FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 15 ]


1. Konzeptionelle Grundlagen: Konflikte, Integration und Demokratisierung

Um eine differenzierte Auseinandersetzung mit der vorliegenden Thematik zu ermöglichen, sollen zunächst einige konzeptionelle Grundlagen, auf denen die folgenden Überlegungen basieren, verdeutlicht werden. Sie betreffen insbesondere die Begriffe des Konflikts, der Integration und der Demokratisierung.

Mit dem Begriff Konflikt wird den Sozialwissenschaften eine besondere Form sozialer Beziehungen bezeichnet, nämlich „Gegensätzlichkeiten, Spannungen, Gegnerschaften, Auseinandersetzungen, Streitereien und Kämpfe unterschiedlicher Intensität zwischen verschiedenen sozialen Einheiten" (Hillmannn 1994, S. 432). [Fn.10: Die Überlegungen zum Begriff des Konflikts stützen sich vor allem auf Balla 1989; Boudon/Bourricaud 1992, S. 272ff.; Coser 1972; Dahrendorf 1963; Dahrendorf 1973; Fuchs-Heinritz u.a. 1994, S. 356ff.; Hahn/Riegel 1973; Heitmeyer 1994c; Hillmann 1994, S. 432ff.; den Hollander 1955; Lenk 1984; Massing 1994; Rothermundt 1987; Ropers 1996.]
Auf der überindividuellen Ebene, auf die sich die Untersuchung konzentriert, können diese innerhalb und zwischen sozialen Rollen, Gruppen, Organisationen, Gesellschaftsbereichen, Gesellschaften, Staaten und überstaatlichen Verbindungen und/oder zwischen einzelnen Personen auftreten. Dabei kann zusätzlich zwischen Inter- und Intragruppenkonflikten unterschieden werden.

Hinsichtlich der Motive und Gegenstände von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen lassen sich Interessenkonflikte einerseits und ethnisch-kulturelle Konflikte andererseits unterscheiden. Zum ersten Typus werden die Auseinandersetzungen gezählt, die sich auf ungleich verteilte Güter, wie z.B. Statuslagen, Machtpositionen, Einkommens- und Besitzverhältnisse beziehen. [Fn.11: Soziale Konflikte unterscheiden sich zudem nach der Struktur ihres Gegenstandes: sie können die Struktur von Nullsummenspielen sowie von Spielen mit negativem Gesamtgewinn oder positivem Gesamtgewinn haben.]
Im Unterschied dazu betrifft der zweite Typus eher die Sphäre von Religionen, Sprachen. Ideologien, Werten und Identitäten.
[Fn.12: Im Hinblick auf „Kulturkonflikte" trifft den Hollander (1955, S. 162ff.) die folgenden weiteren Unterscheidungen:
1. Konflikte zwischen Kulturen (Zu diesen Konflikten komme es, „wenn zwischen den Mitgliedern zweier Gruppen, die kulturell verschieden sind, ein antithetisches Bewußtsein besteht, so daß eine von beiden oder beide in bezug auf gewisse Kulturelemente durch die andere Gruppe bedroht sind oder bedroht zu sein glauben. Die bedrohte oder die aggressive Gruppe trachtet danach, der fremden Kultur oder gewissen ihrer Elemente zu widerstehen, sie zu beherrschen, zu unterdrücken oder auszumerzen.");
2. Konflikte innerhalb einer Kultur („Wem in einer Kultur irgendwelche, durch endogene oder exogene Einflüsse bedingte Störungen auftreten, die eine gegenseitige Anpassung der Kulturelemente erschweren oder das vorhandene Gleichgewicht aufheben, dann entsteht ein Konflikt zwischen den verschiedenen Bestandteilen der Kultur, eventuell auch zwischen den Personen oder Gruppen, die das Alte bzw. das Neue vertreten."); und
3. Konflikte im Menschen selbst als Folge von Kulturprozessen (d.h. „geistige Konflikte in den Personen selbst (...), die ganz oder teilweise durch Kultureinflüsse verursacht oder diesen zugeschrieben werden").]

Anders als Interessenkonflikte, bei denen es um quantitative Größen geht, gelten ethnische, kulturelle oder Identitätskonflikte als schwieriger zu „lösen", da sie qualitative Fragen betreffen und sie häufig in besonders intensiver Form ausgetragen werden. [Fn.13: Nach Rothermund (1987, S. 178) entstehen ethnische Konflikte „zwischen Gruppen, die durch zumeist von Geburt an vorgegebene askriptive Kriterien wie Religion, Rasse, Kaste, Hautfarbe etc. bestimmt sind". Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, daß die Konfliktträchtigkeit nicht automatisch aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe resultiert, sondern vielfach bedingt wird durch eine Vielzahl von gesellschaftlichen und politischen Ursachen, die häufig wenig mit den ethnischen Merkmalen der streitenden Parteien zu tun haben. Entscheidend für ethnische bzw. ethnopolitische Konflikte sind nach Ropers die Politisierung und die gemeinsame Wahrnehmung ethnischer Merkmale im Konfliktprozeß. Bei der Herausbildung dieser Wahrnehmungen spielten wiederum zwei Erfahrungen eine besondere Rolle, nämlich „die Erfahrung einer negativen
(gegebenenfalls auch positiven) Diskriminierung im Vergleich zu anderen Gruppen sowie die gezielte politische Mobilisierung zugunsten von tatsächlichen oder vermeintlichen Interessen der jeweiligen Gruppen." Für die Tatsache, daß gerade ethnopolitische Konflikte so schwierig zu lösen sind und vielfach sehr intensiv ausgetragen werden, ist nach Ropers maßgebend, daß sich ethnische Gruppen in einem langen historischen Prozeß mit Wechselwirkungen zwischen subjektiven und objektiven Faktoren als „Schicksalsgemeinschaften" formierten, die meisten ethnopolitischen Konflikte asymmetrisch angelegt seien und eine Kombination von Konkurrenzen, Spannungen und Antagonismen sowohl auf der Sach- als auch auf der Beziehungsebene darstellten und die Kombination von kulturellen Eigenheiten und politischen Interessen eine ausgeprägte Eskalationsgefahr mit sich bringe (Ropers 1996, S. 189ff.).]

Allerdings sind die

[Seite der Druckausg.: 16 ]

Grenzen zwischen diesen verschiedenen Konflikttypen in der gesellschaftlichen Realität fließend. [Fn.14: Ebenso wie bei „kulturellen" Konflikten „strukturelle" Faktoren eine Rolle spielen, sind bei „Interessenkonflikten" auch kulturelle Dimensionen von Bedeutung. So weist den Hollander im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff und der Realität des „Kulturkonflikts" darauf hin, „daß das 'vorherrschende Motiv' in einer Konfliktsituation oft nur schwer festzustellen ist". Viele Gruppenkonflikte seien keine eigentlichen Kulturkonflikte, enthielten aber oft einen kulturellen Aspekt und aus diesem entstehe vielfach ein andersartiger Konflikt. Nach seiner Auffassung sollte der Begriff in bezug auf irgendwelche Beziehungen zwischen Gruppen möglichst vermieden und statt dessen präziser von „religiösem Konflikt", „Sprachenstreit" oder „ideologischem Konflikt" gesprochen und nur dann von „Kulturkonflikt" gesprochen werden, „wenn der dominierende Konfliktfaktor darin besteht, daß ganze Kulturen oder ein Komplex von Kulturelementen nicht miteinander vereinbar sind, wenn also ein Zusammenprall von Lebensstilen stattfindet" (den Hollander 1955, S. 166f.). Vgl. dazu auch die von Huntington entwickelte These zum „Kampf der Kulturen" auf globaler Ebene (Huntington 1997).]
Ethnisch-kulturelle Konflikte weisen so zwar insbesondere aufgrund ihrer Motive, Gegenstände und Austragungsformen Besonderheiten auf, gleichwohl stellen sie eine Ausprägung sozialer Konflikte allgemein dar und müssen dementsprechend - ebenso wie andere Auseinandersetzungen - in größeren gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen betrachtet werden.

Was das Verhältnis von Konflikten und Regeln betrifft, so können sich Konflikte innerhalb existierender Regeln und institutioneller Rahmenbedingungen abspielen, bei ihnen kann es aber auch um die Regeln selbst gehen, z.B. im Rahmen von Versuchen, einzelne rechtliche Bestimmungen oder die Rechtsordnung insgesamt zu ändern. Zwischen beiden Polen gibt es eine Vielzahl von Mischformen. Insbesondere in Krisenzeiten können Konflikte um die Spielregeln häufig die Form gewaltförmiger Auseinandersetzungen annehmen.

Als Ursachen für die Entstehung von sozialen Konflikten spielen vor allem Ungleichgewichte und Spannungsverhältnisse in der Gesellschaft, ungelöste soziale Probleme, unterschiedliche Interessen, Wertvorstellungen und Ideologien, soziale Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse sowie kontroverse Lösungsstrategien eine Rolle. [Fn.15: Auch in dieser Hinsicht lassen sich Unterschiede zwischen Kulturkonflikten und anderen sozialen Konflikten festmachen. Nach den Hollander geht es bei den letzteren um die Herrschaft über knappe Mittel (Produktionsmittel, Märkte, Arbeitskraft, wirtschaftlicher Erlös, Prestige, Macht usw.). Hierbei hat der Besitz des umstrittenen Wertes zur Folge, daß ein anderer diesen Wert nicht besitzen oder beherrschen kann. Demgegenüber stehen sich bei dem eigentlichen Kulturkonflikt zwei unterschiedliche Systeme von Gruppenwerten gegenüber und beide Gruppen halten ihre Werte für die einzig richtigen und guten: „(...) hier geht es nicht um knappe Werte oder Güter, denn beide Gruppen besitzen, was sie für wünschenswert halten; was sie jedoch gerade nicht begehren, ist das, was die andere Gruppe hat. In diesem Falle handelt es sich um sich gegenseitig ausschließende Werte." (den Hollander 1955, S. 163; vgl. auch Heitmeyer 1994c, S. 385ff.) Von Balla werden allerdings sowohl Interessen- als auch Wertkonflikte auf eine „materielle oder immaterielle Knappheit der Güter" zurückgeführt: „Dieser Zusammenhang ist bei Interessenkonflikten evident: diese sind Gegnerschaften im Kampf um knappe Mittel, Macht, Statuspositionen usw. Aber auch ein Wertkonflikt (als Dissens hinsichtlich der Priorität in der Rangordnung von Werten) beruht auf der Gegensätzlichkeit der Urteile der Konfliktgegner bei der grundsätzlichen Bewertung der Begehrlichkeit und d.h. der Knappheit von Lebensgütern und -zielen (...)." (Balla 1989,S. 349)]
Hinsichtlich ihrer Reichweite können sich Konflikte auf Einzelfragen, auf gesellschaftliche Teilbereiche, gesamtgesellschaftliche und/oder transnationale Dimensionen beziehen. Zu den Faktoren, die den Verlauf von Konflikten beeinflussen, gehören die Zahl und das Gewicht der beteiligten Akteure, der Grad ihrer Beteiligung sowie die Intensität der Austragung. Un-

[Seite der Druckausg.: 17 ]

ter dem Gesichtspunkt ihrer Auswirkungen für die beteiligten Akteure kann die Austragung von Konflikten dazu beitragen, die Setzung von Gruppen-Grenzen, die Stärkung des inneren Zusammenhalts und die Erhöhung der Zentralisierung zu fördern; bei mangelnder Kohäsion der Gruppe können aber auch entgegengesetzte Wirkungen, nämlich deren Auflösung bzw. Zerfall eintreten.

Hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen kann zwischen manifesten und latenten Konflikten unterschieden werden. Latent ist ein Konflikt, „der nicht als solcher erkennbar ist, nicht zur offenen Austragung kommt und daher oft auch nicht mit zugelassenen und anerkannten Mitteln geführt wird" (Fuchs-Heinritz u.a. 1994, S. 357). Unter dem Gesichtspunkt der Konflikt-Beziehungen lassen sich zudem echte und unechte Konflikte unterscheiden. Echte Konflikte brechen aufgrund der genannten Ursachen zwischen Gruppen bzw. Personen auf und fungieren dabei als Mittel, ganz bestimmte Ergebnisse zu erzielen. Wenn diese oder ein funktionales Äquivalent erreicht sind, sind die Konflikte in der Regel beendet. Im Gegensatz dazu handelt es sich im zweiten Fall um eine Form des Konflikts, bei der dieser zumindest für einen der Kontrahenten Selbstzweck ist; der unechte Konflikt ist nicht durch gegensätzliche Ziele verursacht, sondern dient der Entladung von Spannungen und Aggressionen gegenüber einem im Prinzip austauschbaren „Partner" bzw. „Ersatzobjekt". Werden auch die konfliktbedingten Aggressionen und Sozialängste kanalisiert, so kann es sich hierbei stets nur um Scheinlösungen handeln. Konfliktursachen werden somit nicht beseitigt, sondern nur verschoben und bestehen damit fort. [Fn.16: Von daher wird in diesem Zusammenhang auch von einem umgeleiteten Konflikt gesprochen. Dieser ist „jene Form des sozialen Konflikts, der nicht als solcher direkt erkennbar ist, sondern in andere Verhaltensweisen abgedrängt wird. Verursacht wird der umgeleitete Konflikt dadurch, daß das Element A zur Interessendurchsetzung gegen das Element B nicht auf den Konflikt als Mittel zurückgreifen kann, da z.B. die Durchsetzungschancen von A für seine spezifischen Interessen in einem Konflikt mit B zu gering sind; A muß auf die unmittelbare Durchsetzung verzichten und wird statt dessen aus der Spannungssituation Konsequenzen individueller Art ziehen, die in ihrer manifesten Ausdrucksform nicht als Konflikt in Erscheinung treten." (Fuchs-Heinritz u.a. 1994, S. 357f.)]

Hinsichtlich ihrer Funktionen für die politische, soziale und ökonomische Ordnung werden soziale Konflikte kontrovers beurteilt. Negativ werden Konflikte am ehesten dann bewertet, wenn bei der Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse ein Harmonie- bzw. Gemeinschaftskonzept zugrunde gelegt wird und die (unveränderte) Erhaltung der bestehenden Ordnung (bewußt oder unbewußt) im Vordergrund des Interesses steht. Konflikte erscheinen dann als Resultat abweichenden, dysfunktionalen oder irrationalen Verhaltens von Personen bzw. Gruppen. Wird demgegenüber davon ausgegangen, daß die Gesellschaft selbst durch Unterschiede, Widersprüche und Gegensätze gekennzeichnet ist, so wird der Konflikt eher positiv, nämlich als Ausdruck und Element sozialen Wandels wie auch als Beitrag zur Stabilisierung und Integration der Gesellschaft interpretiert. [Fn.17: Als positiv werden z.B. Auswirkungen von Konflikten im Bereich der Sozialisierung der Individuen und der Herausbildung von Regeln und Regelstrukturen gesehen. So würden sich die jeweiligen Kontrahenten häufig überhaupt erst im Konfliktverlauf des Vorhandenseins bestimmter Regeln und Normen bewußt. Zudem könne die Konfliktaustragung zur Modifizierung der bestehenden Normen und Regeln bzw. zur Schaffung neuer Gesetze und neuer institutioneller Strukturen beitragen. Wenn im folgendem von „Integration" gesprochen, so liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf der sog. Sozialintegration, also bei denjenigen Problemen gesellschaftlicher Integration, die die Eingliederung von geordneten oder konfliktbeladenen Beziehungen zwischen individuellen oder kollektiven Akteuren in die Gesellschaft betreffen. Im Unterschied dazu geht es bei der sog. Systemintegration um Probleme der Integration von geordneten oder konfligierenden Beziehungen zwischen Teilsystemen, z.B. um Integrationsprobleme, die aus dem Widerspruch zwischen einer gegebenen institutionellen Ordnung und ihrer materiellen Basis resultieren. Eine umfassendere Analyse gesellschaftlicher Integration, gesellschaftlicher Funktionen und sozialen Wandels erfordert grundsätzlich eine Berücksichtigung sowohl der Integration der Handelnden wie auch die der sozialen Systeme (vgl. Schmidt 1995, S. 878).]
Die Bereitschaft bzw. Fähigkeit zur Konfliktaustragung wird von daher auch als ein Kriterium für die Starrheit oder Flexibilität eines sozialen Systems gesehen.

[Seite der Druckausg.: 18 ]

Hinsichtlich der Entstehung, der Austragung und der Folgen von sozialen Konflikten sind auch Gesichtspunkte des Politischen zu berücksichtigen [Fn.18: In Anlehnung an Bobbio wird die „politische Sphäre" als der Bereich verstanden, „in dem die für das kollektive Interesse wichtigsten Entscheidungen getroffen werden" (Bobbio 1988c, S. 52).] Unter den verschiedenen politischen Herrschaftsformen bieten am ehesten Demokratien [Fn.19: Im Sinne einer Minimaldefinition werden zu den kennzeichnenden Merkmalen von Demokratien im allgemeinen die folgenden Prinzipien gezählt: der Grundsatz der Volkssouveränität; politische Freiheits- und Gleichheitsrechte; Verfahren, die das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit regeln; direkte und indirekte Instrumente und Institutionen politischer Willensbildung; das Prinzip der Gewaltenteilung; die Anerkennung unverbrüchlicher Grundrechte; Möglichkeiten der Organisierung von unterschiedlichen Interessen, Meinungen und Überzeugungen sowie ein Mindestmaß an sozialer Gleichheit und Verteilung ökonomischer, sozialer und politischer Macht (vgl. z.B. Shell 1972; Schmidt 1995, S. 205ff.; Guggenberger 1989). Ebenso wie der Begriff der multikulturellen Gesellschaft kann der Begriff der Demokratie deskriptiv-analytisch und normativ gebraucht werden.] die Chance, sowohl eine Integration von Konflikten als auch eine Integration der Gesellschaft durch Konflikte zu erreichen. [Fn.20: Vgl. dazu die in der Politikwissenschaft geführte Kontroverse über das Verhältnis von Konflikten, Konsens und Integration. Während Dubiel (1992) in dieser Hinsicht die These vertritt, daß demokratische Systeme sich nicht über Konsens, sondern über Konflikte integrierten, ist Göhler (1992) der Auffassung, daß Konflikte in demokratischen Gemeinwesen zwar nicht unterdrückt werden dürften, aber nur unter der Voraussetzung nicht desintegrierend, sondern integrierend wirkten, wenn ein Grundkonsens mit formalen, wertrationalen und symbolischen Komponenten anerkannt werde. In Anlehnung an Boudon/Bourricaud gehe ich davon aus, daß es keinen Grund gibt, eine der beiden Kategorien - die des Konflikts oder die des Konsenses - zu verabsolutieren: „(...) eine Gesellschaft ohne Konflikte läßt sich ebensowenig vorstellen wie eine Gesellschaft ohne Konsens" (Boudon/Bourricaud 1992, S. 273). Daraus ergibt sich notwendigerweise das „Erfordernis der Zusammenschau von Konflikt und Konsens" (Balla 1989, S. 354).]
Da die Entfaltung und Artikulation von Meinungen, Überzeugungen und Interessen in individueller und kollektiver Form hier grundsätzlich autonom erfolgt, werden die damit verbundenen Konflikte als „unvermeidlich", „normal" und „legitim" betrachtet. Sie können von daher prinzipiell frei ausgetragen werden. Die Vielfältigkeit und Überlappung von Konflikten vermindert zudem die Gefahr einer dualistischen Aufspaltung der Gesellschaft:

„Als Modell eines politisch sozialen Systems, in dem Konflikt-Verhalten und -Austragung integrierender Bestandteil des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Geschehens ist, gilt die 'pluralistische Gesellschaft'. Konflikt erscheint in ihr positiv und funktional, weil institutionalisiert. Das Gegen- und Miteinander verschiedener Gruppeninteressen, zumal deren Vielfältigkeit, lassen einen Grundkonsens, eine Form der Kooperation und des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen zu." (Lenk 1984,5.290)

Auch wenn die Demokratie insofern unter historischen und systematischen Gesichtspunkten als relativ geeignetste Methode der Konfliktintegration gelten kann, besteht jedoch grundsätzlich keine Garantie dafür, daß diese Prozesse in dieser Form und mit diesem Resultat ablaufen. Denn zum einen müssen hierfür bestimmte Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Konfliktaustragung erfüllt sein. Dazu gehören bei den sozialen Akteuren die Bereitschaft zu Kompromissen und zur Kooperation, der Verzicht auf Gewalt als Mittel der Austragung von Konflikten [Fn.21: "Die so oft verlachten formalen Rechte der Demokratie haben zum ersten Mal in der Geschichte Techniken zur Lösung sozialer Konflikte ohne den Rekurs auf die Gewalt eingeführt. Nur dort, wo diese Regeln eingehalten werden, ist der politische Gegner kein Feind mehr, der vernichtet werden muß, sondern der Opponent, der morgen schon meinen Platz einnehmen kann." (Bobbio 1988b, S. 33) Von anderer Seite ist aber auch darauf hingewiesen worden, daß Konflikte in bestimmten Fällen selbst bei Gewaltanwendung einen Beitrag zur Einheitsbildung und zum sozialen Wandel leisten könnten: „Das ist insbesondere dann wahrscheinlich, wenn der gewaltsame Protest gegen bestehende soziale Verhältnisse auf eine Unvereinbarkeit zwischen zentralen sozialen Normen und faktischen Gegebenheiten aufmerksam macht. (...) Außerdem bietet aggressives und gewalttätiges Verhalten, besonders in devianten Subkulturen, die Möglichkeit, dort sozial mobil zu sein, Achtung, Anerkennung und Prestige zu gewinnen, wo sonst andere gesamtgesellschaftliche Kanäle für sozio-ökonomischen Aufstieg blockiert sind." (Hahn/Riegel 1973, S. 196f.)] und die Anerkennung eines Basis-Konsenses (vgl. unten).

[Seite der Druckausg.: 19 ]

Innerhalb von demokratischen Herrschaftssystemen ist die Wirksamkeit von Integrationsprozessen zudem abhängig von der Art und Weise des jeweiligen politischen Umgangs mit sozialen Konflikten. In dieser Hinsicht lassen sich die folgenden Politiktypen unterscheiden:

  • Laissez-faire-Politiken: Sie beinhalten passive Verhaltensweisen gegenüber sozialen Konflikten und resultieren in der Regel aus deren Leugnung, Verdrängung, Unterschätzung, Idyllisierung oder Romantisierung und/oder der Hoffnung, daß diese sich von alleine lösen.

  • Politiken der Unterdrückung oder Vermeidung von Konflikten: Diese beruhen in der Regel auf einer Überbetonung der von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausgehenden Gefahren und Bedrohungen. Wenn ein unterdrückter Konflikt doch offen ausbricht, wird er gewöhnlich von allen Beteiligten unverhältnismäßig aggressiv geführt.

  • Politiken der Produktion und Verschärfung von Konflikten: Diese ergeben sich entweder als unbeabsichtigte Folge politischen Handelns oder im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Instrumentalisierung für bestimmte gesellschaftspolitische Zwecke, insbesondere zur Durchsetzung von Macht- und Herrschaftsinteressen.

  • Politiken der Regulierung und Integration von Konflikten: Dabei handelt es sich um Politiken, bei denen Konflikte als ein „normales" soziales Phänomen, als legitim und als grundsätzlich positiv für die gesellschaftliche Entwicklung und Integration gesehen werden. Konflikte können im Rahmen und auf der Basis von bestimmten Verfahrensregeln offen ausgetragen werden, ohne daß auf deren Unterdrückung oder eine endgültige „Lösung" abgestellt wird.

Die Chancen für eine demokratische Integration von sozialen Konflikten und eine Integration der Gesellschaft durch Konflikte verbessern sich, wenn im Rahmen des zuletzt genannten Politiktyps die Diskrepanzen, die zwischen dem Anspruch und der Realität der Demokratie bestehen, berücksichtigt und verringert werden. Die fundamentalen Regeln sowie regulativen Ideen, die für die Demokratie kennzeichnend sind, sind nämlich „kein 'finales' Verfassungsereignis und kein 'fertiges' Verfassungskonzept, sondern ein mehrstufiges, immer nur vorläufiges historisches Prozeßresultat" (Guggenberger 1989, S. 131). In diesem Sinne ist Demokratie ein historischer Prozeß, der jeweils von bestimmten gesellschaftlichen Kräften getragen und weiterentwickelt wird und dessen Bestand und Fortsetzung gleichzeitig auch immer aufgrund des Widerstands antidemokratischer Kräfte bedroht ist (Eisfeld 1995, S. 326). Darüber hinaus existieren erhebliche Unterschiede „zwischen den demokratischen Idealen und der 'realen Demokratie'" (Bobbio 1988b, S. 12). [Fn.22: So wird hinsichtlich der westlichen Demokratien von „Strukturdefekten" (Fraenkel 1991 b), „nicht eingelösten Versprechen" (Bobbio 1988b, S. 11 ff.), „Spannungen zwischen Tatsachen und Werten" (Sartori 1992, S. 16) und „fundamentalen Gefährdungen" (Narr/Schubert 1994, S. 179ff.) gesprochen.]
Die demokratischen Prinzipien beschreiben einerseits reale Merkmale westlicher Demokratien, stehen zu dieser aber auch in einer Spannung, da ihr normativer Gehalt bisher nur unvollständig realisiert ist. Insofern weisen die westlichen Demokratien gravierende Probleme, Defizite und Ambivalenzen auf. Strategien und Politiken der Demokratisierung beinhalten, daß diese Defizite vermindert und die Möglichkeiten einer freien und gleichen Selbstbestimmung und Partizipation für Individuen und Gruppen erweitert werden (Held 1991, S. 283ff.; Bobbio 1995, S. 4f.). Die Durchset-

[Seite der Druckausg.: 20 ]

zung dieser Strategien und Politiken ist zwar nicht einfach, da den genannten Diskrepanzen bestimmte historische Prozesse, gesellschaftliche Strukturen und politische Machtverhältnisse zugrunde liegen. [Fn.23: Nach Bobbio konnten die Versprechen der Demokratie aufgrund von Hindernissen, die man entweder nicht vorhergesehen hatte oder die im Gefolge der „Transformationen" der (bürgerlich-zivilen) Gesellschaft hinzukamen, nicht eingehalten werden. Dazu zählt er solche Sachverhalte wie die Herausbildung der Technokratie, das Anwachsen bürokratisch und hierarchisch gegliederter Machtapparate im Zusammenhang mit der Entwicklung zum Dienstleistungs- und Sozialstaat und die unzureichende Fähigkeit demokratischer Systeme, komplexe soziale Probleme zu bewältigen (Bobbio 1988 b, S. 26ff.).]
Gleichwohl ist dies zumindest in einem bestimmten Ausmaß möglich und unter Gesichtspunkten einer wirksameren Integration der Gesellschaft und ihrer Konflikte auch erforderlich. Von daher ist die Integrationsfähigkeit von demokratischen Systemen auch gebunden an deren Fähigkeit zur Umsetzung von „lautlosen Revolutionen"; sie verkörpern insofern „das Ideal der schrittweisen Erneuerung der Gesellschaft über den freien Gedankenstreit und den Wandel der Mentalitäten und Lebensformen" (Bobbio 1988, S. 33). [Fn.24: Die Überlegungen beruhen insofern auf der Annahme, daß Demokratisierungsprozesse einen Beitrag zur Lösung bzw. zum Abbau komplexer sozialer Probleme, im vorliegenden Fall also des komplexen Problems der sozialen Integration leisten können. Demokratisierung wird somit nicht als Gegensatz zur Effizienz, sondern als Beitrag zur Steigerung der Effizienz interpretiert (vgl. Eisfeld 1995). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß auch Demokratisierungsprozesse mit Problemen, Konflikten und Ambivalenzen einhergehen (können) (vgl. Hippler 1994, S. 8; Greven 1993, S. 399ff.). Von daher werden im folgenden auch Probleme und Konflikte, die den Zusammenhang von Integrationspolitiken und Demokratisierungsprozessen betreffen, thematisiert.]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

Previous Page TOC Next Page