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Peter Kirch
Zur Weiterentwicklung der Gesundheitsreform


In Zeiten, in denen viele Politiker den Sozialstaat zur Disposition stellen, Wissenschaftler Liberalisierungsmodelle für das Gesundheitswesen entwickeln und selbst erfahrene Praktiker nur noch von Marketing reden, ist es zumindest für einen Gewerkschafter ein zweifelhaftes Vergnügen, Verantwortung für die Geschicke der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen. Angesichts der sozialen, ökonomischen und demographischen Veränderungen und der erweiterten Möglichkeiten von Medizin und Technik ist es unbestreitbar, daß sich das Gesundheitswesen weiterentwickeln muß. Es ist aber bestreitbar, daß dazu ein undifferenzierter Abbau von Leistungen, erhöhte Selbstbeteiligungen für die Patienten und Grund- und Wahlleistungsmodelle, die sich an der Zahlungsfähigkeit der Versicherten orientieren, die geeigneten Instrumentarien sind. Kernelemente der privaten Krankenversicherung, die bereits dort ihre Untauglichkeit zur Ausgabensteuerung hinlänglich unter Beweis gestellt haben, sollten nicht noch in die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) exportiert werden. Die Spitzenverbände der GKV haben solchen Konzepten der Privatisierung von gesundheitlichen und sozialen Risiken eigene Vorstellungen entgegengesetzt, die auf eine Stärkung der Grundprinzipien der solidarischen Krankenversicherung zielen.

Ehe ich auf diese Vorstellungen eingehen werde, sollten ein Kassensturz und eine kurze gesundheitspolitische Standortbestimmung vorangestellt werden.

Die mit dem Gesundheits-Strukturgesetz (GSG) erfolgte Anbindung aller Leistungsausgaben der Krankenkassen an die Entwicklung der Beitragseinnahmen läuft mit Ausnahme des Arznei- und Heilmittelbudgets Ende 1995 aus. Die von vornherein nur als Notbremse gedachte sektorale Budgetierung hat in den meisten Bereichen die Balance von Einnahmen und Ausgaben zweieinhalb Jahre lang gewahrt. Doch heute sehen wir, daß die disziplinierende Wirkung der Budgets rasant nachläßt. Wenn die derzeitige Ausgabenentwicklung unverändert anhält - eine Trendwende ist wahrlich nicht in Sicht -, dann ist in der gesetzlichen Krankenversicherung im

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Jahre 1995 mit einem Defizit von bis zu 10 Mrd. DM zu rechnen. Bundesgesundheitsminister Seehofer, aber auch die Vertreter fast aller Kassenarten, haben bereits Beitragssatzerhöhungen angekündigt. Diese Beitragssatzerhöhungen sind notwendig, um die Defizite in 1995 aufzufangen. Selbst wenn in den nächsten Wochen die für 1996 angekündigten Reformbestrebungen zur Sofortbremsung der Krankenhausausgaben zustande kämen, ist der Bremsweg zu lang, um diese Defizite auszugleichen.

Dies ist vor allem auf die weiterhin ungebremste Ausgabenentwicklung im Krankenhaussektor zurückzuführen. Gerade in der stationären Versorgung hat sich gezeigt, daß mit der sektoralen Budgetierung bestehende Unwirtschaftlichkeiten noch konserviert werden. Der Deckel, der die Ausgaben für die stationäre Versorgung im Zaum halten soll, hatte von vornherein so viele Löcher, daß jeglicher Veränderungsdruck von den Krankenhäusern genommen wurde und die Ausgaben in diesem Bereich fast doppelt so schnell gewachsen sind wie die Einnahmen.

Zwar hatten Politiker in Lahnstein beschlossen, das Selbstkostendeckungsprinzip und damit die Selbstbedienungsmentalität im Krankenhausbereich aufzuheben. Minister und Bürokraten haben diesen Willen jedoch nicht umgesetzt. Noch immer müssen Krankenkassen de facto alles zahlen, was Krankenhäuser in die Budgets hineinzwängen.

Daran wird sich auch nichts ändern, wenn die Finanzierung der laufenden Krankenhauskosten ab 1996 auf neue Grundlagen gestellt wird. Fallpauschalen und Sonderentgelte, die die Leistungen der Krankenhäuser transparenter machen sollen, und damit den Wettbewerb öffnen, werden selbst bei optimistischen Schätzungen allenfalls 25% der Krankenhauskosten ausmachen. Die anderen 75% werden nach wie vor in Form von Abteilungspflegesätzen und einem Basispflegesatz pauschal verhandelt und bleiben deshalb für Manipulationen anfällig. Es wird für die Krankenkassen sogar deutlich schwieriger, den Überblick über die verschiedenen Finanzierungsvarianten im jeweiligen Krankenhaus zu behalten.

Zudem haben die Krankenkassen in der stationären Versorgung kaum Einfluß auf die Zahl der Krankenhausbetten sowie auf Preise, Mengen und Qualität der dort erbrachten Leistungen. Der stationäre Sektor ist vielmehr immer noch eine Domäne des Staates. Der Staat plant Zahl und Struktur der Krankenhäuser und gibt Fördermittel in Abhängigkeit von der Zahl der Betten. Der Staat ist zudem Eigentümer von mehr als einem

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Drittel aller Krankenhäuser. Derselbe Staat hat schließlich in den Pflegesatzverhandlungen zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen das letzte Wort. Der stationäre Sektor mit seinen überproportionalen Ausgabenanstiegen ist ein Musterbeispiel dafür, daß Staatseinfluß im Gesundheitswesen sich nicht immer positiv auswirken muß.

Ein weiteres Beispiel für Mißgriffe des Staates ist der Bereich der Rettungsdienste, wo die auf kommunaler oder Landesebene festgelegten Preise für Notfalleinsätze und Krankenhaustransporte explodiert sind. Schließlich könnte ich einen eigenen Vortrag darüber halten, wie manche Länder und Kommunen sich in der Pflegeversicherung zu Lasten der Beitragszahler zu sanieren versuchen. Ich will das Thema nicht weiter vertiefen, weil auch in den anderen Versorgungsbereichen, wo Krankenkassen - wie zum Beispiel bei Prävention und Rehabilitation - mehr Einfluß haben, nicht alles zum Besten steht.

Prinzipiell funktioniert die Steuerung in der ambulanten ärztlichen Versorgung noch am besten. Natürlich gibt es Interessengegensätze zwischen Krankenkassen und Kassenärzten. Doch konnten die meisten dieser Gegensätze in zum Teil langwierigen Verhandlungen immer wieder durch Kompromisse überwunden werden. Aktuelles Beispiel dafür ist die Reform der ärztlichen Vergütung. Hier konnten sich die Spitzenverbände der Krankenversicherung und die Kassenärzte auf eine Reform des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes verständigen. Damit werden endlich Umschichtungen zugunsten der sprechenden Medizin und zu Lasten einer übertriebenen Technisierung vorgenommen und die Vorgaben des GSG-Gesetzgebers - weitgehend - erfüllt. Damit sind die Strukturprobleme in der ambulanten Versorgung allerdings noch nicht gelöst.

Seit Jahren ist es für Ärzte attraktiver, sich zu hochspezialisierten Fachärzten weiterbilden zu lassen und eine immer komplexere Technik selbst bei einfachen Erkrankungen einzusetzen, als den psychosozialen Problemen der Patientinnen und Patienten nachzugehen. Der Hausarzt droht deshalb zu einer seltenen Spezies zu werden. Solche Fehlentwicklungen, die enormes Geld kosten, waren beispielsweise Anlaß für die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), ein Hausarztmodell zu entwickeln, das Wirtschaftlichkeitsreserven im Gesundheitswesen erschließen und die Qualität der Versorgung verbessern soll. Die AOK und andere Kassenarten haben im Rahmen ihrer begrenzten gesetzlichen Möglichkeiten weitere Versor-

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gungsmodelle entwickelt und auch schon in Verträge mit fortschrittlichen Kassenärztlichen Vereinigungen umgesetzt. Diese Verträge zielen auf die Durchsetzung des Grundsatzes „Soviel ambulant wie möglich, so wenig stationär wie nötig" und setzen Anreize zur Qualitätsverbesserung und zum effizienten Einsatz der Ressourcen. Hier liegen die Keimzellen für Innovationen im Gesundheitswesen, die vom Gesetzgeber Förderung in Form erweiterter Erprobungsregelungen und Öffnungsklauseln erhalten müssen. Denn das Gesundheitswesen in Deutschland ist nicht gerade ein Hort der Innovation. Zwar werden ständig neue Medikamente und neue medizinische Geräte auf den Markt geworfen. Doch anders als in anderen Branchen verbilligen diese Innovationen die gesundheitliche Versorgung nicht. Im Gegenteil! Sie wird immer teurer, weil die neuen Produkte neben den anderen eingesetzt werden oder weil sie bisher preiswerte Produkte ersetzen.

Ähnliches gilt für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Der gesundheitspolitische Fortschritt für die Patientinnen und Patienten bleibt häufig begrenzt, weil die medizinische Diagnostik permanent aufwendiger wird, die Behandlungsmöglichkeiten jedoch längst nicht in gleichem Umfang zunehmen. Selbstkritisch müssen wir uns fragen, ob wir als Sachwalter der Beitragszahler genügend getan haben, um neue Produkte und Leistungen in der gesundheitlichen Versorgung ausreichend zu prüfen und zu bewerten, ehe sie von uns finanziert werden.

Auch müssen die Krankenkassen prüfen, ob sie ausreichende medizinische Kompetenz haben, um gegenüber den Leistungserbringern ein gleichwertiger Verhandlungspartner zu sein.

Die Krankenkassen haben zu lange zugelassen, daß die Leistungserbringer und hier speziell die Ärzte Inhalt und Qualität ihrer Leistung selbst bestimmen. In keinem anderen Sektor, gleich ob Industrie oder Dienstleistung, ist es möglich, daß derjenige, der ein Produkt herstellt oder eine Leistung erbringt, den Inhalt selbst bestimmt, den Qualitätsstandard festsetzt und noch über den Einsatz beim Kunden entscheidet. Solange es den Kassen nicht gelingt, bei der Definition der Inhalte und der Qualität von Leistungen ein entscheidendes Wort mitzureden, werden alle Kostendämpfungsbemühungen nur begrenzt Erfolg zeigen. Wenn Kassen aber dort mitreden wollen, müssen sie eigenen medizinischen Sachverstand vorweisen können.

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Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß sich die soziale Krankenversicherung unter den geltenden Wettbewerbsbedingungen von innen heraus selbst zerstören könnte. Es mehren sich die Anzeichen, daß der mit Beginn der Wahlfreiheit zum 1.1.1996 verschärfte Wettbewerb zwischen den Krankenkassen die gesundheitspolitischen und sozialen Ziele der GKV konterkariert. Ich will nicht verhehlen, daß mich die auf Druck der SPD herbeigeführte Organisationsreform im Gesundheitsstrukturgesetz mit Genugtuung erfüllt hat. Sie hat Arbeitern und Angestellten endlich gleiche Kassenwahlrechte gebracht. Damit wurde eine Kernforderung gewerkschaftlicher Sozialpolitik erfüllt, die weit über die GKV hinaus neue Impulse aussendet. Und gleichzeitig wird mit dem Risikostrukturausgleich, der die Faktoren Einkommen, Alter, Geschlecht und Familienlast im Kassenwettbewerb neutralisiert, die Chancengleichheit unter den Krankenkassen spürbar verbessert. Insoweit stehe ich ohne Wenn und Aber zum Gesundheits-Strukturgesetz. Ich mache mir aber keine Illusion darüber, daß der mit Einführung der Wahlfreiheit deutlich härter gewordene Wettbewerb um Versicherte prinzipiell entsolidarisierend wirkt. Dies gilt um so mehr, als im Risikostrukturausgleich die unterschiedliche Morbidität der Versichertenstrukturen zwischen den einzelnen Krankenkassen nicht ausgeglichen wird.

Es ist wohl kaum zu bestreiten, daß beispielsweise Schichtarbeiter in einer Gießerei wesentlich größeren Gesundheitsgefahren ausgesetzt sind als technische Angestellte im Konstruktionsbüro desselben Betriebs. Es verwundert mich deshalb nicht, daß AOK-Versicherte länger und häufiger im Krankenhaus liegen als Versicherte der Techniker-Krankenkasse. Dies ist genauso logisch wie die unterschiedliche Frühinvalidität bei Arbeitern und Angestellten in der Rentenversicherung. Der Unterschied zwischen Kranken- und Rentenversicherung liegt jedoch darin, daß in der Rentenversicherung diese Morbidität in den Ausgleich einfließt und zudem einheitliche Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen ergriffen werden.

Dagegen sind diese Felder in der Krankenversicherung dem Wettbewerb überlassen. In einem Wettbewerb, wo jeder Kranke ein zusätzliches Risiko für die Marktposition einer Krankenkasse ist, werden sich nur schwer vernünftige gesundheits- und sozialpolitische Strategien für Versicherte durchsetzen lassen, die besonderen Gesundheitsgefahren ausgesetzt sind. Im Gegenteil ist zu befürchten, daß Leistungen bei denen großzügig ge-

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währt werden, die Krankenkassen unbedingt behalten oder für sich neu gewinnen wollen. Andererseits könnten die Personen vernachlässigt werden, die die Krankenkassen überdurchschnittlich viel Geld kosten werden, wenn sich eine rein betriebswirtschaftliche Logik durchsetzt.

Selbstverwaltung und Politik können einer solchen Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Sie müssen alles daran setzen, daß sich Subsysteme der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verselbständigen und daß der Wettbewerb zwischen Kassen und Kassenarten nicht die Solidarziele der GKV pervertiert. Die AOK wird dafür kämpfen, daß - ähnlich wie in den Niederlanden - der Risikostrukturausgleich um Elemente der Morbidität erweitert wird. Ich werde mit den Selbstverwaltern der anderen Kassenarten darauf drängen, daß sich der Wettbewerb nicht um Werbegeschenke und überflüssige Leistungen, sondern um innovative und wirtschaftlichere Versorgungskonzepte abspielt und Qualität zum zentralen Wettbewerbsfaktor wird.

Diese Standortbestimmung sollte deutlich machen, daß wir vor sehr komplexen Herausforderungen für die Weiterentwicklung der Gesundheitsreform stehen. Aus dieser Analyse heraus ist auch unschwer erkennbar, wo die GKV die Schwerpunkte der nächsten Reformstufe im Gesundheitswesen setzen muß.

Wenn der Staat nicht selbst die Verantwortung für die Feinsteuerung im Gesundheitswesen übernehmen will - und dagegen gibt es gute Gründe -, dann muß die Selbstverwaltung wirksame Steuerungskompetenzen in allen Versorgungsbereichen, speziell bei der Krankenhausversorgung erhalten. Denn solange die gesetzlichen Krankenkassen keine ausreichenden Einflußmöglichkeiten auf Kapazitäten, Mengen und Entgelte der stationären Leistungen erhalten, ist Beitragssatzstabilität nicht realisierbar. Die Krankenkassen müssen endlich in das Planungsgeschehen in diesem Bereich einbezogen werden. Es ist nicht länger zumutbar, schlecht ausgelastete und ineffizient wirtschaftende Krankenhäuser zu alimentieren. Weiter braucht die Krankenhausseite endlich eine funktionsfähige Selbstverwaltungsstruktur. Ob dies unbedingt eine Krankenhausgesellschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Zwangsmitgliedschaft sein muß, darf hinterfragt werden. Denn die Krankenkassen können kein Interesse an einem neuen Monopolisten haben, der sie gegeneinander ausspielt und Konkurrenzschutz betreibt. Schließlich ist ein stufenweiser Übergang zu

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einer monistischen Krankenhausfinanzierung notwendig. Selbstverständlich ist dieser Übergang beitragssatzneutral zu gestalten. Die Länder werden Lasten der GKV übernehmen müssen. Näheres sollte in der gemeinsamen Arbeitsgruppe der Gemeinsamen Ministerkonferenz und GKV beraten werden.

Es ist daher erfreulich, daß SPD und Koalition sich in vielen Punkten einer grundlegenden Krankenhausreform inhaltlich näher gekommen sind. Und es ist noch dringender, daß die dramatische Kostenentwicklung im Krankenhausbereich durch eine Verlängerung der Budgetierung für 1996 gebremst wird. Doch so sehr die Konzepte sich annähern, noch scheint der Weg zu einem Konsens voller Hindernisse. So existieren allein im stationären Sektor mehrere Gesetzesentwürfe und Verordnungen. Noch bevor die Referentenentwürfe für Sofortmaßnahmen 1996 und Strukturreformmaßnahmen 1997 im Krankenhaus in den Gesetzgebungsprozeß eingebracht wurden, hatte die Koalition bereits ein Vorhaben zur Neuordnung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes sowie die Aussetzung der zweiten Stufe der Bundespflegesatzverordnung und der vierten Stufe der Pflegepersonal-Regelung initiiert. Und wenn ich mir jetzt noch vorstelle, daß weitere Reformmaßnahmen für den ambulanten Bereich noch zwischen der Regierungskoalition abgesprochen werden, müssen wir wahrscheinlich demnächst mit einer weiteren Flut verschiedener Gesetzesinitiativen rechnen. Noch ist die Streichung der Positivliste für Arzneimittel - dem zentralen Instrument der Qualitätssicherung - nicht zu den Akten gelegt, da plant die Koalition bereits die Aushöhlung der Festvertragsregelung. Dies ist nicht nur für die SPD, die die populären Strukturmaßnahmen im Krankenhaus mittragen soll, offenbar aber bei den anderen Reformteilern ausgebremst werden soll, nicht akzeptabel. Auch die Krankenkassen erwarten, daß die nächste Stufe der Gesundheitsreform aus einem Guß erarbeitet wird.

Denn nicht nur im Krankenhausbereich müssen die Reformbestrebungen weitergeführt werden. Auch im ambulanten Bereich und in der Arzneimittelversorgung muß mehr Wettbewerb initiiert werden. Dieser Wettbewerb muß um neue Versorgungsmodelle, um Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung geführt werden. Die AOK hat dazu ihr Hausarztmodell entwickelt und auch neue Vertragstypen zur Reduzierung von überflüssigen stationären Leistungen in Berlin und Hamburg eingeführt. Die Be-

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triebskrankenkasse (BKK) hat ein Modellprojekt mit vernetzten Praxen und kombinierten Budgets in Berlin initiiert. Mit Sicherheit werden andere Kassen mit weiteren Modellen folgen. Wir waren selbst überrascht, welches Echo unsere Vorschläge im politischen Raum, in der Fachöffentlichkeit, in den Medien, aber auch bei vielen Akteuren des Gesundheitswesens - vom Patienten über Ärzte bis hin zu Politikern - gefunden haben. Dabei war eine Revolution eigentlich nie beabsichtigt.

Traditionell ist die ambulante Versorgung ein besonderes Anliegen der GKV. Wir halten sie noch immer für den Schlüssel zum Erfolg für die Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit in unserem Gesundheitswesen. Leider ist die tatsächliche Entwicklung in den letzten Jahren an manchen Bedürfnissen der Patienten und vor allem an der Notwendigkeit, Probleme der Patienten auf der adäquaten Interventionsebene zu behandeln, vorbeigegangen. Wir brauchen daher eine neue Entwicklungsperspektive für die ambulante Versorgung, die die GKV mit ihren Konzepten anbietet. Diese Konzepte setzen auf Freiwilligkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit. Kein Patient und kein Arzt soll in neue Modelle gezwungen werden. Allerdings sollen den Versicherten zusätzliche Angebote gemacht werden, die Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsanreize anders als bisher setzen. Patienten sollen für eine besondere Compliance vor allem durch eine bessere, transparentere und von überflüssigen medizinischen Leistungen freie Versorgung belohnt werden. Ärzte sollen durch mehr Information, Kommunikation, Kooperation sowie durch neue Anreizsysteme gewonnen werden. Darüber hinaus wollen Krankenkassen Ärzten neue Informations- und Unterstützungsangebote zur Verfügung stellen, die es ihnen erlauben, sich mehr auf die ärztliche Arbeit zu konzentrieren und die sozialen und pflegerischen Angebote in ihrem Umfeld für die optimale Versorgung um ihre Patienten zu nutzen. Die ärztliche Tätigkeit soll gegenüber dem Einsatz von Medizintechnik und der Delegation von Leistungen endlich wieder ihren hohen Stellenwert erhalten.

Aber nicht nur durch eine verbesserte Kooperation und Kommunikation einschließlich vielfältiger Unterstützung des Angebotes soll die Qualität der medizinischen Versorgung verbessert werden, Ärzte, die an neuen Versorgungsformen teilnehmen, sollen an regelmäßig stattfindenden Qualitätszirkeln teilnehmen. Werden die vorhandenen Wirtschaftlichkeitsreserven erschlossen, sollen sie teilweise in Strukturverbesserungen für die

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ambulante ärztliche Versorgung fließen, aber auch zur Beitragssatzstabilität beitragen.

So lange fast alle Akteure die Existenz erheblicher Wirtschaftlichkeitsreserven einräumen, sieht die GKV keine Notwendigkeit über Leistungseinschränkungen und Rationierung auch nur zu diskutieren. Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung muß alle medizinisch notwendigen Leistungen enthalten. Eine Absenkung des Sicherungsniveaus unterhalb einer vollwertigen Versorgung ist für die GKV nicht diskutabel.

Alle Krankenkassen lehnen grundsätzlich einen Wettbewerb über Risikoselektion und Ausgrenzung von Patienten ab. Die AOK hat deshalb eine Verfeinerung des Risikostrukturausgleichs um Morbiditätskriterien in die politische Diskussion gebracht. Denn trotz Risikostrukturausgleich geht die AOK mit nicht ausgeglichenen Altlasten in den Wettbewerb. So werden beispielsweise die Härtefälle in der gesetzlichen Krankenversicherung, die zu einem Großteil bei der AOK zu finden sind, nicht ausgeglichen. Diese Nachteile müssen in einer nächsten Stufe der Gesundheitsreform beseitigt werden. Sonst wird die Kassenlandschaft im Wettbewerb nicht bereinigt, sondern leergefegt.

Die nächste Stufe der Gesundheitsreform wird die Strukturprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung, die sich über mehr als ein Jahrhundert in prosperierenden und mageren Zeiten sowie vor allem in schweren Krisen und Umbruchphasen bewährt haben, stärken müssen. Die paritätische Finanzierung der aufzubringenden Mittel nach dem Solidarprinzip und die Gewährung von Leistungen allein nach dem Bedarfsprinzip dürfen ebenso wenig zur Disposition stehen wie der einheitliche Leistungskatalog des Sachleistungsprinzips und die Steuerung über die Selbstverwaltung. Ausgehend von diesen Grundsätzen wird es bei der nächsten Reformstufe darum gehen, den von mir nur skizzierten Katalog von Vorschlägen und Forderungen in ein Gesetzesvorhaben zu gießen, das endlich eine finanzielle Stabilität der GKV herbeiführt, die Selbststeuerungskräfte stärkt und die gesundheitspolitischen Ziele in den Mittelpunkt rückt.

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