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Diether Döring
Einige Reformprobleme der künftigen Sozialpolitik


Auf zwei Überlegungen will ich mich im folgenden konzentrieren:

  1. Welche Reformprobleme (Sicherungsprobleme, Finanzierungsprobleme) bestehen schon im gegenwärtigen System der sozialen Sicherung?

  2. Befinden sich die Ausgangsbedingungen der sozialen Sicherung in einem Wandlungsprozeß, der künftig zusätzliche Reformprobleme erzeugt? (oder diese verringert?)

Reformprobleme lassen sich nicht ohne Bezug auf bestimmte Ziele identifizieren. Die proklamierten Ziele der Politik der sozialen Sicherung in Deutschland sowie die Stärken und Schwächen dieser Orientierung sollen deshalb wenigstens kurz betrachtet werden. Im abschließenden Teil dieses Beitrages will ich einige Elemente skizzieren, die m.E. Teil einer künftigen Sozialreform sein sollten.

Bei der Betrachtung der Institutionen beziehe ich mich im wesentlichen auf die Sozialversicherung und die Sozialhilfe.

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1. Zum derzeitigen Sicherungssystem

Das deutsche Sicherungssystem hat von der personellen Ausrichtung her eine kategoriale Struktur; will heißen, daß verschiedene, jeweils auf große Teilgruppen der Gesellschaft ausgerichtete Institutionen bestehen: die gesetzliche Sozialversicherung als Sicherungsinstitution für die Masse der Arbeitnehmer (und ihrer Familien); die Versorgung der Staatsbeamten (und deren Familien) - oder präziser: Versorgungsprogramme für Beamte verschiedener Bereiche des öffentlichen Dienstes i.e.S. sowie „angelehnte" Versorgungen z.B. der Kirchen. Weitere Systeme der sogenannten „Regelsicherung" (in der Begrifflichkeit Zachers 1991) bestehen z.B. in der Landwirtschaft und für verschiedene Berufsstände. Stellt man auf die persönliche Mitgliedschaft in einer Sicherungsinstitution und den Aufbau

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eigenständiger Sicherungsansprüche ab, so zeigt sich, daß auch in der Addition der verschiedenen Sicherungsinstitutionen in Deutschland keine universelle Erfassung der Einwohnerschaft durch das staatlich organisierte System besteht: Mitgliedschaft und der Aufbau von eigenständigen Ansprüchen sind i.d.R. an einen bestimmten Erwerbsstatus gebunden. Besteht dieser nicht, kommt es zumeist nicht zur Einbeziehung. Allerdings muß gesagt werden, daß auch nicht alle Erwerbstätigkeiten verbindlich in Regelsicherungen einbezogen werden, so die sogenannte „geringfügige" Beschäftigung und große Bereiche selbständiger Tätigkeit. Nichterwerbstätige werden, soweit sie Familienangehörige von Versicherten oder Versorgten sind, in die abgeleitete Sicherung einbezogen: Sie werden in der Krankenversicherung mitversichert und erhalten Rentenansprüche im Hinterbliebenenfall.

Bezüglich der Masse der Geldleistungen dominiert in den wichtigsten Systemen klar die Orientierung auf das Ziel der Lebensstandardsicherung. Eher bedarfslogisch ausgerichtet sind die Gesundheitssicherung sowie die Pflegesicherung.

Ich will im folgenden nur auf die Geldleistungssysteme eingehen. Die Mehrzahl der Geldleistungen ist erwerbseinkommensorientiert, d.h. es wird das Erwerbseinkommen eines bestimmten Zeitabschnitts zugrundegelegt, der bei Unfallrenten, Arbeitslosengeldern, der Arbeitslosenhilfe sowie dem Krankengeld relativ kurz ist, bei Renten der gesetzlichen Rentenversicherung dagegen die gesamte Erwerbsbiographie umfaßt. Das Erwerbseinkommen zählt in der Sozialversicherung allerdings nur zwischen Geringverdienergrenze und Beitrags- bzw. Leistungsbemessungsgrenze. In bezug auf die Sozialhilfeproblematik ist von Bedeutung, daß die deutsche Sozialpolitik traditionell sehr unterschiedliche Einkommensersatzraten im Falle der verschiedenen Risiken ansteuert: Die Niveaus sind relativ hoch bei Arbeitsunfähigkeit und Dauerfolgen von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und Wegeunfällen. Deutlich niedriger schon bei den Renten der gesetzlichen Rentenversicherung. Besonders niedrig bei Arbeitslosigkeit: Hier erscheint uns sogar ein Einbruch um mindestens 40% beim Arbeitslosengeld für Arbeitslose ohne Kind vertretbar. Nun will ich nicht sagen, daß es keine Unterschiede im angesteuerten Sicherungsniveau bei verschiedenen Risiken geben dürfte, aber diese sind - wenn sie angewandt werden - begründungsbedürftig. Eine solche Begründung könnte darin

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bestehen, daß die nichtstaatlichen Sicherungsmöglichkeiten unterschiedlich sind - der Staat also dort hohe Sicherungsniveaus organisieren sollte, wo geringe nichtstaatliche Sicherungschancen bestehen. Dies würde aber gerade im Falle der Arbeitslosigkeit für hohe Niveaus sprechen; allein schon, weil die private Versicherung als Möglichkeit ausfällt. In der Realität spielt im Falle der Arbeitslosigkeit eher die Sorge eine Rolle, ein „zu hohes" Sicherungsniveau würde selbst zu eine Steigerung der Arbeitslosigkeit rühren. Auch gibt es eine Fortdauer populärer Anschauungen über die Ursachen der Arbeitslosigkeit, die dazu beiträgt, daß Einschnitte hier viel „widerstandsloser" durchgesetzt werden können.

Die sehr eindeutige Ausrichtung des deutschen Systems auf die Lebensstandardsicherung als Hauptsicherungsziel ist im wesentlichen ein Ergebnis der Reformen der fünfziger und sechziger Jahre, die mit der Dynamisierung der sozialen Leistungen einen bedeutenden historischen Fortschritt brachten, zudem die durchschnittlichen Leistungsniveaus im Vergleich zur älteren Tradition der deutschen Sozialpolitik z.T. deutlich verbesserten, aber auch - in unserem Zusammenhang wichtig - einige mindestsichernd bzw. ausgleichend angelegte Mechanismen in der Sozialversicherung beseitigten (z.B. die Mindestrenten und die Grundbeträge in der Rentenversicherung, in der Arbeitslosenversicherung hatte es ursprünglich differenzierte Ersatzraten gegeben, die für Niedriglöhne hoch, für hohe Löhne niedrig lagen). Die Sozialhilfe wurde seither in einer klaren zielbezogenen Arbeitsteilung zur mehr oder weniger einzigen gezielt mindestsichernden Institution. Die klarere Ausrichtung auf Erwerbserfolg und Beitragsleistung, d.h. auf eine stärkere Differenzierung der Geldleistungen, entsprach einerseits einer spezifischen Vorstellung von Gerechtigkeit, die man vielleicht mit dem Schlagwort „Leistungsgerechtigkeit" belegen kann (vgl. hierzu: Döring 1995); sie schien allerdings auch politisch vertretbar in einer Situation, in der m.o.w. allen Arbeitsfähigen eine Chance zum Erwerb von Einkommen durch eigene Arbeit geboten werden konnte. Die Bundesrepublik erreichte immerhin in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren alle Zielvorgaben von Vollbeschäftigungspolitik im Übermaß. (Erinnert sei an die klassische Empfehlung von W.H. Beveridge 1944: nicht mehr als 3% Arbeitslosigkeit und deutlicher Nachfrageüberhang nach Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt.) In den sechziger Jahren lag die registrierte Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik, sogar unter Einschluß der Rezession, noch unter 1%.

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Die Erwartung der fünfziger und sechziger Jahre, daß wirtschaftliches Wachstum, Vollbeschäftigung der Arbeitskräfte, Anhebung der Sozialversicherungsleistungen auf ein (bei kontinuierlicher Erwerbstätigkeit) lebensstandardsicherndes Niveau sowie daran gekoppelt auch der abgeleiteten Ansprüche zu einer sinkenden Zahl von Fällen unzureichenden Einkommens im Sinne der Sozialhilfe führen werde, wurde durch die Entwicklung vollauf bestätigt.

Die Reformen der fünfziger und sechziger Jahre hatten neben der durchschnittlichen Niveauanhebung eine stärkere Differenzierung der Sozialversicherungsleistungen durchgesetzt. Im Kern bestimmen die damaligen konzeptionellen Elemente die soziale Sicherung bis in die Gegenwart. Eine wichtige Charakteristik der derzeitigen Lage besteht deshalb in einer ausgeprägten Ungleichheit der Geldleistungen (vgl. VDR 1994, S. 38-44 und BMAS 1994, S. 37 und 41). Gemeint ist hier vor allem die Ungleichheit innerhalb der Geldleistungssparten. Diese Ungleichheit besteht vor allem zuungunsten von Erwerbstätigen mit diskontinuierlichem Erwerbsverlauf und niedrigem Erwerbseinkommen. Diese Konstellation findet sich häufiger bei Frauen als bei Männern.

Übrigens wäre es eine falsche Vorstellung, die betrieblichen Leistungen in Deutschland würden in bezug auf die eben angesprochene Ungleichheit bei den staatlichen Sozialleistungen ausgleichend wirken: So zeigt z.B. für die betriebliche Altersversorgung als wichtigstem Element betrieblicher Sozialpolitik die Infratest-Untersuchung im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums (vgl. u.a. BMAS 1992b, Abb. 7-7; Döring 1994b), daß in den betrieblichen Systemen der privaten Wirtschaft vor allem jene begünstigt werden, die in der gesetzlichen Rentenversicherung bereits eine bevorzugte Position erreicht haben - also: lange und kontinuierlich vollzeitig erwerbstätig waren. U.a. durch die nach „oben" durch die Leistungs- und Beitragsbemessung begrenzte Absicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung begründet, liegt in den meisten betrieblichen Programmen der Akzent sehr stark auf den höheren Einkommen. Maßgeblich ist offenbar hierfür auch das größere personalpolitische Interesse der Unternehmen an hochqualifizierten Beschäftigten und der größere Einfluß des leitenden Personals auf die Entscheidungen im Unternehmen (Döring 1994). Weniger harte Differenzen zeigen sich in den Zusatzversorgungen

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des öffentlichen Dienstes. In anderen Sparten der sozialen Sicherung sind betriebliche Leistungen weniger bedeutsam.

Die angesprochene Problematik ungleicher Leistungen der Sozialversicherung wird, wie leicht erkennbar ist, auch in dem obersten Segment von sozialer Sicherung nicht gemildert, die sich aus der Eigenvorsorge ergibt:

da diejenigen, die in der Sozialversicherung und bei betrieblichen Programmen wegen niedriger Einkommen und diskontinuierlicher Erwerbskarrieren ungünstige Sicherungsniveaus erreichen, zumeist nicht zu jenen gehören, die sonderlich gute Chancen der privaten Vorsorge durch Sparen, Bildung von Immobilienvermögen und private Versicherung haben. Auf dieser Ebene ist eher ein ungleichheitsverstärkender Effekt zu erwarten.

In zusammenfassender Betrachtung kann man es als ein Problem des deutschen Gesamtsystems der sozialen Sicherung (staatliche und nichtstaatliche Aktivität zusammengenommen) betrachten, daß die verschiedenen Elemente in dieselbe Richtung, d.h. auf das gleiche Sicherungsziel hinwirken. Geldleistungen der Sozialversicherung, betriebliche Programme und Eigenvorsorge treiben energisch die Absicherung des Lebensstandards voran und sind hierbei im Zusammenwirken sehr effektiv; das ist die positive Seite des deutschen Modells. Keines der drei Sicherungselemente ist jedoch so konzipiert, daß gezielte mindestsichernde Wirkungen erzeugt werden. Die sehr ungleichen Chancen der Bürger beim Erwerb betrieblicher Ansprüche und in der Eigenvorsorge sind im übrigen ein Hauptgrund, warum die Systeme mehrerer anderer europäischer Länder deutlich stärkere Mindestsicherungselemente im staatlich organisierten System aufweisen (vgl. u.a. Gesellschaft für Versicherungswissenschaft 1994). Die Sozialpolitik zielt dort also eher auf eine zielbezogene Arbeitsteilung zwischen dem Staat und den nichtstaatlichen Akteuren in der sozialen Sicherung.

Die deutsche Entscheidung, die Mindestsicherungsaufgabe an die Sozialhilfe zu delegieren, ist problematisch, da ein deutlicher Widerspruch zu den Einstellungen jedenfalls eines Teils der Bevölkerung besteht. Das subjektive Gefühl von Sicherheit, das soziale Sicherungspolitik neben den objektiven Vorkehrungen anstreben sollte, kann so schwerlich bei allen erzeugt werden. Die Vorbehalte in der Gesellschaft (die schon in den fünfziger Jahren klar festgestellt worden waren) reduzieren außerdem

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drastisch die Wirksamkeit dieser Mindestsicherungsmethode; soll heißen, daß viele Betroffene (insbesondere unter den Älteren) sie nicht in Anspruch nehmen und faktisch in Not verbleiben. Dies erspart zwar Aufwendungen, aber auf sozialpolitisch nicht akzeptable Weise: erkauft durch mangelhafte Zielerreichung. Selbst wenn es auf lange Sicht gelänge, alle Vorbehalte gegen die Sozialhilfe und damit das Wirksamkeitsdefizit durch Aufklärung zu beseitigen, bliebe eine negative Wirkung auf die Eigenvorsorge bestehen, wie sie für bedarfsabhängige Leistungen charakteristisch ist. [ Fn.1: Ein Verteidiger der Sozialhilfelösung für die Mindestsicherung im Alter mag einwenden, daß die heutigen Vorbehalte dazu führen, daß dieser Nachteil geringer ausfällt.]
Im übrigen ist die Sozialhilfe allein schon wegen des Prinzips der Individualisierung kein geeignetes Sicherungsinstrument für ein „Millionenpublikum".

Eine Bemerkung zur Finanzierung der Sozialversicherung: Die Finanzierung erfolgt überwiegend durch bruttolohnbezogene Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Beitragspflicht setzt an der Geringfügigkeitsgrenze ein. Die Beiträge sind bis zur Beitragsbemessungsgrenze bzw. Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung und Privatversicherung lohnproportional; oberhalb der Bemessungsgrenze fallen sie degressiv aus. Die Finanzierung wird durch einen Staatszuschuß ergänzt. Beide Finanzierungselemente sind als Umlageverfahren gestaltet. Sattsam bekannt ist hinsichtlich der Finanzierung die richtige Kritik an der Überlastung der Beitragszahler zugunsten einer Entlastung der Steuerzahler in der Sozialversicherungsfinanzierung. Hier ist eine Korrektur allein schon aus Gerechtigkeitsgründen erforderlich. Die Überlastung des Bruttolohns schadet aber auch tendenziell der Beschäftigung und damit bis zu einem gewissen Grade wiederum der Sozialversicherung selbst.

Zu den Belastungen noch ein Tatsachenhinweis: Bei den Ausgaben für die soziale Sicherung haben wir 1980-1992 einen Rückgang für die alten Bundesländer von 28,4% auf 27,3% des Bruttoinlandsprodukts; wir liegen damit nur noch 0,2% über dem EU-Durchschnitt. Wir liegen im übrigen deutlich unter dem Durchschnitt der entwickelteren europäischen Länder, der neben Deutschland Frankreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark und Luxemburg einschließt (Institut der deutschen Wirtschaft 1995, Übersicht 82).

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2. Einige Veränderungen der Ausgangslage und mögliche Folgen für die soziale Sicherung

Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland verändern sich in vielfältiger Hinsicht. Im folgenden will ich einige Tendenzen ansprechen, die m.E. für die soziale Sicherung im ganzen von besonderer Bedeutung sind:

  • die schrittweise Veränderung der Alterszusammensetzung der Bevölkerung,

  • die Tendenz zur Zuwanderung,

  • die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt,

  • die Veränderung der Lebens- und Familienformen,

  • die Veränderungen in den Werthaltungen.

Nicht vergessen werden sollte, daß parallel zu diesen Tendenzen sich auch der Handlungsrahmen der sozialen Sicherungspolitik verändert. Wenige Jahre zurück liegt die erneute staatliche Einigung Deutschlands. Aus ihr folgen allerdings noch auf Jahre hinaus Anforderungen für die wirtschaftliche und soziale Integration. Eine weitere, weit in die Zukunft hinein laufende Veränderung ist die schrittweise Europäisierung des Handlungsrahmens. Zwar bleibt die Politik der sozialen Sicherung zur Zeit im Kern noch in der nationalen Regie. „Im Kern" heißt jedoch, daß sie schon heute nicht mehr operieren kann, ohne die europäische Ebene ständig „im Blick" zu behalten. Mindestens so wichtig sind indirekte Wirkungen, allein schon des einheitlichen Marktes. Sie gehen von der rechtlich abgesicherten Freizügigkeit und der Intensivierung des wirtschaftlichen Wettbewerbs aus. Auf sehr lange Sicht dürfte auch der Einfluß der europäischen Sozialpolitik auf die nationalen Sicherungssysteme wachsen.

2.1 Veränderung der Altersstruktur und soziale Sicherung

Zu den Aussichten: Ohne eine Zuwanderung sehr großen Ausmaßes ergibt sich künftig ein langfristiger Schrumpfungsprozeß der Gesamtbevölkerung in Deutschland. Nach Vorausschätzung des Statistischen Bundesam-

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tes dürfte sogar bei begrenzter Zuwanderung die Zahl der Einwohner bis zum Jahr 2030 um mehr als 10 Millionen sinken (vgl. Deutscher Bundestag 1994, S. 50-57). Diesen Schrumpfungsprozeß wird man keineswegs aus dem Blickwinkel jeder staatlichen Teilpolitik für nachteilig halten; diskutiert man jedoch künftige Probleme der sozialen Sicherung, insbesondere der Alterssicherung, darf nicht übersehen werden, daß sich innerhalb dieser schrumpfenden Bevölkerung das Verhältnis zwischen der Zahl der Einwohner im erwerbsfähigen Alter und den Älteren verschiebt, da die Zahl der Erwerbsfähigen zunehmend durch die geburtenschwachen Jahrgänge geprägt wird, die sich seit den sechziger Jahren ergeben haben. Der sogenannte „Altenquotient" (= Relation der 20- bis unter 60jährigen zu den 60 Jahre und älteren Personen) wird sich bis zum Jahr 2030 voraussichtlich in etwa verdoppeln. Nun sind solche Vorausschätzungen mit Unsicherheiten belastet, die die gemachten Annahmen betreffen: so mögen sich die Annahmen bezüglich der künftigen Geburten- und Sterblichkeitsentwicklung als unzutreffend erweisen. Mit viel größeren Unsicherheiten sind die Annahmen bezüglich der Zuwanderung belastet (vgl. Abschnitt 2.2). Dennoch sollten die Ergebnisse der angestellten Vorausberechnungen hinsichtlich des Trends ernst genommen werden, zumal wichtige Tatsachen bereits als „gesetzt" gelten müssen. So leben heute diejenigen Personen längst, die um 2030 in ihrer übergroßen Mehrheit die Gruppe der Alten bilden werden (vgl. Schmähl 1994b, S. 335).

Allerdings kann bekanntlich eine Belastungsveränderung im System der sozialen Sicherung, nicht einmal für die Rentenversicherung, einfach vom Altenquotienten abgelesen werden. Zum einen ist dieser nur einer der Einflußgrößen, der auf das zahlenmäßige Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern wirkt. Ein weiterer hochgradig bedeutsamer Faktor in jedem kategorialen, an abhängige Arbeit bzw. Erwerbstätigkeit anknüpfenden, System ist die Beschäftigungsentwicklung. Beeinflußt wird die Relation Beitragszahler/Leistungsempfänger zudem durch Entscheidungen der Politik, so in der Altersgrenzengesetzgebung. Zum anderen wird die tatsächliche Belastung der Beitragszahler erst bei Einbeziehung einer weiteren wichtigen Relation berechenbar: dem Verhältnis des durchschnittlichen Bruttoentgelts, soweit es der Bemessung der Beiträge zugrunde liegt, zur durchschnittlichen Leistungshöhe (hier vor allem der Rentenhöhe). Da das System aber nicht nur durch bruttolohnbezogene Beiträge finanziert wird, sondern auch einen Staatszuschuß erhält, wird

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die Belastung der Beitragszahler zusätzlich von der Entscheidung des Staates über die Höhe des eigenen Finanzbeitrags beeinflußt.

Bei aller Differenzierung und Relativierung der Bedeutung der Altersstrukturverschiebung darf jedoch nicht vergessen werden, daß sie ein gravierender Einflußfaktor bleibt. Voraussichtlich werden vor allem die Finanzierungsschwierigkeiten in allen Sparten der Alterssicherung wachsen, es sei denn, wir nehmen eine sehr günstige Beschäftigungsentwicklung an. Nicht zu vergessen ist, daß über die Alterssicherung i.e. S. hinaus die Altersstrukturverschiebung auch höhere Anforderungen an die Gesundheitssicherung auslösen wird, da ein höherer Anteil von älteren Einwohnern mit durchschnittlich höherem Leistungsbedarf zu versorgen ist. Auch dürfte der Anteil der Pflegebedürftigen und damit die Anforderungen an die Pflegeversicherung (evtl. auch an die Sozialhilfe) steigen.

2.2 Zuwanderungstendenz und soziale Sicherung

Zunächst eine Anmerkung zur bisherigen Entwicklung: Deutschland ist im Laufe der letzten 100 Jahre von einem der klassischen Auswanderungsländer de facto zum Einwanderungsland geworden. [ Fn.2: 1962-1993 kamen 2,6 Millionen Aussiedler in die alte Bundesrepublik bzw. in das vereinigte Deutschland; 1961-1993 sind 20 Millionen Ausländer zugezogen, im gleichen Zeitraum etwa 15 Millionen fortgezogen; Statistisches Bundesamt 1994, S. 21.]
Die in den letzten Jahren stattgefundenen Versuche, durch Rechtsänderung und Änderung von Verwaltungsverfahren eine Begrenzung bei der Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern herbeizuführen, dürften dies in Zukunft nicht grundlegend ändern; allein schon deshalb, da verschiedene Gesichtspunkte dafür sprechen, daß der Zuwanderungsdruck anhalten, vielleicht sich sogar verstärken könnte: Zu denken ist an das Wegfallen der Abschottung durch den früheren Ostblock, die nach innen wie auch gegenüber anderen Ländern wirksam war. Darüber hinaus hat der Zusammenbruch der „bipolaren" Weltordnung und das (Wieder)Erstarken ethnischer, nationalistischer und religiöser Bewegungen die Anzahl der (z.T. auch militärisch ausgetragenen) Konflikte erhöht. Der wirtschaftliche und politische Systemwandel im Bereich des früheren Ostblocks und der Zerfall von Wirt-

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schaftsräumen treiben hier - jedenfalls zunächst - den wirtschaftlichen Niedergang voran. In der „Dritten Welt" gibt es weiterhin ein starkes Bevölkerungswachstum mit der Folge relativ Junger" Gesellschaften (ganz im Gegensatz zu der schrumpfenden und „alternden" Bevölkerung Deutschlands) und ein zu geringes Wirtschaftswachstum. Die Altersstruktur- und Wohlstandsunterschiede - aber nicht nur diese allein - werden deshalb voraussichtlich ein Treibsatz für Wanderungen bleiben. Innerhalb der EU sind im übrigen rein nationale (nicht koordinierte) Steuerungen kaum noch wirksam.

Für die Alterssicherung als wichtiger Teilsparte der sozialen Sicherung kann die Zuwanderung entlastende Wirkungen haben; sie stellt aber auch beträchtliche Anforderungen an andere Sparten der Sozialpolitik. Zu den entlastenden Wirkungen für die Alterssicherung gehört eine günstige Beeinflussung der Altersstruktur. Allerdings gilt diese Aussage für die zukünftige und nicht für die Zuwanderung der letzten Jahre, da diese eher die künftigen Altersstrukturprobleme verschärft haben dürfte. Die Zuwanderer kamen in den letzten Jahren überwiegend in jenen Altersgruppen, die bisher in der einheimischen Bevölkerung schon stark besetzt waren und haben damit den zu erwartenden Altersberg eher erhöht. Für die Zukunft ist aber sehr wohl eine entlastende Wirkung auf die Altersstruktur zu erwarten, unterstellt, daß die Masse der Zuwanderer sich auch dann im erwerbsfähigen Alter befindet. Ob dies jedoch zu höheren Beschäftigtenzahlen führt und damit die Anzahl der Beitragszahler vermehrt, hängt von den künftigen Arbeitsmarktverhältnissen wie auch von gezielten Bemühungen zur sozialen, kulturellen und beruflichen Integration der Zuwanderer ab. Hier muß angemerkt werden, daß in bezug auf die Integrationspolitik bisher ein fataler Mangel an staatlichen Anstrengungen sichtbar ist. Allerdings untergräbt auch die deprimierende Beschäftigungslage eine wirksame Integrationspolitik. Eine energische Integrations- und Beschäftigungsförderung ist jedenfalls die Voraussetzung dafür, daß die Zuwanderung die erwünschte entlastende Wirkung für die Alterssicherung sowie für das System der sozialen Sicherung im ganzen hat. Von selbst stellen sich diese Wirkungen nicht ein.

Ein weiterer, kaum beachteter Aspekt ist die Langfristproblematik der sozialen Sicherung der Zuwanderer selbst; insbesondere jenes wachsenden Teils, der dauerhaft im Lande bleibt. Systeme mit Versicherungscharak-

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ter haben Probleme mit der vollwertigen sozialpolitischen Integration von erwachsenen Zuwanderern. Dies gilt in besonderem Maße für die Rentenversicherung, die für einen ausreichenden Anspruch auf eine mehr oder weniger dauerhafte Versicherung während des ganzen Erwerbsalters abstellt. Personen, die im erwerbsfähigen Alter zuwandern, erreichen deshalb nie mehr „volle" Ansprüche (desto weniger, je älter sie im Zeitpunkt der Zuwanderung sind) - es sei denn, sie bringen - aus deutscher Perspektive „ausreichende" - Ansprüche für die im Herkunftsland verbrachte Zeit mit. Ausreichende Ansprüche werden aber oft fehlen; so, wenn erwachsene Zuwanderer im Heimatland nicht in das dortige Sicherungssystem einbezogen waren, Einkommen und Sozialleistungen sehr niedrig waren oder Rentenansprüche nicht voll mobilitätsgeschützt waren. Ein guter Mobilitätsschutz besteht, vor allem (aber nicht nur) für die Europäische Union. Die Masse der Zuwanderer kommt aber vermutlich weiterhin aus sogenannten „Dritt-Ländern" (vgl. hierzu: Deutscher Bundestag 1994, S. 31ff), wo dies nicht ohne weiteres gilt. Ergebnis dieses Zusammenhangs ist, daß Einwanderer ohne ausreichende und zudem mobilitätsgeschützte Ansprüche im Alter bei einer unzureichenden Sicherung landen, im deutschen System unterhalb der Ersatzraten, die für ein „erfülltes Arbeitsleben" [ Fn.3: In bezug auf die Rentenversicherung sind in Deutschland damit i.d.R. gemeint: 45 Versicherungsjahre.] angesteuert werden. Diese Folge ist allerdings innerhalb einer Rentenversicherung ohne starke Abweichung vom Versicherungscharakter kaum zu vermeiden. Hier kann ein neues Sozialhilfepotential heranwachsen!

Die oft gestellte Frage, ob von bestimmten sozialen Leistungen selbst Wanderungsanreize ausgehen, kann für die deutschen Systeme der sozialen Sicherung wohl verneint werden. Ein solcher Zuwanderungsanreiz könnte vor allem in einer starken Begünstigung kürzerer Zeiten der Mitgliedschaft in einem Sicherungssystem gesehen werden (zusätzlich u.U. auch in der Begünstigung/Aufwertung niedriger Einkommen). Die deutsche Sozialversicherung ist jedoch tendenziell zeitproportional und einkommensproportional ausgerichtet, besonders deutlich in der Rentenbemessung. Es gibt hier sogar Mechanismen, die kürzere Zeiten eher „diskriminieren": so die Aufwertung niedriger Entgelte (Rente nach dem Mindesteinkommen), die an lange anrechenbare Zeiten als Voraussetzung

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gebunden ist. Insofern ist die deutsche Sozialversicherung nicht sehr „zuwanderungsfreundlich". Allerdings bleiben dennoch Anreize bestehen, die nicht sicherungsspezifisch sind, so die absoluten Unterschiede im Wohlstandsniveau (und hieran gekoppelte Unterschiede im Sozialleistungsniveau), so zwischen vielen Ländern der Dritten Welt, aber auch Osteuropas und unserer Gesellschaft. Hinzu kommen die eingangs dieses Abschnitts erwähnten Verhältnisse, die Menschen zu Wanderungen veranlassen.

2.3 Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und soziale Sicherung

Aktuell beschäftigen uns vor allem die Probleme der Arbeitslosigkeit und die weitgehende Resignation der staatlichen Politik in bezug auf das Vollbeschäftigungsziel. Die Folgen dieses Zustandes für die sozialen Sicherungssysteme reflektieren das klassische Dilemma der Sozialpolitik, das sich aus ihrer starken Abhängigkeit von der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung ergibt. In Zeiten steigender Beschäftigung gehen die Anforderungen an die Systeme eher zurück: Die Leistungsempfängerzahlen der Arbeitslosenversicherung gehen zurück; die Verrentungstendenz wird schwächer; in Teilsparten, z.B. der Unfallversicherung, kann es auch gegenläufige Entwicklungen geben: So ist oft die relative Unfallhäufigkeit in solchen Phasen gestiegen; auch bei der Arbeitsunfähigkeit sind solche Entwicklungen erklärlich. Dennoch bleibt im ganzen eine entlastende Tendenz bei den Anforderungen bestehen, denen zudem eine günstige Einnahmeentwicklung gegenübersteht. Hier entstehen Spielräume für sozialpolitische Leistungsverbesserungen. Bei zunehmender Unterbeschäftigung tritt eine gegenläufige Entwicklung ein: Die Leistungen an Arbeitslose sowie die Verrentungstendenz nehmen zu. Parallel wird die Einnahmeentwicklung ungünstiger. Finanzierungsschwierigkeiten wachsen. Die Neigung zu Einschnitten auf der Leistungsseite und zu Beitragssteigerungen wächst. Diesem Dilemma der Abhängigkeit von der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung entkommt die Sozialpolitik nicht. Eine komfortable Sozialpolitik bleibt deshalb auf einen hohen Beschäftigungsstand und damit auch auf eine energische Beschäftigungspolitik angewiesen. Im

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folgenden will ich mich jedoch stärker auf Grundströmungen in der Erwerbstätigkeit beziehen, die für die soziale Sicherung bedeutsam sind.

Eine wichtige Tendenz ist diejenige zur Reduktion der Erwerbsphase durch späteren Einstieg und früheren Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Zum späteren Berufsanfang haben höhere Qualifikationsbedarfe der Wirtschaft und der Ausbau des Bildungsangebots beigetragen. Die Vorverlagerung des Ruhestandsalters ist in der Vergangenheit durch die Altersgrenzengesetzgebung erleichtert worden, dürfte aber letztlich mehr durch die ungünstige Beschäftigungsentwicklung, insbesondere betriebliche Personalabbauprogramme und ungünstige Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer, bedingt sein. Die Tendenz zur Verkürzung der Erwerbsphase ist naturgemäß von besonderer Bedeutung für die Alterssicherung. Eine Verbesserung der Beschäftigungslage würde auch hier Wirkung zeigen, allerdings nur bezüglich des Ausstiegs, nicht des späteren Einstiegs in das Erwerbsleben.

Wegen der zeitproportionalen Gestaltung der Rentenansprüche schlagen sich Verkürzungen der Erwerbsphase im Grundsatz in einer entsprechenden Reduktion nieder (einer entsprechenden Erhöhung der Ansprüche bei Veränderungen in umgekehrter Richtung). [Fn.4: Allerdings ist zu beachten, daß es eine - allerdings auf Höchstzeiten begrenzte - Anrechnung von schulischen Ausbildungszeiten bei der Rentenberechnung gibt.]
Dennoch darf in Hinblick auf die Finanzierung im Umlageverfahren nicht übersehen werden, daß derartige Prozesse nicht gleichzeitig auf die Einnahmen- und die Ausgabenseite wirken: Verkürzungen (oder auch mögliche Ausweitungen) der Erwerbsphase wirken unmittelbar auf die Einnahmenseite, aber erst mit großer Verzögerung auf die durchschnittlichen Ansprüche und somit die Ausgaben.

Die Rentenreform 1992 hat bekanntlich den Versuch einer Revision dieser Tendenz zur Senkung des Ruhestandsalters eingeleitet, soweit die Altersgrenzengesetzgebung diesen Prozeß beeinflussen kann. Allerdings steht dieses Element des Reformgesetzes unter dem Vorbehalt einer Prüfung der Arbeitsmarktlage ab 1997. Aber auch de facto dürfte eine Veränderung der durchschnittlichen Ruhestandsentscheidungen stark von der künftigen Beschäftigungsentwicklung abhängen. Im Grundsatz dürfte die moderne Entwicklung der Erwerbstätigkeiten - die Abnahme körperlicher

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und Zunahme „geistiger" Tätigkeiten, der steigende Anteil von Dienstleistungs- und Kommunikationstätigkeiten - die Erwerbsarbeit von Älteren eher erleichtern; ein Prozeß, der sich künftig fortsetzen dürfte.

Eine weitere Grundströmung geht zu höherer Erwerbsbeteiligung von Frauen (bei jedoch derzeit umgekehrtem Trend in den neuen Bundesländern; zur Erwerbsneigung von Frauen vgl. Abschnitt 2.4). Allerdings muß angemerkt werden, daß hier zu einem großen Teil Teilzeittätigkeiten zuwachsen. Gegenwärtig treibt aber auch die betriebliche Arbeitszeitpolitik der Betriebsräte und der Gewerkschaften, die versucht, die Beschäftigung in wirtschaftlich unter Druck gekommenen Unternehmen zu stabilisieren, den Teilzeitanteil auf dem Arbeitsmarkt voran. Dennoch dürfte es sich um eine längerfristige Grundströmung handeln, die durch sich verändernde Lebensentwürfe und Werthaltungen angetrieben wird.

Individuelle Entscheidungen für teilzeitige Tätigkeiten schlagen sich infolge der klaren Einkommensproportionalität der Mehrzahl der Sozialleistungen relativ „ungebremst" auf die Höhe der späteren Ansprüche nieder (Arbeitslosengelder, Arbeitslosenhilfe, Krankengelder, Unfallrenten, Renten der GRV) [Fn.5: Niedrig angelegte Teilzeittätigkeiten fallen ganz aus der Sozialversicherung heraus (Geringfügigkeitsgrenze), bei der Arbeitslosenversicherung geschieht dies schon unterhalb einer halbzeitigen Tätigkeit.]
Insofern geht vom gegenwärtigen System der sozialen Sicherung kein Anreiz für die Aufnahme einer teilzeitigen Tätigkeit aus; eher ist das Gegenteil der Fall. Eine massive Ausbreitung von teilzeitigen Tätigkeiten an Stelle vollzeitiger Beschäftigungen für einen längeren Zeitraum (eine wohl eher theoretische Möglichkeit) brächte Gefahren für das zukünftige Absicherungsniveau der betroffenen Gruppen. Für einen teilzeitigen Zuwachs zum Bestand gilt dies nicht. Analog stellen sich die Folgen bei den Beitragseinnahmen dar, mit dem Unterschied, daß die Wirkungen hier unmittelbar einsetzen. [Fn.6: Diese Zeitdifferenz: Reduktion der Beitragszahlung bei einem Übergang von Vollzeit zu Teilzeit sofort, bei den Leistungsansprüchen später, ist naturgemäß von Sparte zu Sparte verschieden.]
Es dürfte übrigens kein Zufall sein, daß hohe Teilzeitanteile in solchen europäischen Ländern festgestellt werden, deren Sicherungssysteme stark basisorientiert sind (Niederlande, Dänemark).

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Eine weitere aktuelle, vermutlich sich künftig fortsetzende, Tendenz ist die Zunahme selbständiger und „scheinselbständiger" Tätigkeiten im Industrie- und Dienstleistungssektor sowie in Verbindung damit häufigere Wechsel zwischen abhängigen und selbständigen Tätigkeiten in den Erwerbsbiographien. Selbständige Tätigkeiten führen in der Regel aus der Sozialversicherungspflicht und damit auch aus der Beitragspflicht heraus. Leistungsansprüche entstehen somit naturgemäß nicht. Ob aus einer (eventuellen) massierten Ausgliederung vorheriger Arbeitnehmertätigkeiten und deren Übertragung auf werkvertragliche Basis langfristig neue Probleme der Sicherung entstehen, ist nicht sicher, aber gut möglich. Bei einer Übertragung einer Arbeitnehmertätigkeit auf werkvertragliche Basis kommt es in der Regel - finanziell betrachtet - sofort zum Wegfall des Sozialversicherungsbeitrags, aber erst mit Verzögerung zur Reduktion auf der Leistungsseite. (Je nach Sparte ist diese Zeitverzögerung unterschiedlich groß.)

Probleme einer Erosion der Sozialversicherungsbasis können auch durch die staatliche Politik gefördert werden: So hat die Übertragung von begrenzteren Versicherungspflichtregeln sowie die Einrührung des Beamtenstatus im Gebiet der früheren DDR in Verbindung mit der Veränderung des Erwerbssystems zu einer massiven Erosion der zuvor dort bestehenden (fast) universellen Sozialversicherungspflicht geführt. Auch für die alte Bundesrepublik gilt, daß durch die Zulassung von berufsständischen Versorgungswerken für bestimmte Arbeitnehmergruppen Erosionen gefördert worden sind. Auch im Falle der Selbständigen begrenzt die Entstehung von Versorgungswerken das Interesse an der freiwilligen Versicherung in der Sozialversicherung.

Im Ergebnis ist es wohl keine sonderlich gewagte Annahme, daß auch in Zukunft mit einer weiteren Erosion der „ungebrochenen" Versicherungskarrieren, d.h. der ununterbrochenen, vollzeitigen Arbeitnehmertätigkeit, die man als die traditionelle Leitfigur der deutschen Sozialversicherungspolitik betrachten kann, zu rechnen ist. Diese Entwicklung hat auch deshalb starke Rückwirkungen auf die deutsche Sozialversicherung, weil die Versicherungspflicht hier eher eng kategorial definiert ist. Mehrere andere europäische Länder mit Sozialversicherungssystemen schließen, wie bereits erwähnt, alle Erwerbstätigen und damit auch die Selbständigen in die Versicherungspflicht ein (vgl. Gesellschaft für Versicherungswissenschaft 1994).

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2.4 Veränderung der Lebens- und Familienformen und soziale Sicherung

Zunächst eine Anmerkung zur bisherigen Entwicklung: Im Laufe unseres Jahrhunderts hat sich ein fortschreitender Rückgang der Familien- und Haushaltsgröße ergeben [Fn.7: Die durchschnittliche Haushaltsgröße hat sich (Deutschland) 1900-1992 von 4,5 auf 2,2 Personen abgesenkt (Statistisches Bundesamt 1994, S. 32).]
Aber auch die Lebensform „Kleinfamilie" hat Ende des 20. Jahrhunderts deutlich an Größe, gesellschaftlicher Bedeutung und Stabilität verloren. Der Anstieg der Scheidungsraten, die Zunahme nichtehelicher Lebensformen und die geringen Kinderzahlen zeigen dies an. Fast zwei Drittel aller Haushalte in (West)Deutschland umfassen nur noch ein oder zwei Personen, etwa 34% sind sogar Einpersonenhaushalte (Statistisches Bundesamt 1994, S. 31). Deutlich gewachsen ist auch die Zahl der sogenannten „unvollständigen Familien".

Diese Entwicklung hat Folgen für die soziale Sicherung. Die geringeren Kinderzahlen haben ein Mehr an Frauenerwerbstätigkeit ermöglicht. Die größere Brüchigkeit von Ehe und Familie hat aber auch die Angewiesenheit von Frauen auf Erwerbstätigkeit gesteigert. [Fn.8: Die steigende Frauenerwerbstätigkeit ist allerdings keineswegs nur durch den Lebensformenwandel bedingt; sie kann z.T. auch als Gegenwehr von Paaren mit Kindern gegen den sozialen Abstieg aufgefaßt werden (Lampert 1993, S. 53f).]
Diese steigende Erwerbsneigung von Frauen hat eine gewisse ausgleichende Wirkung in bezug auf die zu erwartenden altersstrukturbedingten Schwierigkeiten; sie hat im übrigen die sozialpolitisch wünschenswerte Folge, daß die Reichweite eigener, gleichberechtigter Sicherungsansprüche von Frauen und damit zugleich der Anteil der Leistungsansprüche, die durch eigene Beiträge „gedeckt" sind, zunimmt. Damit nimmt die Angewiesenheit von verheirateten Frauen auf abgeleitete Ansprüche ab. Auf der anderen Seite verringert aber die stärkere Erwerbsneigung die Möglichkeit (vielleicht auch die Bereitschaft) zur Übernahme unbezahlter Familientätigkeiten, z.B. der Pflege von kranken und hilfsbedürftigen Angehörigen, die in ihrer übergroßen Mehrheit bisher von Frauen geleistet wurde. Dies steigert die Angewiesenheit auf externe (bezahlte) Unterstützungsleistungen, die letztlich kollektiv getragen werden müssen (Klauder 1994, S. 768).

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Einpersonenhaushalte und „unvollständige" Familien sind sozialpolitisch gesehen deutlich verwundbarer als „vollständige" Familien. Infolgedessen wächst voraussichtlich die Zahl von Problemlagen durch den Eintritt von Einkommensrisiken sowie bei Eintritt von Belastungen durch längere Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Die gegenwärtig immer noch wichtige Rolle der Familie (und anderer gemeinschaftlicher Lebensformen) als sozialer Sicherungsinstitution übersehen wir geradezu chronisch. Bei der Wahl nichtehelicher Lebensformen kommt es im übrigen auch zum Wegfall von heute an den Status der Ehe gekoppelter sozialrechtlicher Ansprüche, so des Anspruchs auf Hinterbliebenensicherung, des Versorgungsausgleichs im Falle von Scheidung oder der Mitversicherung in der Krankenversicherung. Gerade die Hinterbliebenensicherung spielt in der Sicherung alleinlebender älterer Frauen immer noch eine Schlüsselrolle, da die übergroße Mehrheit der heute älteren verheirateten Frauen von den eigenen Rentenansprüchen nicht leben kann. [Fn.9: Vgl. empirische Untersuchung von Döring/Hauser/TibitanzI 1993; dies ergibt sich auch dann, wenn neben der gesetzlichen Rente andere Ansprüche einbezogen werden und eine eher knappe 40%-Armutsgrenze angewandt wurde.]
Auch wenn positiv vermerkt werden kann, daß die wachsende Erwerbsneigung die eigenständige Alterssicherungsansprüche von Frauen vermehrt, so ist doch nicht gewährleistet, daß dieser Prozeß in überschaubarer Zeit zu ausreichenden Ansprüchen führt. Deshalb ist große Vorsicht im Umgang mit der Hinterbliebenensicherung geboten. Auf diese Sicherung wird ein großer Teil der älteren (verheirateten) Frauen vermutlich noch für lange Zeit angewiesen bleiben. In den neuen Bundesländern dürfte die Angewiesenheit auf die Hinterbliebenensicherung bei Frauen in Zukunft langfristig sogar ansteigen, da dort die Erwerbsbeteiligung der Frauen gegenüber dem früher sehr hohen Niveau von 98% (Klauder 1994, S. 767) eher einbricht und damit (die Finanzierungsbasis schmälert und) den Erwerb eigener Ansprüche reduziert.

2.5 Wertewandel und soziale Sicherung

Die sozialwissenschaftliche Forschung hat bezüglich der Werthaltungen in der Bevölkerung einige bemerkenswerte Veränderungstendenzen aufgezeigt, die gern unter dem Schlagwort „Individualisierung" thematisiert

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werden (was neben dem Wertewandel auf sozialstrukturelle Veränderungen zielt). Verstanden wird hierunter einerseits eine wachsende Heterogenität der Einstellungen als Ergebnis der Auflösung traditioneller Sozialisationsmuster, andererseits eine Bewegung von Arbeits-, Disziplin-, Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zur Orientierung auf persönliche Selbstverwirklichung, verbunden mit eher hedonistischen Haltungen. Auch wenn verschiedene Untersuchungen [Fn.10: U.a. Beck 1986f.; Zapf 1981t; hinsichtlich der Arbeitsorientierung: Brinkmann 1984f; hinsichtlich der Haltung zu Lebensformen Ostner 1995; vgl. auch Statistisches Bundesamt 1994, S. 438ff., insbesondere für Unterschiede West/Ost.] gegen eine Dramatisierung dieser Tendenzen sprechen, bleibt doch ein Konsens bestehen, daß eine Grundströmung hin zu einer Höherbewertung von individueller Selbständigkeit und Unabhängigkeit besteht. Hierin eingeschlossen scheint eine steigende Wertschätzung individueller Entscheidungs- und Handlungsspielräume zu bestehen.

Hier ist zu fragen, welche Folgerungen sich möglicherweise für die Sozialpolitik ergeben. Zunächst scheint mir, daß die Grundorientierung auf das Versicherungs- bzw. Äquivalenzprinzip - wenn man so will: das „Leistungs-/Gegenleistungs-Prinzip" - in der Sozialversicherung vom Wertewandel her „im Trend" liegt und auf lange Sicht noch stärker akzeptiert werden dürfte, als dies schon gegenwärtig der Fall ist. Dagegen scheint mir die Veränderung der Werthaltungen im oben beschriebenen Sinne eher gegen das Prinzip der abgeleiteten Ansprüche in unserer Sozialversicherung zu laufen (Mitversicherung in der Krankenversicherung, Hinterbliebenensicherung in der Rentenversicherung), und dies u.U. von beiden „Seiten" her: der Akzeptanz der familienpolitischen Umverteilung bei den Beitragszahlern einerseits und der Akzeptanz dieser quasi „unselbständigen" Sicherungsmethode seitens der nichterwerbstätigen Ehepartner andererseits. Ein sehr weitreichender Schluß hieraus wäre, daß die gesellschaftliche Akzeptanz auf ein weitgehend individualisiertes und stärker universalisiertes (d.h. auch Nichterwerbstätige einschließendes) System zuläuft. Dieses müßte, unterstellt, der Wertewandel würde hier richtig charakterisiert, über Versicherungsinstrumente, also über eine Universalisierung der Versicherungspflicht, angesteuert werden. Dies wirft schwierige Probleme auf, die aber nicht unlösbar sind. [Fn.11: Auf jeden Fall sind Mechanismen der Beitragsstützung bei fehlendem Einkommen erforderlich.]
Immerhin ist zu konsta-

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tieren, daß die an anderer Stelle beschriebene Tendenz zu größerer Erwerbsneigung bei Frauen in den alten Bundesländern die Ausbreitung eigenständiger Ansprüche vorantreibt. Allerdings führt dies im gegenwärtigen System nicht automatisch zu ausreichenden Ansprüchen, wobei mit „ausreichend" hier mindestens armutsvermeidend gemeint ist.

Angemerkt sei, daß auch andere, in der Konsequenz noch weitergehende, Schlüsse gezogen werden könnten: Eine radikale Folgerung zielt darauf, die Rolle der staatlich organisierten Sicherungssysteme langfristig überhaupt stark einzuschränken, um individuelle Handlungsspielräume so groß als möglich zu gestalten. Vorschläge (z.B. Frankfurter Institut 1986) einer solchen Reduktion des staatlich organisierten Systems richten sich zumeist darauf, dieses auf jene Rolle zu beschränken, die (wegen des hier nötigen Maßes von Einkommensumverteilung) nur ihm übertragen werden kann: der ausschließlichen Mindestsicherung im Alter, die wiederum möglichst versicherungsförmig ausgestaltet werden soll. Ein solch radikaler Umbau, d.h. im Grunde: völliger Bruch mit dem bisherigen System, ist jedoch m.E. schon deshalb nicht sinnvoll, weil es eine gewachsene (und empirisch belegte) Akzeptanz für den konzeptionellen Kern, also die Einkommensorientierung, das Sozialversicherungsprinzip, wenn auch nicht jedes Detail des gegenwärtigen Systems, gibt (vgl. Pioch 1994). Dennoch scheint es möglich, daß Vorschläge dieser Art langfristig auf größere Sympathie in der Gesellschaft stoßen, als dies bisher der Fall war.

2.6 Einige Folgerungen

Auf die angesprochenen Veränderungen der Ausgangslage sollte sich die Sozialpolitik einstellen, da sie die Gestalt der künftigen Sicherungsprobleme wie auch der künftigen Finanzierungsprobleme deutlich verändern können. Eine konzeptionelle Vorbereitung scheint mir auch deshalb wichtig, da die Erfahrung zeigt, daß politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche im Spiel der Kräfte gerne dazu genutzt werden, gesellschaftliche Konsense oder Kompromisse aufzukündigen und „Grenzverschiebungen" gerade in Verteilungsfragen zu erreichen. Man kann in der seit der deutschen Einigung (und der Verschärfung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten) eskalierenden Debatte um den „Umbau des Sozialstaates" auch solche Versuche erkennen, stattfindende oder bevorstehende

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Veränderungen der Ausgangsbedingungen zu einer Neuorientierung der Sozialpolitik zu nutzen.

Den Veränderungen wie den heute bestehenden Defiziten sollte keinesfalls rein defensiv begegnet werden. Notwendig ist hier m.E. ein zukunftsweisendes Reformprojekt, das die Problemlösungsqualität der Systeme verbessert und zugleich ihre Finanzierungsbasis weiterentwickelt. Einige Elemente eines solchen Reformprojekts sollen stichwortartig benannt werden:

  • Da jede entwickelte Sozialpolitik auf Verteilungsspielräume angewiesen ist, muß eine energische, beschäftigungsstärkende Politik Teil jeder zukunftsweisenden Sozialreform sein. Auch ein reformiertes System der sozialen Sicherung wird stark vom Beschäftigungsstand abhängig bleiben.

  • Die künftige Sozialpolitik wird energisch auf die Verstärkung ihrer mindestsichernden Qualität achten müssen. Kurzfristig dürfte ein Abfangen der Sozialhilferisiken durch den Einbau von bedarfsorientierten Mindestsicherungsregelungen in die Sicherungssysteme (Sozialversicherung) die „Methode der Wahl" sein. Dies wäre ein Fortschritt gegenüber der Sozialhilfelösung, bleibt aber doch eine fürsorgeartige Maßnahme. Auf lange Sicht sollte deshalb versucht werden, den Versicherungsschutz selbst in der Weise auszubauen, daß es zu einem „Herauswachsen" der Sicherungsansprüche aus der Sozialhilfebedürftigkeit kommt. Überlegenswert wäre der Ausbau der Versicherungspflicht über den derzeitigen Personenkreis hinaus und die Ergänzung der lohnbezogenen Beitragspflicht durch Mindestbeitragsregelungen. Diese Mindestbeiträge müßten u.U. bei niedrigen Einkommen subventioniert werden. (Abzuwägen ist hier die Verpflichtung von privaten Haushalten, Beitragszahlern und Staat.)

  • Die künftige Sozialpolitik wird nicht mehr auf die bisherige Ehezentrierung setzen können, die bisher vor allem in der Absicherung von Frauen eine unverzichtbare Rolle spielt (Hinterbliebenensicherung in der Rentenversicherung, Mitversicherung in der Krankenversicherung). Vermutlich wird man langfristig auf den Ausbau eigenständiger Ansprüche für alle Mitglieder der Gesellschaft, auch der Nichterwerbstätigen, setzen müssen. Konzepte eines Ausbaus sind hier schon in der sozialpolitischen Diskussion.

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  • Die künftige Sozialpolitik muß auch ihre Finanzierungsbasis weiterentwickeln. Die derzeitige Sozialversicherung konzentriert sich sehr stark auf die Beitragsfinanzierung. Diese wird sogar z.T. dort eingesetzt, wo es sich eindeutig um gesamtgesellschaftliche Lasten handelt (so bei Integrationsaufgaben in den neuen Bundesländern). Die überzogenen Beitragsanteile in der Finanzierung tragen zu einer Überlastung des Lohnes bei. Dies ist ungerecht und schadet tendenziell der Beschäftigung. Hier ist eine Veränderung erforderlich. Nicht vergessen werden darf auch die schon oben angesprochene Möglichkeit, die Beitragspflicht (und den Versicherungsschutz) in der Sozialversicherung auszubauen. Viele westeuropäische Länder stellen die Sozialversicherungspflicht auf Erwerbstätigkeit und nicht ausschließlich auf den Arbeitnehmerstatus ab. Reformbedarf besteht auch hinsichtlich der Versicherungspflichtgrenze in Krankenversicherung und Privatversicherung.

  • Die künftige Sozialpolitik wird sehr energisch auf die Position der Kindererziehenden, unabhängig von der Lebensform der Eltern, achten müssen. Die starke Betroffenheit von großen Familien und Alleinerziehenden durch Sozialhilfebedürftigkeit zeigt die Notwendigkeit an. Hier sollten Mittel, insbesondere von ehebezogenen steuerlichen Vergünstigungen auf Kindergeldleistungen verlagert werden. Der Ausbau der Kindergeldzahlungen auf ein angemessenes Niveau für alle Kindererziehenden, also Erwerbstätige, Erwerbslose und Nichterwerbstätige, ist im übrigen das sozialpolitisch gebotene Mittel, dem Lohnabstandsgebot Rechnung zu tragen.

  • Die künftige Sozialpolitik sollte stärker als bisher die Bildungspolitik als eines ihrer Instrumente betrachten. Die Notwendigkeit zeigt sich insbesondere bei den Integrationserfordernissen von Zuwanderern. Ihnen müssen gleiche Chancen auf Erwerbstätigkeit wie Deutschen durch sprachliche und berufsbezogene Bildungsmaßnahmen verschafft werden. Ein weiteres wichtiges Feld ist der Ausbau von Bildungsmaßnahmen in Richtung permanenter beruflicher Qualifikation für alle Arbeitnehmer wie auch insbesondere für Wiedereinsteiger(innen) in den Arbeitsmarkt.

  • Die künftige Sozialpolitik sollte die präventive Gesundheitspolitik viel energischer angehen. Die extremen berufs- und schichtspezifischen Unterschiede bei den Gesundheitsdaten zeigen hier einen beachtlichen Entwicklungsbedarf an.

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  • Die künftige Sozialpolitik sollte versuchen, eine effektivere Sicherung und Interessenvertretung auch auf der nichtstaatlichen, insbesondere betrieblichen. Ebene zu entwickeln. Die derzeitigen rechtlichen Elemente stützen zwar gewachsene Ansprüche, verhindern aber nicht den Hinauswurf ganzer Arbeitnehmergruppen (so der Berufsanfänger in vielen betrieblichen Altersversorgungen).

Eine abschließende Bemerkung: Diese sehr kurzen und zwangsläufig nicht vollständigen Hinweise mögen deutlich machen, daß die sozialstaatlichen Institutionen vor schwierigen Anpassungsentscheidungen stehen. Was wir hier brauchen, ist sicher mehr als Stückwerkspolitik, wir brauchen einen Sozialreformentwurf, der einen einsichtigen konzeptionellen Ausbau unseres Sicherungssystems vorschlägt.

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