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David J. Rothkopf
Ein neuer Gesellschaftsvertrag als Konsequenz der Globalisierung?


Ein paradoxes Zukunftsbild der Welt entsteht. In mancher Hinsicht sehr neu, so modern, wie wir das für ein neues Jahrtausend erhoffen können. In anderer Hinsicht jedoch ist es ein uns nur allzu vertrautes Bild: Es ist das Bild einer Welt, deren zentrale Diskussionen das Echo der Debatten des vergangenen Jahrhunderts zu sein scheinen.

In dieser - neuen - Welt wird der Nationalstaat großen Veränderungen unterliegen. Manche bezeichnen ihn heute bereits als obsolet, obwohl das deutlich zu weit geht. Und doch: Sein Einfluß schwindet, die Machtstrukturen und -verhältnisse wandeln sich. Es sind nicht länger Staaten, die den Preis ihrer Währungen bestimmen, und damit meine ich nicht die Einführung der Europäischen Währungsunion, die meines Erachtens nur die Schaffung einer neuen, komplementären Regierungsform ist, die in vielem an den Nationalstaat erinnert. Ich spreche vielmehr von den 1,3 Billionen Dollar, die das tägliche Handelsvolumen auf den Devisenmärkten der Welt ausmachen. Würden die gesamten Geldbestände der Zentralbanken in der Welt in diesen globalen elektronischen Markt fließen, wären die Banken nicht in der Lage, diese Ströme umzuleiten. Ein bißchen Drücken hier, ein bißchen Schieben dort, aber ein Versuch, mittels der altmodischen Korrektive zu intervenieren, wäre im großen und ganzen müßig.

Die Erosion der Macht der Regierungen geht jedoch noch tiefer. Die zunehmende Bedeutung der elektronischen Märkte macht die globalen Finanzmärkte zur neuen Wählerschaft, deren Bedürfnisse Regierungen berücksichtigen müssen. Die tägliche Entscheidung über den Staatshaushalt, Handelsinitiativen, Steuer- und andere Reformen, selbst die Tatsache, ob ein Staatsoberhaupt sich einer medizinischen Untersuchung unterzieht oder nicht, bewegt Märkte und, unter gewissen Umständen, Kapital, so daß Summen in Märkte hinein- und aus ihnen abfließen.

Die schwindende Bedeutung des Nationalstaates setzt sich fort: Das Wachstum des E-Commerce löst die lokale Bindung von Handels- und Geschäftstätigkeit

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auf. Dies bezieht sich nicht nur auf Finanztransaktionen, sondern auf den Verkauf von Dienstleistungen und Übertragungen geistigen Eigentums von beträchtlichem Wert - von Software bis zum Produktdesign. All das kann im Cyberspace stattfinden und wird damit zunehmend schwerer zu besteuern sein. Steuern jedoch sind eine wesentliche Grundlage der Regierungsmacht, bestimmen den Wert einer Währung, und sie sind bedroht.

Gleichzeitig werden die Linien, die Regierungen als Staatsgrenzen „definieren", zunehmend porös und verschwommen. Früher konnten Staaten ein paar Grenzkontrollstellen, über die Handel und Verkehr liefen, überwachen. Selbst heute gibt es noch achtzig derartige Kontrollpunkte an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Durch elektronischen Handel können jedoch Millionen dieser Übergänge entstehen. Darüber hinaus wird es durch die neuen Transporttechnologien und weltweiten Verbindungen zunehmend schwieriger, den Strom von Menschen und Waren zu kontrollieren. Regierungen könnten den Versuch unternehmen, Informationsflüsse zu kontrollieren. Doch Bemühungen, wie die Frankreichs zur Bewahrung der französischen Kultur, sind zum Scheitern verurteilt und erinnern mich bestenfalls an Canutis, den englischen König der Vergangenheit, der seinen Thron an das Ufer der Themse stellte und die Fluten zurück ins Meer befahl. Die langsame, aber sichere Entstehung einer Weltkultur ist eine Tatsache - und sie ist irreversibel.

Die neuen Technologien bedrohen die Staatsmacht auch in anderer Hinsicht: Es ist nicht mehr länger das exklusive Privileg der Regierung, anderen Gesellschaften schwere Schäden zuzufügen, Einfluß auf globale Fragen zu nehmen oder gegeneinander zu spionieren. Heute kann ein Cyber-Terrorist in Köln in das Netzwerk der Macht in Rußland oder die Finanzmärkte New Yorks eindringen, Störungen verursachen oder sie abkoppeln und damit internationales Chaos anrichten. Eine kleine Gruppe kann - ohne staatliche Unterstützung - genug biologisches Gift in einem Koffer transportieren, um eine Millionenstadt zu vernichten. NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) nutzen bereits heute das Internet und die globalen Elektronikmedien, um Regierungen zu zwingen, Entscheidungen zu revidieren. Entsprechend nutzen sie diese neuen Werkzeuge, um trotz drastischer staatlicher Kontrolle politische Veränderungen zu erzielen. Vor zehn Jahren hatten nur die Gemeinde der Aufklärer und die Geheimdienste die Ressourcen, um Satelliten zu bauen, mit denen man aus dem Weltraum Spionage betreiben konnte.

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Heute gibt es allein in den USA drei oder vier Unternehmen, die Satellitenbilder mit einer Auflösung von mehr als einem Meter anbieten, ausreichend, um die Bewegung eines beliebigen Fahrzeugs, gleichgültig an welchem Ort der Erde, zu verfolgen.

Gleichzeitig hat die Globalisierung zu einem wachsenden Bedarf an supranationalen Organisationen geführt, die sich mit grenzüberschreitenden Fragen wie Umwelt, Proliferationsverbot, Arbeit, Kontrolle von Infektionskrankheiten befassen. Wirtschaftliche Grenzen entsprechen nicht länger politischen Grenzen. Neue Institutionen zum Management regionaler Wirtschaftsfragen sind entstanden, und diese befassen sich nicht allein mit der Ökonomie. Meinen Zuhörern sind die von mir angeführten Phänomene natürlich vertraut.

Wie schon gesagt: Diese Veränderungsprozesse waren für einige Grund, vom Untergang des Nationalstaates zu reden. Doch es spuken die alten Geister wieder, die wohlbekannten Sorgen, die vermutlich dazu beitragen werden, daß es auch noch in absehbarer Zukunft Staaten geben wird.

Denn trotz des großen Wandels, den ich kurz beschrieben habe, müssen wir anerkennen, daß wir unsere Aufmerksamkeit auch wieder auf durchaus traditionelle Fragen richten.

Das wichtigste Thema unserer Zeit ist wohl der durch die Globalisierung möglich gemachte Zugang von zwischen einer und eineinhalb Milliarden Menschen aus den sich entwickelnden Märkten zur Welt der Arbeit. Diese werden nur zu 80% die Produktivität der Arbeitskräfte in den entwickelten Ländern erreichen, doch sie arbeiten für zehn bis fünfzehn Dollar am Tag.

Wir werden daher in den entwickelten Ländern entscheiden müssen, ob wir versuchen, ihre Aufnahme in die Weltwirtschaft zu verhindern, oder ob wir sie bereitwillig integrieren. Wehren wir uns gegen ihren Zugang, provozieren wir gefährliche soziale Unruhen - weltweit. Dies spielt eine große Rolle, vor allem angesichts der von mir zuvor angesprochenen Fähigkeit von Terroristen - oder relativ kleinen Ländern -, die neuen Technologien als effektives Mittel zum Führen ungleicher Konflikte und Auseinandersetzungen mit wesentlich stärkeren Gegnern zu nutzen. Wir könnten dieses Phänomen als „David-Effekt" bezeichnen: ein kleiner Gegner mit der richtigen Technologie kann einen wesentlich stärkeren Feind besiegen. Erst kürzlich stellte der amerikanische Verteidigungsminister William Cohen fest, daß bereits 25

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Nationen über die Kapazität zur Entwicklung, Produktion und Stationierung von Massenvernichtungswaffen verfügen, und bis zum Ende dieses Jahrzehnts werden 20 möglicherweise die entsprechenden Raketen haben. Sie sehen: Das Fördern von Unruhe in diesen stärker werdenden Ländern liegt eindeutig nicht in unserem Interesse und hätte einen hohen Preis.

Die Aufnahme der neuen Arbeitskräfte in den Kreis der Arbeitskräfte weltweit führt zu enormen Ungleichgewichten auf den globalen Arbeitsmärkten wie auch zu politischen Unruhen in den betroffenen Ländern.

Aus diesem Grund schürt das Zurückdrängen der Globalisierung die ökonomisch geprägten nationalistischen Bestrebungen überall auf der Welt. In den Vereinigten Staaten ist das der Grund für die kürzlich erfolgte Abstimmung im Kongreß, durch die Präsident Clinton das Recht auf das Aushandeln von Handelsabkommen im Rahmen der sogenannten „fast-track authority" genommen wurde. Seit den frühen siebziger Jahren war es das erste Mal, daß der Kongreß einem Präsidenten der USA dieses Recht verweigerte. Gleichzeitig ist eine starke politische Bewegung in den USA entstanden, die sich gegen die vielfältigen Formen der Integration und des Engagements der Vereinigten Staaten in der Weltwirtschaft richtet: in Frankreich Jean Marie Le Pen, in Österreich Jörg Haider, Schirinowski und Lebed in Rußland. In Indien gibt es Kräfte, die sich gegen den Verkauf von Kentucky Fried Chicken in Karnataka und andere ausländische Produkte im Land wenden; in Malaysia führt Premierminister Mahathir eine Kampagne gegen die Verschwörung der internationalen Finanzmärkte gegen sein Land. In Lateinamerika spricht die neue Generation der politischen Führer zunehmend über die Suche nach einem „Dritten Weg" als Alternative zum „Konsens von Washington", so daß sie sich sozial abgefedert modernisieren können, sehen doch viele von ihnen eine zunehmende soziale Ungleichheit als Folge der Globalisierung. Auch die Debatte in Deutschland konzentriert sich auf diese Fragen, und es gibt eine Reihe von Konferenzen wie diese, um das Thema zu diskutieren.

Die Märkte sind mächtiger denn je, und sie beschneiden die Macht der Regierungen. Die Technologie verändert das Wesen der globalen Machtstrukturen an sich, denn es kommt zu dem, was ich kürzlich in einem Vortrag „Cyberpolitik" genannt habe: Die alten Wahrheiten der Realpolitik verändern sich durch die neuen Realitäten einer Welt der Informationstechnologie, die sich durch die Phänomene der fehlenden Vermittlung, Entortung,

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Auseinanderfallen, Dekonzentration, Asymmetrie, Beschleunigung, Ausdehnung, Virtualität und Herstellung von Verbindungen wandelt.

Gleichzeitig ist eine der wichtigen Lektionen der achtziger und frühen neunziger Jahre eindeutig, daß, gleichgültig wie mächtig sie werden, Märkte gewissenlos sind, und man ihnen nicht gestatten darf, die letztendlichen Schiedsrichter über das Wohlergehen der Welt zu werden. Wenn sie es würden, blieben die Alten und Nicht-Wettbewerbsfähigen auf der Strecke. Einige haben über das sogenannte „Ende der Geschichte" geschrieben, an dem alle Fragen der politischen und ökonomischen Philosophie beantwortet wären. Doch es scheint, daß diese neue Ära sich wiederum an den Fragen spaltet, die auch die Verwerfungen der menschlichen Beziehungen im vergangenen Jahrhundert geprägt haben: Wie kann der von einer Gesellschaft geschaffene Reichtum gerecht verteilt werden?

Diese neue Welt, die sich deutlich von der aus der Zeit des Kalten Krieges unterscheidet, ist ihr in vieler anderer Hinsicht ähnlich. Sie ist denkbar als im wesentlichen bipolare Welt mit einer natürlichen Allianz der entwickelten Länder, die wir als die Kräfte der Stabilität bezeichnen würden, da sie den Status Quo und die von den Märkten gewünschte Vorhersehbarkeit erhalten wollen, und einem anderen Bündnis der sich entwickelnden Länder, die vielleicht nicht als Gruppe agieren, aber doch einen gemeinsamen Effekt erzielen, denn sie kämpfen um einen größeren Marktanteil und konkurrieren um Kapital und ihren Platz am Tisch. Sie könnten damit zu Quellen der Instabilität werden, denn ihr Erfolg oder Scheitern führt zu Konflikten und/ oder erfordert eine Intervention der entwickelten Welt. Und wie in der Zeit des Kalten Krieges konzentriert sich die Welt auf die Diskussion über eine gerechte Verteilung des Reichtums.

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Von Märkten unerreicht: Die Rolle der Regierungen

Die jüngere Geschichte hat gezeigt, daß die Ära der Staaten oder stark gemischter Ökonomien zu Ende gegangen ist. Der Großteil des Kapitals in der Welt wird von Märkten kontrolliert und fluktuiert. Es fließt in Länder, die durch Stabilität, Transparenz, Wachstumsperspektiven und andere Hauptmerkmale gekennzeichnet sind, die den Preis für den Zugang zum Weltwirtschaftssystem darstellen. Länder, die diese Eigenschaften nicht aufweisen, werden schnell in den Hintergrund gedrängt werden.

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Die geschlossenen kommunistischen Gesellschaften waren in dieser Welt nicht wettbewerbsfähig, denn sie verweigerten sich gegenüber dem Sauerstoff moderner Märkte für ihre wirtschaftlich lebenswichtigen Organe: dem freien Informationsfluß. Im wesentlichen staatlich gelenkte oder verstaatlichte Ökonomien sind keine Konkurrenz, denn die staatliche Einmischung unterbricht die Verbindung zwischen der Institution und dem Markt, dient nicht als Anreiz für Manager zur Innovation oder bei der Suche nach neuer Effizienz. In der Regel wirkt dies auch gegen Beschäftigungsanreize, denn die Kosten für die garantierte Arbeit sind hoch. Deshalb stagnierte Europa in den vergangenen zwanzig Jahren, deswegen konnten hier nur wenige neue Arbeitsplätze geschaffen werden, während die USA 30 bis 40 Millionen neue Stellen einrichteten.

Die Anerkennung der Tatsache, daß Märkte ihren eigenen Bedürfnissen dienen und weniger die weitergehenden Interessen der Gesellschaft berücksichtigen, bedeutet jedoch, daß Regierungen intervenieren müssen. Märkte sind keine Makler im Verhältnis zwischen den Besitzenden in der Weltwirtschaft und den Armen, zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, und dies zu politisch akzeptablen Bedingungen. Deshalb obliegt es der nächsten Generation der Regierenden, neue Wege staatlicher Intervention zu entwickeln, die den fundamentalen Kräften und Wünschen der Märkte nicht entgegenstehen.

Wir müssen zunächst zur Kenntnis nehmen, daß die Wahl zwischen einem wirtschaftlich nicht nachhaltigen Populismus und politisch nicht nachhaltiger Wirtschaftsreform eine falsche ist. Vielen in der sich entwickelnden Welt scheint dies das zu sein, was Ökonomen und Politiker im Zusammenhang mit dem sogenannten Washingtonkonsens oder Schocktherapien einerseits und dem altmodischen Euro-Sozialismus andererseits anbieten. Dies ist auch die von den Wirtschaftsnationalisten der entwickelten Welt vorgeschlagene Entscheidung in ihrer Auseinandersetzung mit den Advokaten des Freihandels und der freien Märkte.

Wir müssen anerkennen, daß Regierungen das tun können, was Märkte nicht können. Das beinhaltet die Gewährleistung von Sicherheit und die Vermittlung in internationalen Foren im Interesse der Bürger, die Behandlung transnationaler, nicht-marktgebundener Probleme wie Umwelt oder Proliferationsverbot. Dies sind quasi selbstverständliche Bestandteile des sozialen Gefüges. Aber es geht weiter. Die Antwort, wie weit, findet sich in

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der Realität, die darin besteht, daß von den drei Grundpfeilern der Nationalökonomie - Land, Arbeit und Kapital - das Kapital sich größtenteils von nationalen Grenzen freimachen konnte und daß sein Fluß jetzt von den Märkten bestimmt wird. Nur eine gelegentliche, zeitlich beschränkte Einflußnahme, Umleitung oder Ausgleich ist durch Regierungshandeln möglich. Die Staatsregierungen werden zunehmend feststellen, daß ihre Rolle im neuen sozialen Gefüge darin besteht, Kapital anzuziehen, um den Bedürfnissen des nationalen Arbeitsmarktes zu genügen und die Entwicklung von Vermögen im Land zu fördern und zukünftige Wirtschaftsaktivität, Stabilität und bessere Lebensbedingungen zu stimulieren.

Daher sollten Staaten nicht einspringen, um den Erwerbstätigen zu helfen, wenn der Markt dies nicht tut, sondern sehen, wie sie den Markt dazu bringen, die Bereiche zu fördern, die keine ausreichende Leistung bringen. Das bedeutet weniger Arbeitsplatzgarantie oder Arbeitslosenhilfe - was einen verringerten Anreiz für Kapital und Wachstum mit sich bringt - und eine stärkere Konzentration auf Bildung, Ausbildung und Investitionen in die Infrastruktur. Weniger Wohlfahrt und mehr von dem, was in den Vereinigten Staaten als „workfare", Arbeitsförderung, bezeichnet wird. Das bedeutet Sozialreformen, die die Zukunft sichern und von lebendigen Märkten abhängig sind, die die Leistungen erbringen, wie z.B. die Privatisierung und Teilprivatisierung der Sozialversicherungs- und Rentensysteme. Das bedeutet auch geringere Steuereinnahmen und höheren Ertrag durch Wachstum. Das bedeutet geringere Exportfinanzierung, denn das können die Märkte bieten, und stärkere Investitionsförderung. Es bedeutet Anreize für die Märkte und spart nationale Ressourcen durch eine umfassende Umweltpolitik.

Diese neuen Strategien müssen ergänzt werden durch weitere Veränderungen, die schwieriger zu erreichen sind. Wenn die Macht der Märkte gegenüber dem Staat zunimmt, indem nicht-staatliche Akteure immer größeren Einfluß auf der globalen Bühne bekommen, wenn Grenzen weniger wichtig werden und Wirtschaften sich flexibler regional und jenseits politischer Demarkationslinien gruppieren, wird ein immer größerer Teil des Lebens aller durch Kräfte kontrolliert werden, die nicht länger dem Einfluß gewählter Vertreter unterliegen. In dem Maß, in dem Unternehmen zu internationalen Organisationen werden, und manche von ihnen wollen überhaupt keine Bindung an ein Land mehr, werden die Arbeitgeber immer schwerer von

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den durch die Arbeitnehmer zur Vertretung ihrer Interessen gewählten Politikern zu überwachen sein.

Einige behaupten, ein solcher Rückgang staatlichen Einflusses wäre gut, eine natürliche Fortsetzung aktueller Trends, ein Schritt hin zu freieren Gesellschaften. Aber das erscheint naiv. Denn diese Trends bedeuten auch, daß die soziale Kontrolle über die Strukturen, deren Teil die Bürger eines Landes sind, geringer wird, daß die Demokratie im Nationalstaat ihnen nicht länger erlaubt, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Und wenn dies ein Trend in Richtung von Regierungssystemen ist, die gerechter sind oder die Rechte des einzelnen besser schützen oder in Richtung mancher Gesellschaften in Asien gehen, dann wird es sicher Mittel geben, den Untergang des Nationalstaats zu verhindern, die auf die eine oder andere Art zur Schaffung neuer Institutionen oder zu Vereinbarungen zwischen den Akteuren, die die soziale Wohlfahrt beeinflussen, führen. Einige werden freiwillig durch die Wirtschaft erfolgen in Anerkennung der Tatsache, daß, wenn sie sich nicht um ihre Arbeitskräfte kümmern, andere Möglichkeiten gefunden werden, um das zu erreichen. Andere werden vielleicht durch die neuen regionalen und transnationalen Organisationen gezwungen, denn diese wird es geben, um auf regionaler oder globaler Basis Mindeststandards zu gewährleisten. Manchmal wird die Entwicklung quasi natürlich, sanft verlaufen. In anderen Fällen wird es sich um Reaktionen auf unerwartete Ereignisse handeln, Konflikte, Krisen usw. Außer Frage steht jedoch: Diese Veränderungen werden gefordert werden, und sie werden eintreten. Das Problem besteht somit darin zu vermeiden, daß es sich schlicht um eine Reaktion auf schwierige Umstände handelt, denn dies birgt die Gefahr der Überkompensation und Überreaktion, so daß es letztlich zu einer Beschränkung der Freiheit und der Märkte kommt.

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Die Architekten eines neuen sozialen Gefüges

Weltweit stehen diese Fragen zunehmend im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit einer neuen Generation politischer Führer, der New Democrats in den Vereinigten Staaten, der „New" Labour in Großbritannien oder der Allianza in Argentinien. Möglicherweise stehen wir am Anfang einer neuen, globalen politischen Ära, ähnlich der Zeit, in der wir die Siege Margaret Thatchers, Ronald Reagans, Helmut Kohls und anderer erlebten. Diese Ära ist eine natürliche Reaktion auf das, was geschehen ist. Eine Zeit für eine Mitte-Links-Sensibilität,

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die sowohl die Macht der Märkte als auch fiskalische Vorsicht und ein soziales Gewissen respektiert. Extrem linke Ansichten führen dazu, daß das Kapital in die neuen Märkte fließt. Sie sind im globalen Umfeld heutiger Zeit nicht länger haltbar. Extrem rechte Ansichten führen zu den gleichen Folgen wie Protektionismus, Versuche der Überregulierung und andere, nicht angemessene Maßnahmen. Eine neue Generation von Politikern taucht in allen Ländern, die ich bereise, auf, und sie bemüht sich um ein Gleichgewicht in diesem neuen globalen Umfeld - ein Gleichgewicht zwischen Markt und Gewissen, individuellen Interessen und den Anliegen der Gemeinschaft, nationalen Interessen und denen, die grenzüberschreitend bestehen.

Das akzeptable Gleichgewicht mag von Region zu Region verschieden sein, von asiatischen Modellen, die stärker zentralistisch sind und weniger die Interessen des einzelnen berücksichtigen, bis zum amerikanischen Konzept, das das genaue Gegenteil davon darstellt. Aber auf der Suche nach dem Gleichgewicht finden sich mehr und mehr Beispiele der Konvergenz in einem globalen Kontext, eine marktgetriebene Konvergenz mit umfassenden politischen und kulturellen Implikationen.

Eine andere Veränderung wird sich in bezug auf den Gesellschaftsvertrag ergeben, der nicht länger nur zwischen Individuum und Staat besteht, sondern durch viele Vereinbarungen ersetzt werden wird, zwischen Individuum und Staat, Individuum und dem Arbeitgeber als einem nichtstaatlichen Akteur von zunehmender Bedeutung und mit Ansichten, die sich von denen des Staates unterscheiden, zwischen Individuum und regionalen und supranationalen Einheiten und, in gewisser Hinsicht, zwischen Individuum und der zunehmend stärker wahrnehmbaren globalen Gemeinschaft als ganzer.

Da das Kapital global ist und nur einem Satz von Regeln unterliegen will, wird es zu einem bedeutenden Motor für die kulturelle Konvergenz werden, wird diejenigen belohnen, die auf dieses Ziel hinarbeiten und die bestrafen, die Widerstand dagegen leisten. Damit werden die Märkte zu den Haupttriebfedern hin zu einem neuen Gesellschaftsvertrag, selbst wenn dieser als die Märkte nur selektiv und angemessen beeinflussend gesehen wird.

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Referenten, Tagungs- und Diskussionsleitung

Dr. Wilhelm Adamy, Leiter der Abt. Arbeitsmarktpolitik, Deutscher Gewerkschaftsbund, Düsseldorf

Dr. Hans J. Barth, Geschäftsleitung, Prognos AG, Basel, Schweiz

Holger Börner, Ministerpräsident a.D., Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Norbert Burger, Oberbürgermeister der Stadt Köln

Wolfgang Clement, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Dr. Heiner Flassbeck, Leiter der Abt. Konjunktur, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin

Karl Hermann Haack, MdB, SPD-Bundestagsfraktion, Bonn

Prof. Dr. Ingomar Hauchler, MdB, SPD-Bundestagsfraktion, Bonn

Bertil Jonsson, Vorsitzender des Schwedischen Gewerkschaftsbundes (LO), Stockholm, Schweden

Peter König, Abt. Arbeits- und Sozialforschung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Oskar Lafontaine, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Bonn

EIga Lehari, Handelsblatt, Düsseldorf

Tomas Lundin, Bonner Korrespondent, Svenska Dagbladet, Schweden

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Dr. Ursula Mehrländer, Leiterin der Abt. Arbeits- und Sozialforschung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Ad Melkert, Minister für Soziales und Arbeit, Den Haag, Niederlande

Prof. David J. Rothkopf, Direktor, Kissinger Associates, New York, USA

Michael Sauga, Focus, Büro Bonn

Rolf Dietrich Schwartz, Frankfurter Rundschau, Büro Bonn

Dr. h.c. Lothar Späth, Vorsitzender des Vorstandes, JENOPTIK AG, Jena

Wolfgang Thierse, MdB. Stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, Bonn

Willem Wansink, Bonner Korrespondent, Elsevier, Niederlande

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Auf den Seiten 155-162 der Druckausgabe wird ein Überblick über die bisher erschienenen Ausgaben der Schriftenreihe "Gesprächskreis Arbeit und Soziales" gegeben. . Bitte benutzen Sie zu Ihrer Orientierung im Internet die Datenbanken der Bibliothek:




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