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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 49 ]


Edwin Smigielski
Der Arzneimittelsektor als Wirtschaftsfaktor für den Standort Deutschland


1. Ausgangssituation: Der Arzneimittelsektor als Hauptbetroffener der Kostendämpfung

In den letzten Jahren stand der Arzneimittelsektor im Zentrum der staatlichen Kostendämpfungspolitik. Insbesondere seit 1989 wurde der Arzneimittelsektor mit neuen und weitergehenden Regulierungen (Festbeträge, Rechnungsabschläge, Preisabschlag, Preismoratorium, Arzneimittelbudget) überzogen. Auf der Basis dieser Kostendämpfungsinstrumente konnte die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in den Jahren 1993 und 1994 ihre Ausgaben für Arzneimittel um mehr als DM 8 Mrd. reduzieren. Im gleichen Zeitraum mußte für die stationäre Versorgung gut 14 Mrd. DM mehr ausgegeben werden. Der Anteil der Arzneimittelausgaben an den Gesamtausgaben der GKV, der noch Anfang der neunziger Jahre bei ca. 15% lag, ist mittlerweile auf 12% gefallen.

Die pharmazeutische Industrie, die in den letzten zehn Jahren ihr Arbeitsplatzangebot stetig ausweiten konnte, mußte nach Einführung des Gesundheits-Strukturgesetzes (GSG) mehr als 10.000 Arbeitsplätze abbauen (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1:
Beschäftigte: Mit dem GSG kam die Wende

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2. Die forschende Arzneimittelindustrie: Eine High-Tech-Branche im Rahmen des sozialen Sicherungssystems

Der Arzneimittelsektor wird im Rahmen der allgemeinen Kostendämp-füngsdiskussion vor allem als Kostenfaktor wahrgenommen und bewertet.

Der Arzneimittelsektor und insbesondere die forschende Arzneimittelindustrie haben aber auch zentrale Bedeutung als Wirtschaftsfaktor und Schlüsselindustrie für den Standort Deutschland.

Die Beiträge zum Standort Deutschland sind:

  • High-Tech ohne Subventionen: Die forschenden Arzneimittelhersteller investieren jährlich ca. 15% ihres Umsatzes in die Forschung und Entwicklung. Jährlich sind das in Deutschland mehr als 4,4 Mrd. DM. Mit diesem Wert liegt die Pharmaindustrie weit über dem Durchschnitt des verarbeitenden Gewerbes und auch noch deutlich über den Aufwendungen für Forschung und Entwicklung wichtiger anderer Industriezweige, wie z.B. der Automobilindustrie.

  • Wichtige Beiträge zur Wirtschaftsleistung: Mit knapp 340.000 DM Umsatz je Mitarbeiter gehört die Pharmaindustrie zur Spitzengruppe im verarbeitenden Gewerbe.

  • Erhebliche Beiträge zum Exportüberschuß: Deutschland ist Weltmeister im Arzneimittelexport. 1994 wurden pharmazeutische Produkte im Wert von 14,8 Mrd. DM exportiert. Der Exportüberschuß betrug ca. 6 Mrd. DM.

  • Zukunftsarbeitsplätze für über 100.000 Menschen: Die forschende Arzneimittelindustrie bietet hochqualifizierte Arbeitsplätze.

  • Konkurrenzfähig auf den internationalen Märkten: Von den zehn weltweit umsatzstärksten Produkten stammen zwei aus Deutschland. Das innovative Potential unserer Produkte wird damit eindrucksvoll bestätigt.

  • Innovative Arzneimittel helfen heilen und sparen: Sie machen Behandlung und Heilung oftmals überhaupt erst möglich. Sie verbessern und beschleunigen die Therapie. Sie ersetzen in vielen Fällen teurere Versorgungsformen. Innovative Arzneimittel sind für viele Kranke die einzige Hoffnung auf Heilung (vgl. Abb. 2).

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Abbildung 2:
Pharmazeutische Produkte: Ein breites Leistungsspektrum

Die Innovationskraft der deutschen forschenden Pharmaindustrie ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Der Deutschland zuzurechnende Anteil an neu eingeführten Wirkstoffen (NCEs) an der Gesamtheit der NCEs ist in den letzten zehn Jahren von 11,3% auf 5,6% gefallen (vgl. Abb. 3). Deutschland muß damit seine einst führende Rolle in Europa heute mit Großbritannien teilen. Anteilsgewinne haben im Vergleich der sieben rührenden Nationen vor allem die Arzneimittelhersteller in Japan und den USA zu verzeichnen. Die Auswirkungen dieses Rückgangs der Innovationsrate der deutschen Hersteller auf die Exportchancen zeigen sich erst in den nächsten Jahren, wenn für die derzeitigen „Exportschlager" der Nachschub fehlt.

Ursächlich für diesen Rückgang waren sowohl unternehmensinterne Faktoren (z.B. Defizite im Forschungsmanagement), aber auch externe Faktoren (z.B. lange Zulassungs- und Genehmigungszeiten, forschungsunfreundliches Klima).

Bei der Weiterentwicklung der Gesundheitsreform ist den differenzierten Gegebenheiten des Arzneimittelsektors als Wirtschaftsfaktor verstärkt Rechnung zu tragen. Gesetzgeberische Maßnahmen im Arzneimittelsektor sind nicht nur unter Kostendämpfüngsgesichtspunkten bzw. gesundheitspolitischen Aspekten, sondern auch unter wirtschafts- und forschungspolitischen Aspekten zu bewerten.

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Abbildung 3:
Immer weniger neue Wirkstoffe kamen aus Deutschland (II)

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3. Vernetztes Denken: Gesundheitspolitik als Standortpolitik

Die bislang geübte Praxis, die GKV alle zwei Jahre auf Kosten des Arzneimittelbereichs zu sanieren, wird der High-Tech-Branche und dem Wirtschaftsstandort Deutschland nicht gerecht. Die in den letzten Jahren eingeführten Reglementierungen des Arzneimittelsektors müssen nicht nur dahingehend überprüft werden, ob sie aus Kostendämpfungsaspekten sinnvoll sind, sondern auch, ob und inwieweit sie den Pharmastandort Deutschland sichern und ausbauen. Es kommt darauf an, für den Produktions- und Forschungsstandort Deutschland langfristig kalkulierbare und innovationsfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen.

3.1 Sind Festbeträge innovationsfreundlich?

Das Festbetragsinstrumentarium ist 1989 in Deutschland eingeführt worden. Die GKV spart jährlich ca. 2 Mrd. DM durch dieses Kostendämpfungsinstrument. Abgesehen von der kartellrechtlichen Problematik (Nachfragemonopol der Krankenkassen hat sich de facto als Preisdiktat erwiesen), hat die Industrie die Festlegung von Festbeträgen der Stufe 1 (Festbetrag nach Patentablauf) grundsätzlich toleriert. Innovationspoli-

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tisch problematisch wird das Instrument der Festbeträge allerdings dann, wenn der formal vorhandene Patentschutz z.B. durch die Einbeziehung patentgeschützter Wirkstoffe in die Bildung von Festbetragsgruppen systematisch entwertet wird. Die Arzneimittelforschung lebt überwiegend von der Schrittinnovation. Bahnbrechende Sprunginnovationen sind relativ selten. Werden nun patentgeschützte mit nicht patentgeschützten Arzneimitteln in eine Gruppe gepackt, weil sie „wirkstoffähnlich" oder „wirkungsähnlich" sind, werden kleinere Verbesserungen (z.B. geringere Nebenwirkungen, bessere Verträglichkeit) durch die Arzneimittelforschung nicht mehr honoriert. Wenn diese Schrittinnovationen nicht mehr honoriert werden, wird die Arzneimittelforschung in Deutschland geschwächt.

Wir fordern daher ausdrücklich, patentgeschützte Arzneimittel zukünftig aus den Festbeträgen herauszulösen.

3.2 Sind Budgets innovationsfreundlich?

Das Arzneimittelbudget ist seit 1993 Bestandteil der Arzneimittelversorgung. Im Gegensatz zu allen anderen Budgets der Budgetierungsphase ist das Instrument in der Arzneimittelversorgung auf Dauer angelegt. Abgesehen von der gesundheitspolitischen Problematik der Arzneimittelbudgets (die Arzneimittelbudgetierung schwächt die ambulante Therapie und schwächt den Grundsatz „so viel ambulant wie möglich, so wenig stationär wie nötig"; die Fortführung der Arzneimittelbudgetierung bedeutet eine einseitige Diskriminierung einer Therapieform: es bestehen ökonomische Anreize zur Verschiebung von Patienten in teurere Therapieformen; die Arzneimittelbudgetierung ist technisch nicht umsetzbar) ist das Arzneimittelbudget auch unter innovationspolitischen Gesichtspunkten nicht gerade innovationsfördernd. Gerade nach Einführung des GSG im Jahre 1993 hat sich gezeigt, daß die Verordnung von innovativen Arzneimitteln erheblich zurückgegangen ist. Die gleiche Entwicklung ist erneut zu erwarten, falls das Arzneimittelbudget konsequent exekutiert werden kann. Auch die in der Arzneimittelbudgetierung vorgesehene Innovationskomponente ändert an dieser Entwicklung nichts, weil diese pauschal angegeben wird und den Innovationen nicht zugeordnet werden kann. Das Arzneimittelbudget ist daher gesundheits- und innovationspolitisch kontraproduktiv. Wir fordern daher die Abschaffung, mindestens aber die Heraus-

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nähme „unverzichtbarer" Arzneimittel aus den Budgets und eine ausreichende Dynamisierung.

3.3 Sind die gesetzlichen Reimport-Regelungen Standort- und innovationsfreundlich?

Die GKV ist stets bemüht, Arzneimittel günstig einzukaufen. Der Gesetzgeber hat dieses Bemühen unterstützt und in § 129 Abs. l SGB V (Sozialgesetzbuch) ein Gebot zur Abgabe importierter Arzneimittel festgelegt. Diese Generalklausel ist in Rahmenverträgen zwischen Krankenkassen und Apothekerverbänden konkretisiert worden.

Internationale Preisdifferenzen entstehen vor allem durch Wechselkursänderungen von Weichwährungsländern bei gleichzeitigen rigiden Preisreglementierungen im Ausland. Tendenziell stellen die Parallelimporte den Standort Deutschland in Frage. Hersteller müssen in Deutschland unter hiesigen Kostenbedingungen arbeiten, werden aber via Parallelimporten mit ausländischen Kostenbedingungen oder Preisreglementierungen konfrontiert. Die Situation verschärft sich weiter, wenn durch neue EU-Mitgliedsländer, in denen kein hinreichender Patentschutz besteht, Importe auf den deutschen Markt kommen und den Patentschutz aushöhlen. Diese Importe wirken sich gleichzeitig auch auf die Festbeträge aus, da Festbeträge schon dann gebildet werden sollen, wenn auf dem Markt nur das Originalprodukt und Parallelimporte existieren. Wir unterstützen grundsätzlich das Prinzip des freien Warenverkehrs. Ein freier gemeinsamer Markt setzt aber freie nationale Sub-Märkte voraus. Das ist aber bei den meisten Arzneimittelmärkten nicht der Fall.

Das gesetzliche Reimport-Gebot schwächt den Produktions- und Forschungsstandort Deutschland.

3.4 Innovative Versorgungsformen: Mit oder ohne die forschenden Arzneimittelhersteller?

Die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen haben sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Durch das GSG ist das Wettbewerbsprinzip

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als Ordnungsprinzip in der GKV etabliert worden und sind erste sektorenübergreifende Ansätze (z.B. prä-/poststationäre Versorgung, ambulante Operationen) eingeführt worden.

Bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens zeichnen sich nunmehr verstärkt sektorenübergreifende Steuerungsansätze (z.B. kombinierte Budgets) und neue Versorgungsformen (z.B. Hausarzt-Abo) ab. Minister Seehofer hat für seine Weiterentwicklungskonzepte zur dritten Stufe der Reform die Devise „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" ausgegeben. Nach dem von der Union entwickelten Konzept bedeutet dies nicht nur, daß die Selbstverwaltung Vorfahrt bei der Ausgrenzung von Leistungen bekommt, sondern die „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" ist auch so angelegt, daß fast ausschließlich die Partner der gemeinsamen Selbstverwaltung (Kassen und Ärzte), gegebenenfalls ergänzt um die Krankenhäuser, gestärkt werden sollen. Die Erbringer veranlaßter Leistungen bleiben außen vor.

Die pharmazeutische Industrie sieht diese Entwicklung skeptisch, weil eine Fokussierung auf die „gemeinsame Selbstverwaltung" verstärkte Möglichkeiten des Abschließens von Verträgen zu Lasten Dritter ermöglicht. Die Berücksichtigung wirtschafts- und forschungspolitischer Ziele ist aber in einer wettbewerblichen Krankenversicherung mit eigenständigen Organisationsinteressen der Ärzte und Krankenkassen nicht sichergestellt.

Die forschenden Arzneimittelhersteller fordern daher stärkere Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte in der Selbstverwaltung. Bei allen arzneimittelrelevanten Fragestellungen müssen die Arzneimittelhersteller angemessen beteiligt werden. Dies gilt insbesondere auch für die Erprobungsregelungen und neue Versorgungsformen. Die großen Arzneimittelhersteller verfügen aufgrund ihrer internationalen Erfahrungen über gutes Know-how in diesen Bereichen. Dieses Know-how können sie in die neuen Versorgungsformen einbringen. Deshalb ist auch hier ein offener Wettbewerb notwendig. Einen „closed shop" für Kassen und Kassenärztliche Vereinigungen darf es nicht geben.

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4. Kommende Herausforderungen: Wie können Gesundheitspolitik und Standortpolitik in Übereinstimmung gebracht werden?

Deutschland steht als Industriestandort in den kommenden Jahren vor erheblichen Herausforderungen. Da die internationale Wettbewerbsfähigkeit auf der Kostenseite zunehmend in Frage gestellt ist, kann Deutschland seine Stellung nur über neue und innovative Produkte sichern und ausbauen. Die forschende Arzneimittelindustrie als High-Tech-Sektor ist somit ein zentraler Eckpfeiler einer derartigen Innovationsstrategie. Die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland tangieren die Arzneimittelindustrie des Heimatmarktes zentral. Am Forschungsstandort findet in der Regel die Erstproduktion statt. Nur innovative Arzneimittel haben ein hohes Exportpotential. Insbesondere in der Bio- und Gentechnologie, in der nach Expertenschätzungen gewaltige Wachstums-, Produktions- und Beschäftigungspotentiale liegen (vgl. Abb. 4), sind Forschung und Produktion untrennbar miteinander verknüpft. Bei der Weiterentwicklung der Gesundheitsreform und der Festlegung der Rahmenbedingungen sind diese industriepolitischen Gesichtspunkte zukünftig stärker zu beachten.

Abbildung 4:
Gesamtpharma-Weltmarkt
Anteil der gentechnisch hergestellten Produkte (DM)

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Was bedeutet dies konkret?

  1. Arzneimittel dürfen nicht länger lediglich als Kostenfaktor im Rahmen der GKV gesehen werden. Gesundheits-, Forschungs- und Wirtschaftspolitik müssen stärker miteinander verzahnt werden. Nicht der Export neuer Kostendämpfungsinstrumente, sondern der Export innovativer Arzneimittel sichert den Standort Deutschland einschließlich der sozialen Sicherungssysteme.

  2. In Deutschland müssen ein innovationsfreundliches Klima und langfristig kalkulierbare, innovationsfreundliche Rahmenbedingungen für die Forschung geschaffen werden, damit Unternehmen verstärkt in Forschung und Produktion von Arzneimitteln investieren. Statt Generika-Förderung müssen Innovationen verstärkt gefördert werden. Folgende Probleme müssen gelöst werden:

    • Wie kann sichergestellt werden, daß in- und ausländische Unternehmen in Deutschland verstärkt in Forschung und Produktion von Arzneimitteln investieren?

    • Wie kann die hohe Regelungsdichte abgebaut werden?

    • Wie kann zwischen Industrie, Politik und Kostenträgern ein neues Vertrauensverhältnis entstehen?

    • Wie kann sichergestellt werden, daß Arzneimittel für zentrale Krankheitsbilder wieder vermehrt aus Deutschland kommen?

    • Wie kann das intellektuelle Potential in Deutschland adäquat eingesetzt und genutzt werden?

    • Wie kann Deutschland in der Bio- und Gentechnologie zur Weltspitze aufschließen?

    • Wie kann die gesellschaftliche Akzeptanz der Gentechnik und das Klima für Forschung in Deutschland verbessert werden?

    • Wie kann die Kooperation zwischen akademischer Grundlagenforschung und industrieller Forschung verbessert werden?

    • Wie können die Rahmenbedingungen in der GKV so gestaltet werden, daß sie Produktion und Forschung innovativer Arzneimittel in Deutschland unterstützen?

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Dies sind nur einige Problemfelder, die in den kommenden Jahren gelöst werden müssen. Die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen haben für den Pharmastandort Deutschland entscheidende Bedeutung. Die GKV trägt als „Mega-Nachfrager" auch Verantwortung für die Arzneimittelforschung in Deutschland. Die Rahmenbedingungen des Sozialgesetzbuches müssen im Rahmen der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens so gestaltet werden, daß Innovationen stärker gefördert werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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