sind und es ständig bleiben müssen" (Klafki 1990, S. 305). Vgl. dazu insgesamt auch den sog. Beutelsbacher Konsens in der politischen Bildung. Als zentrale Elemente enthält er das sog. Überwältigungs- und Indoktrinationsverbot sowie die Forderungen nach kontroverser Darstellung kontroverser Sachverhalte und nach Befähigung der Schüler zu eigenständiger Erkenntnis-, Beurteilungs- und Handlungsfähigkeit. Er ist gegen „geschlossene" Konzepte politischer Bildung affirmativer oder emanzipatorischer Prägung gerichtet (Schiele/Schneider 1996).] Zur Initiierung, Begleitung und Förderung der genannten Lernprozesse sind zum einen geeignete didaktisch-methodische Anregungen, Anleitungen und Strukturierungen erforderlich
[Fn.117: Vgl. z.B. Bade 1994a; Schulte 1992; Ahlheim/Heger/Kuchinke 1993; Aktion COURAGE - SOS Rassismus 1995; DGB-Jugend1993.]
Insgesamt können Lernprozesse, sofern sie von Fortschritten bei der Bewältigung zentraler gesellschaftlicher und politischer Probleme begleitet werden, dazu beitragen, einen reflektierten Umgang mit sozialen, politischen und (inter-)kulturellen Konflikten zu fördern. Sie begünstigen Einstellungen und Verhaltensweisen, die auf Begegnung, Austausch und Verstehen, aber auch auf Selbstreflexion sowie wechselseitige Kritik und Beurteilung gerichtet sind. Dies kann wiederum zum Abbau ethnozentristischer, fremdenfeindlicher bzw. (kultur-)rassistischer und fundamentalistischer Orientierungen beitragen. Zudem können so Tendenzen vermindert werden, ungelöste soziale Probleme in ethnische Konflikte zu transformieren und Konflikte vorschnell auf ethnischen Nationalismus bzw. religiös-kulturellen Fundamentalismus zurückzuführen.
[Fn.119: So geht es bei einigen Konflikten, die auf den ersten Blick als „interkulturell" oder „ethnisch" etikettiert werden, um unterschiedliche Interpretationen von einzelnen Grundrechten oder um Konflikte zwischen unterschiedlichen Prinzipien innerhalb demokratischer Verfassungen, wie z.B. dem Konflikt zwischen der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und dem Erziehungsrecht der Eltern einerseits und dem staatlichen Erziehungsauftrag andererseits. Wie EIwert aufgezeigt hat, stehen selbst hinter den kriegerischen und häufig als „ethnisch" etikettierten Auseinandersetzungen in verschiedenen Regionen Afrikas und im ehemaligen Jugoslawien strukturelle Faktoren ökonomischer, sozialer oder politischer Art; kulturelle und ethnische Abgrenzungen fungieren hierbei in erster Linie als Instrumente und nicht als Ursachen (EIwert 1996).]
[Seite der Druckausg.: 66 ] gen und Verhaltensweisen fundamentalistisch" - z.B. auf Immigrantenseite - orientiert sind. sind sie zum Gegenstand kritischer Analyse und Beurteilung zu machen. Gleichwohl sollten sie auch im gesellschaftlichen Zusammenhang interpretiert werden; von daher ist zu prüfen, ob und inwieweit es sich hierbei (auch) um Formen einer reaktiven Ethnizität" handelt, d.h. um Reaktionen auf Erfahrungen der Desintegration und Ausgrenzung. Historische und aktuelle Erfahrungen verweisen zudem darauf, daß die Fundamentalisten keineswegs immer die anderen (sind)" (Brumlik 1995), sondern auch von westlichen Hegemonialkulturen ausgegangen sind bzw. ausgehen. Und schließlich sind Mehrheits- und Minderheitskulturen historisch-dynamische Phänomene und insofern veränderbar. Der mit den Immigrationsprozessen einhergehende soziale und kulturelle Wandel und dessen Bewältigung fordern von daher eine Qualifizierung und Sensibilisierung für Lernprozesse auf beiden Seiten" (Kühnert 1992). [Fn.120: Zu einem praktischen Versuch, vor dem Hintergrund von ethnisch-kulturellen und sozialen Konflikten zwischen Deutschen und Türken in einem Duisburger Stadtteil wechselseitige Kommunikations- und Sensibilisierungsprozesse zu initiieren und zu realisieren, und den damit verbundenen Schwierigkeiten vgl. Kirbach 1997a. Berichtet wird hier über ein „Modell zur Sensibilisierung und Schaffung von Problembewußtsein im Hinblick auf gestiegene Fremdenfeindlichkeit", das 1995 im Zusammenhang mit Protesten von Deutschen gegen den Lautsprecher-Gebetsaufruf eines türkischen Moscheevereins in Essen und Duisburg ins Leben gerufen wurde und u.a. mit Hilfe von Vorträgen, Ausstellungen, Round-table-Gesprächen Deutsche und Türken miteinander ins Gespräch bringen sollte. Widerstände gegen eine Beteiligung am runden Tisch entwickelten sich sowohl auf türkischer als auch auf deutscher Seite. So lehnte eine katholische Gemeinde in Duisburg-MarxIoh jedes Gespräch mit „den Türken" ab und begründete dies u.a. mit der Auffassung, daß man „die letzte Bastion des Christentums in Marxloh" sei. Der Duisburger Polizeipräsident wies zunächst das Angebot eines „Sensibilisierungseminars" für Polizisten als völlig unnötig zurück. Erst nachdem etliche Beamte den Wunsch äußerten, auch einmal „die nichtkriminelle Seite der Ausländer" kennenzulernen, fand dieses dann doch statt.] © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001 |