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Frank Ulrich Montgomery
Wo liegen die Grenzen der Medizin?

Bisher galt im Gesundheitswesen der Satz: „Was qualitativ hochwertig erbracht, also „gut" ist, ist auch wirtschaftlich!"

In dieser Beziehung leben wir noch immer auf einer für Patienten und Ärzte weitgehend erhaltenen Insel der Glückseligkeit, nämlich: uns fast alles noch leisten zu können. Diese Eingangsfeststellung ist mir wichtig, denn wenn man die politische Diskussion betrachtet, den zunehmenden Kostendämpfungsdruck und auch die Weltuntergangsszenarien, die um uns herum gezeichnet werden, dann verliert man oft aus den Augen, daß wir es in Deutschland noch immer mit einem hochentwickelten, weitgehend verteilungsgerechten und qualifizierten Gesundheitssystem zu tun haben. Das soll uns nicht davon abhalten, es noch besser zu machen; nur wir sollten es auch nicht schlechter machen, als es in Wirklichkeit ist.

Schauen wir in die Zukunft, dann müssen wir uns mit den Fragen befassen:

  • Können wir weiterhin automatisch akzeptieren, daß alles, was gut ist, auch wirtschaftlich ist?

  • Wir müssen uns weiter fragen, ob alles, was gut und wirtschaftlich ist, auch automatisch den Menschen zugute kommen muß und

  • wir müssen uns aber auch mit der Frage auseinandersetzen: Ist denn alles, was wirtschaftlich ist, auch automatisch gut?

Beginnen wir mit dem Umkehrschluß: Alles, was wirtschaftlich ist, ist auch gut.

Ich bin Radiologe an einer Universitätsklinik, also Schulmediziner bis ins Mark. Ich habe mich trotzdem immer wieder mit „Naturheilverfahren" bis hin zur Außenseitermedizin befaßt. Was dort geschieht, ist sicher preisgünstig, manches sogar billig und wird deswegen von vielen wirtschaftlich genannt. Mit der Qualität aber ist es so eine Sache, die zu beweisen unendlich schwer ist - nur in wenigen Fällen ließ sich bisher ein wissenschaftlich haltbarer „Qualitätsnachweis" führen. Daraus wird flugs ein

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Gedankengebäude entwickelt; die wahren Dogmatiker der Naturheilverfahren argumentieren, der Beweis der Qualität, ja nicht einmal der Wirksamkeit, könne mit den Mitteln der Schulmedizin gar nicht gelingen, hier müßten andere Qualitätskriterien gelten. Wie aber mißt man wissenschaftlich Suggestion und Autosuggestion - oder anders: frommen Schwindel und Selbstbetrug? Wie also bestimmt man das Verhältnis von Qualität und Wirtschaftlichkeit?

Warum ich das anführe? Wir geben immerhin nachgewiesene 12 Mrd. DM im Jahr für Naturheilkunde aus, und ich behaupte, es ist sogar noch viel mehr, weil vieles, was eigentlich Schamanentum ist, in anderen Abrechnungsziffern und anderen Therapie- oder Diagnosemodalitäten verschwindet.

Und: Engagierte Verfechter alternativer medizinischer Verfahren gibt es auch im Hohen Hause des Bundestages mehr als Ärzte: Minister Seehofer weiß immer wieder im Rahmen der Debatten um das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) wie auch um das Arzneimittelgesetz spannend zu berichten, wie viele Abgeordnete ihre persönlichen Erfahrungen und Wünsche über Außenseiterverfahren in der Medizin über alle Parteigrenzen hinweg in ihre Entscheidungen einfließen lassen. Die große Koalition der Bach-Blüten-Therapieanhänger, Kneippianer und Kräuterfreaks ist heute schon stabiler als der Kompromiß von Lahnstein je war!

Dabei sind sich unsere Abgeordneten vielleicht nicht immer im klaren, daß sie am Scheideweg einer Debatte um die Frage von Rationalisierung und Rationierung, am Punkte, wo durch Ausgrenzung von Leistungen gespart werden soll, durch eine emotional gefärbte Entscheidung riskieren, auf nachgewiesenermaßen wirksame Dinge zu verzichten zugunsten von Verfahren, deren Wirksamkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit in herkömmlichen Meßverfahren gar nicht zu belegen ist. Eine heilige Kuh also, gegen die ja bekanntermaßen selbst Rinderwahnsinn nur schwer ankommt.

Ins Grundsatzprogramm der SPD hat sie zumindest auch Eingang gefunden. Im Programm von Berlin 1989 heißt es auf Seite 33:

„Die Vielfalt sinnvoller medizinischer Ansätze, einschließlich der Naturheilverfahren, darf jedoch nicht durch Interessenmacht unterdrückt werden.

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Jedem Kranken ist, unabhängig vom Einkommen, eine Behandlung zu ermöglichen, die dem Stand medizinischer Wissenschaft entspricht. Alle haben das Recht auf freie Wahl des Arztes und der Behandlungsmethoden, auch solche der alternativen Medizin. "

Neben der Qualität - wie auch immer bestimmt - und der Wirtschaftlichkeit - wie auch immer gemessen - haben wir es also auch noch mit einem anderen, dem politischen Parameter, zu tun. Damit aber macht die Politik es sich sehr schwer - und uns natürlich auch.

Ein weiteres schönes Beispiel dafür sind „Kuren".

„Morgens Fango, abends Tango", titelte neulich „DIE ZEIT". Dieser Schlammtanz hat das Sozialsystem im letzten Jahr immerhin 15 Mrd. DM gekostet, 9 Mrd. die Rentenkassen, 4,3 Mrd. die Gesetzliche Krankenversicherung und 2,3 Mrd. die Berufsgenossenschaften. Nicht unerwähnt bleiben dürfen aber auch noch einmal etwa 5 Mrd. DM „Eigenbeteiligung" der Genesenden!

Was uns erstaunen muß: In den meisten vergleichbaren Ländern der Welt ist der Begriff der Kur unbekannt - haben Sie einmal versucht, einem US-Amerikaner zu erklären, warum die Bayern alle zur Genesung an die Nordsee und wir armen Flachländer in die Berge müssen?

Selbst bei unseren sozial ja beileibe nicht unterentwickelten Nachbarn in den Niederlanden ist der Begriff der Kur unbekannt - die damit verbundene Karawane Kranker ein deutsches Mysterium.

Böse Zungen behaupten, daß läge daran, daß das ganze Land so platt sei; noch bösere, daß die Holländer nun mal keine Bayern haben - aber wenn, dann hätten auch sie den Charme der Kuren längst entdeckt!

Natürlich gibt es auch rationale Argumente für Kuren. Eine 4-wöchige Kur kostet etwa 7.000 DM. Gelingt es dank Kur, einen vorzeitigen Rentenfall mit einem Rentenanspruch von 1.500 DM nur um 5 Monate hinauszuschieben, hat sich die Sache schon gelohnt. Die Einzahlungen des weiter arbeitenden Berufstätigen in das Sozialversicherungssystem nicht einmal mitgerechnet.

So etwas Sinnvolles gibt es natürlich in anderen Ländern auch, nur eben am Wohnort des Kranken und ohne touristische Begleiterscheinungen und -kosten!

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Andere Länder schaffen hier also gleiche Qualität mit deutlich niedrigeren Kosten - gemeinhin wirtschaftlicher genannt. Warum also gelingt dies nicht bei uns?

Wir sind bei dem verminten Thema des Besitzstandsdenkens angekommen. Davon sind auch Politiker nicht frei: Sie wollen nicht nur wiedergewählt werden, sie sollen ja auch Interessen transportieren und verteidigen. Sie sind für den gerechten Ausgleich zuständig!

In kaum einem anderen Bereich unseres Zusammenlebens aber gibt es so viele Interessen und Besitzstände zu verteidigen oder auszugleichen wie im Gesundheitswesen. 300.000 direkt vom Angebot an Kurleistungen abhängige Arbeitnehmer in den Kurorten erinnern uns daran, daß das Gesundheitswesen eben auch - bei allen eigentlich doch wertfreien Betrachtungen über Qualität und Wirtschaftlichkeit - einer der dominierenden Wirtschaftsfaktoren dieses Landes ist.

Axel Horstmann, der Gesundheitsminister in NRW, hat darauf vor kurzem in einer Rede vor dem Industrie- und Handelsclub in Ostwestfalen-Lippe hingewiesen:

In der Debatte um die Reform des Gesundheitswesens wird viel zu selten die ökonomische Dimension dieses Sektors beachtet.

Richtig ist aber: Mit 8,9% Anteil am BIP ist das Gesundheitswesen die größte Dienstleistungsbranche unserer Volkswirtschaft.

Die medizinischen Einrichtungen und die Krankenkassen beschäftigen weit über 2 Millionen Menschen, die knapp 300 Mrd. DM im Jahr erwirtschaften.

Alle Bereiche des Gesundheitswesens, zusammen mit den Komplementärfunktionen dürften zur Zeit sogar um die 500 Mrd. DM Wirtschaftsleistungen umfassen.

Dieses Gesundheitswesen ist ein Wachstumsmarkt. Es gehört zu den wenigen Branchen, in denen auch für die Zukunft mit einem Beschäftigungsanstieg zu rechnen ist.

Das Gesundheitswesen als Wachstumsmarkt: Das gerade wird auch von einer brandneuen hochinteressanten Studie der BASYS GmbH aus Augsburg belegt. So stieg die Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter

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im Gesundheitswesen von 1980 bis 1995 von 997.000 auf 1.557.000; da die Arbeitsplätze in der Gesamtwirtschaft aber nur von 21 auf 22,5 Millionen gestiegen sind, hat sich der Beschäftigungsanteil des Gesundheitswesens von 4,7% auf 7,0% erhöht!

Dabei stieg der Anteil der GKV-Ausgaben aus Sachleistungen - also auf diesen Personalsektor bezogen - nur von 5,2% auf 5,5%, und damit deutlich niedriger. Das heißt: Die Beschäftigungszuwächse sind mit unterdurchschnittlichen Einkommenszuwächsen erzielt worden.

Oder mit anderen Worten: Billiger, effektiver und den Menschen dienlicher konnten neue Arbeitsplätze gar nicht geschaffen werden!

Ein erstes Zwischenergebnis meiner Überlegungen könnte also sein:

Die Betrachtungen von Qualität und Wirtschaftlichkeit werden relativiert, weil sie in gesamtgesellschaftliche Probleme eingebettet sind. Dieses trifft ganz besonders auf Dinge zu, die es schon gibt, die man also abschaffen oder weglassen müßte. Am Beispiel der Naturheilverfahren wollte ich eine typische dogmatische heilige Kuh zeigen; bei den Kuren ging es mir darum, den Einfluß der gesamtwirtschaftlichen Betrachtung zu erhellen.

Wenden wir uns jetzt der Frage zu: Können denn Qualität und Wirtschaftlichkeit überhaupt in eine rationale Beziehung zueinander gesetzt werden, die es uns von vornherein ermöglicht, den Verzicht auf eine Methode zu postulieren?

Ich habe eben versucht aufzuzeigen, wie schwer das angesichts dogmatischer Heil- und Diagnoseverfahren sein kann. Also auch bei nicht nachgewiesener Qualität fällt der Ausschluß schwer.

Wie aber weist man Wirtschaftlichkeit nach? Bruckenberger aus Hannover zitiert immer, daß 500 Herztransplantationen so viel kosten wie der Betrieb von fünf 200-Betten-Kreiskrankenhäusern, die immerhin über 25.000 Patienten in einem riesigen Einzugsgebiet versorgen.

Qualitativ hochwertig werden beide Leistungen erbracht. Wie priorisieren wir aber die Wirtschaftlichkeit?

Einige Gesundheitsökonomen, die sich damit befaßt haben, haben aus den Dilemmata dieser Debatte längst ihre Schlüsse gezogen. Sie raten uns davon ab wegen der erkennbaren Unmöglichkeit dieses Lösungsweges.

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Mehr noch, sie beweisen, daß das, was ethisch vertretbar zur Ausgrenzung überbleibt, den Charakter von „Peanuts" hat - also die Mühe nicht lohnt.

Ich verdanke Griesewell aus dem BMG einen Aufsatz, von dem ich nicht weiß, ob er von ihm selber stammt, in dem aber steht:

Die Reduzierung des Leistungskatalogs der Krankenkassen auf das wie auch immer definierte „Notwendige" kann lediglich zu einer einmaligen Niveausenkung der Ausgaben führen. Die Kostendynamik, d.h. die den Anstieg der Gesundheitsausgaben bestimmenden Faktoren, werden dadurch nicht abgeschwächt. Sie können im Gegenteil, wie die Erfahrungen aus dem Gesundheits-Reformgesetz gezeigt haben, zusätzliche Schubkraft entfalten, um die durch Leistungsausgrenzungen freigewordenen Finanzierungsanteile zu „vereinnahmen" ...

... Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion über die Ausgrenzung von Brillen, Kuren u.a. von fast anrührender Belanglosigkeit.

Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, daß wir Ärzte uns selber mit dem Gedanken der Leistungsausgrenzung intensiv beschäftigt haben, ja sogar diese propagiert haben.

Nach intensiver Diskussion mußten wir aber zur Kenntnis nehmen: Entweder es geht nicht oder es bringt nichts!

Es versetzt das Treppchen der Leistungsdynamik einmal nach unten, aber es ändert nichts am ungebrochenen Trend nach oben!

Ich fasse für die Vergangenheit zusammen: Was heute schon Teil der Krankenbehandlung ist, läßt sich nicht aus dem Katalog der Krankenversicherungen ausblenden. Die Gründe dafür sind:

  • ideologisch-dogmatischer Natur: siehe Naturheilverfahren,

  • ethischer Natur: siehe Priorisierung Krankenhäuser vs. Herztransplantationen,

  • politischer Natur: siehe Wirtschaftsfaktor Gesundheitswesen,

  • sozialer Natur: Wer ausgrenzt, geht direkt in die Zwei-Klassen-Medizin, denn die Ausgrenzung mag zwar die Nichtbezahlung in der GKV bedeuten, sie kann aber in unserem freiheitlichen Staat nicht ein Ver-

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    bot der Erbringung der Leistung beinhalten, wer es sich also leisten kann, kauft sie sich privat.

Nach dieser pessimistischen Betrachtung aller vergangenheitsorientierten Sparpotentiale lassen Sie uns nun in die Zukunft schauen.

Es gibt kaum einen Bereich in unserer Gesellschaft und Wissenschaft, der in ähnlicher Weise sein Wissen und Können explosionsartig auf breiter Front vermehrt hat wie die Medizin. Dabei aber kommen wir immer näher an den Bereich des Grenznutzens heran, jenes Bereiches, wo wir uns fragen müssen, lohnt sich der Aufwand? Und wo wir uns zuvor natürlich darüber unterhalten müssen, dürfen wir diese Frage so überhaupt stellen?

Gestatten Sie mir einen kurzen Exkurs in ein aktuelles Problemfeld: Ich meine das neue, teure Verfahren der Betaferon-Therapie der Multiplen Sklerose. Die Multiple Sklerose ist eine entsetzliche, langwierige Erkrankung des Nervensystems, die unter erheblichen neurologischen Ausfällen mit hoher Pflegebedürftigkeit trotz großen und sinnvollen therapeutischen Aufwandes zum Tode führt. Sie verläuft schubweise, Intensität und Häufigkeit der Schübe bestimmen das Ausmaß des Untergangs von Nervengewebe und damit die Leidensdauer der Patienten. Diese variiert erheblich zwischen wenigen Monaten und vielen Jahren. Beta-Interferon nun verringert die Intensität und die Frequenz der Krankheitsschübe.

  1. Die Behandlung mit dem neuen Wirkstoff Beta-Interferon kostet etwa 28.000 DM pro Jahr,

  2. Es gibt je nach Schätzung 80.000 - 120.000 MS-Kranke in der Bundesrepublik, von denen jedoch wiederum nach heutigen Kenntnissen nur etwa 25%, bei maximaler Indikation vielleicht 50% für eine Behandlung in Betracht kommen.

  3. Wenn Beta-Interferon die Häufigkeit und Schwere von Schüben vermindert, muß - und das gilt es erst noch zu beweisen - eigentlich auch eine Auswirkung auf die Lebenserwartung der Patienten postuliert werden. Nehmen wir einfach einmal an: Die Lebenserwartung eines behandelten MS-Kranken verlängert sich um etwa 5 Jahre.

Lassen Sie mich nun - mit allen Imponderabilien - eine vorsichtige Kostenschätzung wagen: Würden wir allen behandelbaren Kranken Betaferon geben, kämen jährliche Kosten zwischen 560 Mio. DM im günstig-

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sten Fall und 1,7 Mrd. DM im wirtschaftlich ungünstigsten Fall auf uns zu.

Allein aus der Verlängerung der Lebenserwartung ergäben sich jedoch bereits Folgekosten zwischen 2,8 und 8,5 Mrd. DM über fünf Jahre nur für die Medikamentengabe; die Folgekosten aller anderen begleitenden Therapiemaßnahmen entstehen ebenfalls und zwar fünf Jahre länger, denn auch mit Betaferon ist ja eine Heilung der MS nicht möglich - wir haben es vielmehr mit einer Verbesserung von Lebenserwartung und Lebensqualität unter kontinuierlicher kostenaufwendiger Therapie zu tun.

Gemessen an 200 Mrd. DM Kosten in der Gesetzlichen Krankenversicherung von bald 80 Millionen Bürgern haben wir es also mit einem erheblichen Problem zu tun. Oder anders formuliert: Eine suffiziente Behandlung aller behandelbaren MS-Kranken mit Beta-Interferon könnte allein alle uns gesetzlich zugestandenen Zuwächse des Budgets in Deutschland verbrauchen. Es gäbe dann kein Geld mehr für andere medizinische Innovationen.

Das Dilemma steckt in der volkswirtschaftlichen Betrachtung der Investition. Wir haben es hier klassischerweise eben nicht mit einer Rationalisierungs- oder Ersatzinvestition zu tun; kaum ein traditionelles Behandlungsverfahren fällt weg, die Patienten leben eher länger. Es handelt sich vielmehr um eine klassische Zusatzinvestition, die auch neue Kosten mit sich bringt. In der Industrie bezeichnet man die Einführung eines solchen neuen Behandlungsverfahrens klassischerweise als „half-way-technology". „Half way" deswegen, weil hierdurch alleine weder ein Ersatz anderer Therapieverfahren noch eine vollständige Heilung möglich ist. Und die Medizin ist voll von solchen „half-way-technologies".

Wir haben damit heute, davon wird nachher noch zu sprechen sein, nicht „ungestraft" eine Verlängerung der Lebenserwartung um vier Jahre für alle Menschen in der Bundesrepublik erreicht. Und gerade in der Behandlung des alten und hochbetagten Menschen gibt es eine Fülle von „half-way"-Technologien, die in Anerkenntnis der Würde des alten Menschen nicht die Fiktion der uneingeschränkten Wiederherstellung verlorengegangener körperlicher Funktionen in den Vordergrund stellen, sondern die höhere Lebensqualität eines erträglichen Lebens mit anerkannten Funktionsdefiziten anstreben.

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Qualität und Wirtschaftlichkeit bedingen aber auch immer einen Blick auf die Menge. Qualitätsbetrachtung ist ohne Mengenbetrachtung nicht möglich.

Die Mengendynamik ist in der Tat in allen Feldern der Medizin beängstigend.

Ein Beispiel: Katherinterventionen am Herzen. In Hamburg wurden Anfang der neunziger Jahre aus dem Stand heraus Angiographie- und Dilatationskapazitäten von über 15.000 Interventionen per anno geschaffen. Das hatte Auswirkungen: Alle Geräte sind aus dem Stand heraus erstaunlicherweise ausgelastet und profitabel.

Nun will ich nicht verhehlen, daß ich mich durchaus gefragt habe: Schafft sich hier nicht ein Angebot seine Nachfrage? Sind all diese Untersuchungen und Interventionen wirklich indiziert?

Wenn ja, müßte man doch den Erfolg dieser Verfähren auch in den Mortalitäts- und Morbiditätsstatistiken der Hansestadt ablesen können. Und das kann man in der Tat. Mit allem Vorbehalt, den ich gegenüber manchen Statistiken und Statistikern habe, können wir heute feststellen, daß sich in den letzten Jahren zwar die Mortalität an Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht nennenswert verändert hat, die Morbidität aber erheblich.

Die Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zeigen, daß z.B. der Herzinfarkt als Einweisungsdiagnose ins Krankenhaus aus der Gruppe der zehn häufigsten Einweisungsdiagnosen verschwunden ist, hingegen die Angina pectoris in diese Gruppe aufgerückt ist. Wir haben also eine hochgefährliche und hochdramatische Erkrankung zugunsten einer weniger gefährlichen und weniger dramatischen zurückgedrängt. Wiederum also ein klassischer Fall einer „half-way-technology". Sie ist kostenintensiv, verhält sich expansiv, wirkt sich aber durchaus zum Wohle der Patienten aus.

Wir können daher heute feststellen: Es hat erhebliches Wachstum bei der Leistungsintensität und -produktivität gegeben und sekundär auch naturgemäß ein Wachstum bei den Kosten. Dabei haben wir aber in der Bundesrepublik in den letzten 20 Jahren die Proportionalität unserer Gesamtkosten immer gewahrt. Wir haben - bezogen auf das Bruttosozialprodukt - gleichbleibend knapp unter 9% für das gesamte Gesundheitssystem verbraucht. Das ist weit weniger, als zum Beispiel die USA oder Frankreich

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benötigen. Wir haben also hohe Qualität durchaus wirtschaftlich angeboten.

Die uns immer wieder vorgeworfene Kostenexplosion ist in Wirklichkeit eine Leistungsexplosion, die vor allem durch die in den letzten 20 Jahren so ungeheuer gestiegenen Möglichkeiten der modernen Medizin induziert wird. Diese ist aber einhergegangen mit einer dramatischen Anhebung der Produktivität und nicht mit einer proportionalen Zunahme der Kosten!

Betrachtet man die Erfolge, gemessen an der Lebenszeitverlängerung und der Zunahme der Lebensqualität auch mit chronischer Krankheit, dann brauchen wir uns hinter unseren Leistungen überhaupt nicht zu verstecken. Und damit bin ich wieder bei einem Credo aus meinen Eingangsbemerkungen: Wir sollten auch offensiv die Qualität unseres System verteidigen.

Wie leistungsfähig ist nun aber unser System in der Zukunft? Wo könnten die Grenzen dieses Leistungswachstums sein?

Grenzen sind in unserem Gesundheitswesen etwas höchst problematisches. Beinhaltet doch der Begriff „Grenze" nicht nur eine selbstgesetzte Grenze im Sinne eines „Limes", also ein Ziel oder eine von Ethik und Moral geprägte Entscheidungslinie, an der neben medizinischen auch philosophische, religiöse oder ethische Maximen greifen müssen, sondern natürlich gibt es auch Grenzen, die uns gesetzt werden - ich meine hierbei neben Normen des Rechts auch und vor allem fiskalische Grenzen -, die aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten aufgebaut werden. Und natürlich müssen wir uns auch fragen oder fragen lassen: Welche Spielräume gibt es innerhalb dieser Grenzen und nutzen wir diese wirklich aus?

Beginnen wir einmal mit den fiskalischen Grenzen. Wir haben drei Jahre straffer Budgetierung hinter uns. Dieser größte anzunehmende Unsinn der Gesundheitspolitik hat die Strukturprobleme des Gesundheitssystems der Bundesrepublik eher verschärft denn erleichtert. Im Ergebnis stellen wir heute fest, daß die Defizite der Krankenversicherung größer sind als vorher und die Unwirtschaftlichkeiten im Gesundheitswesen um kein Jota abgenommen haben. Die Anbindung von Gesundheitsleistungen an allgemeinwirtschaftliche Parameter ist eine im höchsten Maße strukturhemmende Zwangsmaßnahme. Hinzu kommt, daß die handwerkliche Qualität der Gesundheitspolitik aus dem Hause Seehofer in letzter Zeit doch er-

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heblich nachgelassen hat; ein normales Qualitätssicherungsprogramm in der Medizin würde sie jedenfalls nicht überleben. Die chaotischen Zustände um die Jahreswende, als niemand mehr wußte, was er denn nun mit wem wie abrechnen sollte, haben jedenfalls das Vertrauen der 2 Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen in die Politik nicht gerade gefördert.

Die Einführung der gedeckelten Budgets für den Zeitraum 1993 bis 1995 hat im übrigen vor allem diejenigen bestraft, die sich schon immer kostenbewußt und sparsam verhalten haben. Sie hatten sich selbst ihrer Reserven unter dem starren Deckel beraubt, während diejenigen, die auch schon vorher gewohnt waren, aus dem Vollen zu schöpfen, dieses - wenn auch in Grenzen - weiter tun durften. Sparsamkeit und Verantwortung sind also bestraft worden, „laissez faire" wurde belohnt - im Ergebnis wurden also gerade die Strukturprobleme verfestigt statt gelöst.

Indem ich das erkenne, darf ich jedoch im Gedankengang nicht aufhören, sondern muß nun Lösungswege aufzeigen, wie wir in Zukunft mit der fiskalischen Knappheit umgehen. Denn davon müssen wir alle realistisch in den nächsten Jahren ausgehen: Die Zeit voller öffentlicher Kassen ist vorerst vorbei, und wir werden alle gemeinsam nach Wegen einer vernünftigen Ressourcen-Allokation suchen müssen. Hier ist eine uns in den nächsten Jahren verstärkt beschäftigende fiskalische Grenze aufgezeigt.

Machen wir uns nichts vor: Im Prinzip ist unser Gesundheitswesen unersättlich. Zwangsläufig stellt sich damit die Frage nach der richtigen und damit auch gerechten Verteilung der Mittel. Im Kern all dieser Probleme stecken nicht pragmatische Probleme wie das der Effizienz, über das wir hier heute so viel reden, sondern prinzipielle, nämlich solche der Verteilungsgerechtigkeit. Es liegt damit ein genuin ethisches Problem vor uns. Innerlich sträuben wir uns, diesen Fragen nachgehen zu müssen. Im festen Vertrauen auf ein in der Vergangenheit bewährtes Solidarprinzip verkennen wir, daß dieses Prinzip heute gefährdet ist. Wollen wir es aber retten, so wird es einer Neuordnung im Gesundheitswesen bedürfen, die auch ethisch begründet werden muß. Wir müssen daher nachdenken über Verteilungsgerechtigkeit unter Bedingungen nicht mehr beliebig verfügbarer Ressourcen.

Die Verantwortung des Arztes in diesem System leitet sich aus dem Spannungsfeld zwischen zwei alten Sätzen ab: Salus aegroti suprema lex, das Wohl des Patienten ist das höchste Gut, und nihil nocere, niemals

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schaden. Dieses sind die ethischen Fundamente unseres Arzttums, die es gerade in dieser schwierigen gesundheitsökonomischen Debatte zu berücksichtigen gilt. Wenn wir also uns diese Prinzipien ins Gedächtnis rufen und zugleich feststellen müssen, daß unser Gesundheitssystem im Prinzip unersättlich ist und daß daher in diesem System rationiert werden wird, gleichgültig, ob wir das wollen oder nur einer Notwendigkeit gehorchen, dann müssen wir uns nach den Konsequenzen fragen. Und wenn ich hier „wir" sage, dann meine ich nicht nur uns Ärzte, sondern beziehe die Politik als den gesellschaftlichen Entscheidungsträger mit in diese Überlegungen ein.

Beide Ebenen stehen in der Verantwortung, die vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen, um die Notwendigkeit der Rationierung soweit wie möglich zu vermeiden. Ärzte sind dabei vor allem Interessenwalter der ihnen anvertrauten Patienten. Insoweit werden sie sich immer dafür einsetzen müssen, ihre Patienten bestmöglich zu versorgen. Die Kluft zwischen medizinisch Sinnvollem einerseits und infolge Ressourcenknappheit nicht Machbarem andererseits wird wachsen. Im Konflikt zwischen dem Patienten- und dem Gemeinschaftsinteresse wird der Arzt bemüht bleiben müssen, die Patienteninteressen zu wahren und die medizinischen Standards einzuhalten. Bei der Anwendung dieser Standards stößt der Arzt jedoch auf politisch gewollte Grenzen, die er - das liegt in der Natur seiner Persönlichkeit - zu überwinden trachtet.

Der Arzt wird diese gesundheitspolitisch auferlegten rationierenden Rahmenbedingungen nicht akzeptieren können, da diese dem Patienteninteresse zuwiderlaufen. Der Arzt wird sich im Patienteninteresse gegen den ihn einengenden Rahmen wehren müssen. Aber auch als Interessenwalter der Patienten werden sich die Ärzte in das Ergebnis eines demokratischen Willensbildungsprozesses, der die Rahmenbedingungen ärztlichen Handelns definiert, einfügen müssen. Die Verantwortung für diese Rahmenbedingungen muß allerdings die Politik alleine übernehmen. Wenig hilfreich ist es dann, wenn die gesundheitspolitisch Verantwortlichen mit Hinweis auf Rationalisierungsmöglichkeiten der Rationierungsdebatte ausweichen. Wichtig und hilfreich wäre es vielmehr, wenn es den Verantwortungsträgern der Politik gelänge darzulegen, von welchen ordnungspolitischen und welchen ordnungsethischen Prinzipien sie sich leiten lassen, wenn im Gesundheitssystem rationiert werden muß. Vaçlav Havel, der

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tschechische Staatspräsident, hat über dieses Phänomen der Politik einmal aphoristisch formuliert: „Die Tragödie des modernen Menschen besteht nicht darin, daß er im Grunde immer weniger über den Sinn des Lebens weiß, sondern daß ihn das immer weniger stört." Das ist unser Dilemma auf den Punkt gebracht. Man weicht den unangenehmen Debatten aus, indem man sie auf andere, ungefährlichere Ebenen hebt. Das ist die wahre Kunst einer politischen Transposition.

Kommen wir schließlich an die wohl schwierigste Grenzlinie. Ich meine die biologischen Grenzen der Medizin. Diese ist gerade bei der Behandlung des Themas „Qualität und Wirtschaftlichkeit" wegen ihrer ethischen Implikationen von überragender Bedeutung.

Die Medizin ist schließlich kein Selbstzweck an sich, sie ist auch keine Versorgungsanstalt für Ärzte oder Krankenschwestern, sondern sie dient kranken Menschen. Damit stoßen wir an biologische Grenzen. „Der Tod bleibt die Schallmauer aller Medizin", hat H. Mohr, der Freiburger Entwicklungsbiologe, formuliert.

Wir tun uns schwer, nach Jahren des Aufbruchs und der explosionsartigen Vermehrung unseres Wissens und unserer Fähigkeiten diesen einfachen Satz, der doch eine uralte Weisheit darstellt, zu akzeptieren.

„Unser Leben währet siebzig Jahre und wenn es hoch kommt so sind es achtzig Jahre (Psalm 90, 10)", so lautet eine bald 2.000 Jahre alte Erkenntnis, deren Richtigkeit die moderne Molekularbiologie unserer Tage erst beweist. Der Alterstod ist in unserem Erbgut vorprogrammiert. Das maximal zu erreichende Alter, also die Lebensspanne, läßt sich nicht beliebig verlängern. Das Altern ist also keine Krankheit - auch wenn es mit Krankheit und Leiden verbunden sein kann. Mohr sagt: „Die Menschen in unserer Population würden, wenn sie alle den Alterstod erlitten, im Durchschnitt mit etwa 83 Jahren sterben. Die Grenze der Lebenserwartung liegt bei etwa 95 Jahren. Ziel der Medizin kann es deshalb nicht sein, die Lebensspanne künstlich zu verlängern. Die Anstrengungen der Ärzte bei der Beeinflussung des Alterungsprozesses sollten sich vielmehr darauf richten, durch Therapie und Prävention die Gesundheitsspanne so weit wie möglich der Lebensspanne anzugleichen."

In der nüchternen Sprache der Gesundheitsstatistik heißt dies, daß man unter den heutigen Bedingungen bei Annahme der von mir eben geschil-

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derten sogenannten Grenzmortalität in der Altersgruppe der 0- bis 15-jährigen wahrscheinlich nur durchschnittlich noch etwa 0,2 Jahre Lebenserwartung wird hinzugewinnen können, bei den 15- bis 45-jährigen noch etwa 0,5 Jahre und bei den 45- bis 60-jährigen noch etwa 1,3 Jahre. Oder anders formuliert: Wir bewegen uns hier bereits wirtschaftlich definiert im Bereich des Grenznutzens.

Schwarz, der Epidemiologe aus Hannover, von dem auch die eben von mir vorgetragenen Zahlen stammen, formuliert daher die Frage: „Gehen wir hinsichtlich der Alterung unserer Gesellschaft - einer greying society - einer Sättigungsgrenze entgegen?"

Eine Schweizer Studie belegt den Zusammenhang zwischen Alter und zunehmenden Krankenhausaufenthalten. Während bei unter 20jährigen 0,8 Krankenhaustage pro Jahr festzustellen sind, sind es bei über 85jährigen Frauen 53,8 Tage. Die Lebenserwartung steigt zweifellos auch infolge des medizinischen Fortschritts, wobei in hohem Alter häufig mehrere Organsysteme funktionell und auf Dauer eingeschränkt sind. Wir bezeichnen das als chronifizierte Polymorbidität. Statistisch gesehen bewirkt dabei der medizinische Fortschritt, bezogen auf den Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung, eine Verschlechterung. Wir befinden uns - in der Sprache des Gesundheitsökonomen Krämer aus Dortmund - in einer klassischen Fortschrittsfalle, denn je mehr die Medizin vermag, desto höher ist der Krankenstand der Bevölkerung. Weil die Medizin eben nicht untätig ist, sondern so viele Kranke am Leben erhält, die früher längst gestorben wären, genau deswegen erscheint unsere Gesellschaft kränker. Dieses führt dann zwangsläufig zu begründeten Mengen- und Leistungsausweitungen und in der Folge zu Kostensteigerungen im Gesundheitswesen.

Wer das begreift, versteht, warum wir Ärzte uns vehement gegen die Ankoppelung der Gesundheitsausgaben an allgemeine Wirtschaftsparameter wehren. Die sogenannte „Grundlohnsumme", die Maßstab der Anpassung der Ausgaben im bundesdeutschen System ist, kümmert sich nicht um Fortschritt der Medizin, Morbidität oder Lebensqualität. Sie ist vielmehr entscheidend bestimmt vom wirtschaftlichen Wachstum und vom Verhältnis von Kapital und Arbeit zueinander. Diese sogenannte Lohnquote sinkt aber in prosperierenden Industrienationen. Damit erleben wir ein Paradoxon: Während eine Nation immer reicher wird, immer mehr Kapital hat und verdient, wendet sie zugleich relativ immer weniger Geld für

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ihre Gesundheitsversorgung auf. Das ist das Problem der an die Höhe der Arbeitseinkommen gekoppelten Sozialversicherungen der Bundesrepublik. Wir werden immer reicher, aber erwirtschaften immer weniger dieses Reichtums in abhängiger Beschäftigung. Damit sinkt die Lohnquote. Bleiben die Leistungen nun gleich, müssen die Beitragssätze steigen. Dieses ruft dann wieder die Politik und die Gewerkschaften auf den Plan, die unter der Überschrift „Lohnnebenkosten gefährden den Wirtschaftsstandort Deutschland" eine Kostendämpfungsdebatte anzetteln.

Politik aber, das ist eine bittere Erfahrung der von uns vertretenen Patienten, wird fast ausschließlich von gesunden Beitragszahlern gemacht, so gut wie nie von kranken Patienten. Wer krank ist, hat meist keine Kraft zum politisieren; wer krank ist, beschäftigt sich mit anderen, persönlicheren Dingen; wer krank ist, der wünscht nur, daß ihm geholfen wird. Die Ärzte sind oft die einzigen, die die Interessen der Patienten vertreten. Unser Dilemma ist dabei, daß unsere Gesellschaft es im Kern als unanständig empfindet, ihr Geld mit der Krankheit anderer Menschen zu verdienen. Uns wird qua Amt Altruismus abverlangt. Das aber ist in einer modernen Leistungsgesellschaft heute nicht mehr leistbar.

So ist auch das Arztbild in der Bevölkerung heute von einem radikalen Umbruch erfaßt. Wir leben in der verrückten Situation, daß die Bevölkerung „die Ärzte" oft mit habgierigen Beutelschneidern gleichsetzt, zugleich aber auf „ihren Arzt" nichts kommen läßt. Hier findet langsam eine vollständige Dissoziierung der individuellen und der kollektiven Reputation meines Berufes statt. Diese Situation wird in einer Zeile Goethes aus dem Faust hervorragend ausgedrückt; dort fragt Faust den vom Himmel gefallenen Mephistopheles: „Nun gut, wer bist du denn?" Mephisto antwortet: „Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft."

Kommen wir noch einmal auf das Phänomen des Grenznutzens zurück, und zwar in Verbindung mit der Frage: Wieviel können oder wollen wir uns leisten? Ein Tag auf der Intensivstation meines Krankenhauses kostet zwischen 3.000 und 6.000 DM; eine Lebertransplantation 200.000 DM. Ich kenne Patienten, bei denen durch mehrere Re-Transplantationen in wenigen Tagen Kosten im Millionen-Mark-Bereich entstanden sind. Die Qualität steht außer Frage, aber ist das wirtschaftlich? Dabei wissen wir, daß es nach Aussagen der WHO nur einen einzigen Dollar kostet, um ein

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Menschenleben zu retten durch die Bekämpfung der Tuberkulose in den Entwicklungsländern; daß man mit einem Einsatz von 300 bis 500 Dollar ein Menschenleben durch den Aufbau einer suffizienten Primärchirurgie in den Entwicklungsländern retten könnte; und daß es wiederum über 100.000 Dollar erfordert, um ein Menschenleben durch das Verfahren der Knochenmarktransplantation zu retten. Und deswegen müssen wir - die wir das Problem der Tuberkulose eben nicht mehr haben - die 100.000 Dollar für die Knochenmarktransplantation aufwenden und zugleich feststellen, daß es am Dollar für die Tuberkulosebekämpfung in den Entwicklungsländern fehlt.

An diesem Punkte angelangt müssen wir die Frage, die uns heute im Hintergrund alle bewegt, also geradezu umkrempeln und nicht fragen: Können wir uns in Zukunft soviel Medizin leisten? Nein, wir müssen fragen: Können wir es uns leisten, sie uns in Zukunft nicht zu leisten?

Ich weiß, ich bewege mich hier auf schwierigem Gebiet - salus aegroti suprema lex, dies ist angesichts der Herausforderung gleichbleibender oder abnehmender Ressourcen und zunehmender Möglichkeiten ein dramatisches Dilemma. Und deswegen müssen wir uns noch einmal mit den Zielen und den Grenzen moderner Medizin beschäftigen.

Es ist das Ziel der Medizin, Leiden zu mindern und die Gesundheitsspanne der Lebensspanne immer mehr anzugleichen. Amerikanische Studien belegen nun wiederum, daß wir heute etwa 50% der Aufwendungen unserer Gesundheitssysteme in den letzten beiden Lebensjahren eines Menschen leisten. Deswegen käme gleichwohl niemand bei uns, der einigermaßen reinen Geistes ist, auf die Idee, die letzten beiden Jahre im Leben eines Menschen einfach zu streichen?

Was also können wir in diesem Dilemma tun? Was ist rational zu tun, und was bedeuten für uns die Forderungen nach Beschränkung und Gerechtigkeit? Max Born formuliert: „Der Verstand unterscheidet zwischen möglich und unmöglich; die Vernunft entscheidet zwischen sinnvoll und sinnlos. Es ist an der Zeit, daß die Vernunft auf den Plan tritt und das, was heute möglich ist, auf das Sinnvolle begrenzt."

Ich bin skeptisch - aber auf Grund meiner noch geringen Erfahrung steht es mir noch nicht zu, ungläubig zu sein -, ob uns dies wirklich gelingt. Wenn nicht, dann wird der Versuch des Überwindens der biologischen

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Grenzen zur notwendigen Kollision mit den fiskalischen Grenzen führen. Oder anders ausgedrückt, wir werden uns dann Rationierungsversuchen in der Medizin kaum noch erfolgreich widersetzen können. Dann besteht die große Gefahr, daß der Arzt in der Tat zum medizinischen Vollstrecker politisch gefällter Rationierungsentscheidungen wird.

Wir dürfen als Ärzte diesen Grundsatz nie akzeptieren, denn wir kämen aus diesem Teufelskreis nie wieder heraus. Auf einer Veranstaltung der British Medical Association in London hat eine englische Kollegin von uns dies trefflich wie folgt formuliert: „lf doctors and nurses are seduced by the idea of rationing they give politicians the perfect excuse not to increase resources." Wenn also Ärzte und Krankenschwestern sich vom Gedanken der Rationierung verführen ließen, lieferten sie den Politikern die beste Ausrede, die Ressourcen nicht zu erhöhen.

Die Grenzen des Wachstums in der Medizin liegen auf der Hand; die biologischen werden wir um keinen Preis der Welt verschieben können. „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden ", so heißt es unter der Überschrift „Zuflucht in unsere Vergänglichkeit" im zwölften Vers des Psalm 90. Dessen müssen wir uns besinnen. Dabei müssen wir uns der ethischen Grenzen bewußt sein, diese können nicht zur Disposition stehen. Und die fiskalischen Grenzen werden wir Ärzte solange traktieren und bekämpfen, wie sie enger gezogen sind als die ethischen und biologischen.

Das ist unsere Aufgabe und Verpflichtung.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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