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Hans-Dieter Höpfner
Generelle und regionalspezifische Entwicklungen der Berufsausbildung in den neuen Bundesländern:
Situation und Trends


1. Einführung

Daß sich der Gesprächskreis Arbeit und Soziales der Friedrich-Ebert-Stiftung mit der Berufsausbildung in den neuen Bundesländern auseinandersetzt, ist aus vielen Gründen bedeutsam. Es kann dabei gegenwärtig -1995 - aber nicht nur um eine Diskussion über eine Förderpolitik für die durch wirtschaftlichen Um- und Abbau problembeladene duale Ausbildung im Osten gehen.

Seit Jahren wird über die Krise des dualen Systems der Bundesrepublik auf universitärer Ebene orakelt. Jetzt scheint sie einzutreten.

In diesem Jahr gibt es einen Rückgang des Lehrstellenangebotes im Osten um 1% und im Westen um 12%. Es fehlen nach offiziellen Angaben über 13.000 Lehrstellen. Dies kann in diesem Jahr nicht mehr mit der wirtschaftlichen Rezession erklärt werden. Die Wirtschaft befindet sich im - wenngleich auch schwachen - Aufschwung. Alle Anzeichen deuten hin auf ein strukturelles, auf ein Systemproblem. Nach Umfragen sparten fast 40% der Firmen mit über 500 Beschäftigten bei der Ausbildung, in Unternehmen mit mehr als 2000 Mitarbeitern waren es sogar mehr als 60%. Nur noch jeder dritte Betrieb in Deutschland bildet aus (Martens 1995).

Bei einer heutigen Analyse der Entwicklungen der Berufsausbildung in den neuen Bundesländern muß dieser Hintergrund immer berücksichtigt werden.

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2. Die Situation in der betrieblichen Ausbildung

In den letzten Jahren arbeitete ich in einer Reihe von Projekten zur Berufsausbildung in den neuen Bundesländern. Dabei handelte es sich um

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das Projekt Ausbildungsentwicklung AE, das in allen neuen Ländern installiert war, ein Projekt zur Ausbilderqualifizierung im Rahmen von PQO (Personalqualifizierung in Ostdeutschland), an dem Ausbilder aus allen neuen Bundesländern teilnahmen, einen Modellversuch und zwei Modellversuchsinitiativen zur Doppelqualifikation in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen. Aus der Arbeit mit Ausbildern, Ausbildungsleitern, Personalleitern, Meistern, Lehrern und Sozialpädagogen von betrieblichen, überbetrieblichen, außerbetrieblichen Ausbildungsstätten und Berufsschulen habe ich Einsichten in die Entwicklung der Berufsausbildung erhalten und Erfahrungen gesammelt, die eine wesentliche Basis der folgenden Ausführungen sind.

Bedeutendster Träger der betrieblichen Ausbildung ist die Industrie. Ihre Arbeits- und Ausbildungsplätze sind in den neuen Ländern infolge der wirtschaftlichen Umstrukturierung am schwersten vom Abbau betroffen.

In dem industriell gesehen strukturschwachen, monostrukturierten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern ist der industrielle Um- und Abbau weitestgehend abgeschlossen und es hat sich ein industrielles Ausbildungsplatzangebot auf sehr niedrigem Niveau gefestigt. Dies ist für die anderen neuen Bundesländer noch nicht zu konstatieren. Insbesondere für die industriellen Kerne in Sachsen ist der weitere Umbau und vor allem auch der Abbau gegenwärtig noch im Gange. Hier werden zu den fehlenden industriellen Ausbildungsplätzen in diesem und in den nächsten Jahren noch viele hinzukommen. Insgesamt ist wie im Westen Deutschlands ein Rückzug von der Berufsausbildung festzustellen. Als Hauptgründe werden auch hier angegeben

  • Berufsausbildung kostet zuviel Zeit",

  • Wir haben keinen Bedarf an Auszubildenden'',

  • Die Kosten sind zu hoch".

Zur defizitären Situation der Erstausbildung trugen und tragen nach wie vor auch Arbeitsverwaltungsmaßnahmen bei der Umschulung freigesetzter Arbeitnehmer bei. Der Eintritt von Umschülern in die Unternehmen auf die dadurch viel kostengünstigeren gewerblichen und kaufmännischen Praktikantenplätze reduzierte die vielerorts dringend benötigte Ausbildungskapazität ebenfalls.

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Wie sieht es in einzelnen Wirtschaftszweigen aus?

In der Metall- und Elektroindustrie ist generell ein Absinken der Ausbildungsplätze zu konstatieren. Dies ist nicht nur durch die Insolvenzen von Firmen bedingt. Die sich am Markt behauptenden Firmen reduzieren längerfristig den Fertigungs- und Instandhaltungsbereich um ca. 30%. Im gleichen Maße wie im Produktionsbereich wird auch im übrigen Unternehmensbereich abgebaut.

Auf niedrigem Ausbildungsplatzniveau werden von den Firmen folgende Berufe und Berufsfelder als zukunftsträchtig eingeschätzt:

  • Konstruktionsmechaniker/in,

  • Zerspanungstätigkeiten mit NC- und CNC-Technik,

  • Industrieelektroniker/in,

  • Arbeitsvorbereiter/in,

  • Bürofachkräfte, insbesondere für den Planungs- und Marketingbereich.

Für die Ausbildung wird eine Entwicklung hin zu höherwertiger Facharbeit gefordert. Dies soll sich vor allem in der Tendenz weg von arbeitsplatz- hin zu komplexer arbeitsbereichsorientierter Ausbildung ausdrücken. Schnittstellenqualifikationen, die an den Unternehmensnahtstellen Konstruktion, Planung, Vorbereitung, Fertigung und Kommerz entstehen, müssen in neuen inhaltlichen und methodisch-organisatorischen betrieblichen Ausbildungskonzepten ihren Niederschlag finden. Und genau hier wird ein Problem des dualen Systems deutlich. Bei inhaltlichen Veränderungen, die Ausbildungsverordnungen betreffend, ist das duale System viel zu unflexibel. Der ein Jahrzehnt währende Neuordnungsprozeß der Metall- und Elektroberufe ist dafür das beste Beispiel. Sie wären heute schon wieder neu zu überarbeiten, wenn sie den genannten Forderungen gerecht werden wollten.

Die Attraktivität der Metall- und Elektroberufe hat in den neuen Bundesländern insbesondere durch den Abbau an Arbeitsplätzen in diesem Bereich abgenommen. Trotzdem kann für die verbleibenden angebotenen Ausbildungsstellen im Regelfall ein Bewerberüberhang verzeichnet werden. Eine Ausnahme bildet die Hüttenindustrie in Sachsen, die Probleme bei der Besetzung ihrer Ausbildungsplätze hat.

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In der Chemieindustrie ist der Um- und Abbau von Unternehmen bis Mitte 1995 weitestgehend abgeschlossen. Diese Branche hat sich zu einer mittelständischen umstrukturiert. Die meisten der 182 Firmen haben unter 200 Beschäftigte. Nur 10 Betriebe haben mehr als 1.000 von den insgesamt 44.000 Beschäftigten. Die Ausbildungsquote des Industriezweiges beträgt 5,5%. Ausgebildet werden hauptsächlich Chemikanten, Pharma-kanten, elektrotechnische und kaufmännische Berufe. Von den Anfang 1995 sich in der Ausbildung befindenden 2.200 Auszubildenden sind 40% Mädchen. Dieser Anteil liegt höher als in den alten Bundesländern. Die Einstellung der Branche zur Ausbildung entspricht dem Bundestrend.

Über erste Ausbildungsverbünde, die in Sachsen-Anhalt und Sachsen entstanden sind, wird den Finnen ein effizienteres und kostengünstigeres Ausbilden ermöglicht. Ihr Beispiel soll andere Firmen zum Wiedereinstieg in die Berufsausbildung über Verbünde motivieren.

Eine in den neuen Ländern boomende Branche ist die Baubranche. In den Monatsberichten des BMWi (BMWi-Monatsberichte 1-8/94) wird die Nachfrage nach Bauleistungen in den neuen Bundesländern anhaltend auf hohem Niveau eingestuft. Setzt man nach diesen Analysen den Auftragseingang im Bauhauptgewerbe zur Jahresmitte 1990 gleich 100%, dann war zum gleichen Zeitpunkt 1994 eine Steigerung um 150% zu verzeichnen. Die aktuelle Einschätzung findet ihre Entsprechung in Langzeitstudien führender Wirtschaftsinstitute, wonach zwar für Hoch- und Tiefbau, Wohnungs- und öffentlichen Bau differenzierte, aber tendenziell expandierende Bauleistungen bis über das Jahr 2005 hinaus prognostiziert werden.

Vor dem Hintergrund der steigenden Bauleistungen reklamieren die Verbände und die Unternehmen einen zunehmenden Fachkräftemangel.

Zum einen erwarten sie von der Berufsausbildung Facharbeiter, die mit neuen Baumaterialien, neuen Technologien und neuer Technik umgehen können, zum anderen sollen die Absolventen des dualen Systems eine Marketingfunktion als Dienstleister erfüllen können und ein ausgeprägtes kaufmännisches Denken haben. Hier erwarten sie erhebliche Beiträge durch die überbetriebliche Ausbildung unterstützt durch die Berufsförderungswerke. Die vormals doch recht konservative Berufsausbildung im Baugewerbe erfahrt durch die Forderungen an die Unternehmen Impulse, die zu wesentlichen materiellen, inhaltlichen und methodischen Veränderungen in der Ausbildung führen. Von der Baubranche in den neuen Län-

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dern geht eine Initiative aus, die ihre Auswirkungen auch auf das duale System insgesamt haben kann. In der Region Rostock und im ganzen Bundesland Sachsen wurde eine Modellversuchsinitiative durch die Unternehmen ins Leben gerufen, bei der es um die Doppelqualifikation im dualen System geht. Auszubildende sollen in der normalen Lehrzeit den Facharbeiterabschluß und die Fachhochschulreife erhalten. Die Unternehmen befördern dies, da sie betrieblich ausgebildete Absolventen bautechnischer Studienrichtungen gegenüber solchen, die nur über das Abitur verfügen, bevorzugen und sie wollen die Absolventen der Doppelqualifikation für den Abbau ihres erheblichen Mangels an qualifizierten Führungskräften auf allen Managementebenen nutzen.

Der Ausbildungsschwerpunkt in der Baubranche liegt derzeit bei den Maurern und Betonbauern, gefolgt von den Zimmerern und Dachdeckern. Das Verhältnis beträgt hier 61% zu 22%. Es überwiegen die industriellen Ausbildungsplätze mit 54% gegenüber 46% im Bauhandwerk.

Potenzen für die Erhöhung des Ausbildungsplatzangebotes gibt es aber auch noch in anderen Bereichen. So existieren im Industrieland Sachsen in absoluten Zahlen im Vergleich mit den anderen vier neuen Bundesländern beispielsweise die meisten landwirtschaftlichen Ausbildungsplätze, während Mecklenburg-Vorpommern, trotz seiner großen landwirtschaftlichen Bedeutung, die bei weitem geringste Zahl landwirtschaftlicher Ausbildungsplätze anbietet. In Thüringen werden vergleichsweise wenig Ausbildungsmöglichkeiten bei öffentlichen Verwaltungen bereitgestellt, während die privaten Dienstleistungen (freie Berufe) hier im Ländervergleich prozentual am ehesten die Zahl von Personen ausbildet, die langfristig erforderlich erscheint. Insgesamt steigt das Ausbildungsplatzangebot in den neuen Bundesländern im Bereich der freien Berufe jedoch nicht kontinuierlich und erreicht erst gut den halben Anteil (um 7%) im Vergleich zu den alten Bundesländern (ca. 12%).

Das Handwerk in Ostdeutschland verzeichnet gegenüber der Industrie, deren Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge (wenn man alle Industriezweige zusammennimmt) zurückgeht, einen erheblichen Zuwachs an abgeschlossenen Ausbildungsverträgen. Er stieg zwischen 1992 und 1995 um fast 40%. Bei aller Freude über die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen durch das Handwerk wollen wir auch hier eine Gefahr für das duale System nicht verkennen:

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Wir wissen, daß der Auszubildende viel zu oft noch als billige Arbeitskraft gilt. Subventionen von 5.000 DM befördern diese Einstellung eher noch. Wenn die Ausbildung im Handwerk, die den modernen Anforderungen an Technik- und Technologiekompetenzen, Arbeitsorganisationsformen und Lernfähigkeiten nur schwer nachkommt, zum Rückgrat des dualen Systems wird, „dann geht dieser Bildungszweig den Weg der Hauptschule: Er verkommt zu einer Restgröße" (Klaus Heimann von der IG Metall zitiert bei Martens 1995),

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3. Der Trend zur außerbetrieblichen Berufsausbildung

Die duale Umgestaltung, die Trennung der Betriebsschulen und Betriebsberufsschulen von der praktischen betrieblichen Ausbildung, war Anfang 1992 abgeschlossen. Berufsschulen und Oberstufenzentren bildeten und profilierten sich unter Landesverantwortung neu. Betriebliche Ausbildungsstätten verselbständigten sich in diesem Prozeß oftmals als außerbetriebliche Ausbildungsstätten. Dafür gab es verschiedene Gründe: Einige wurden zu diesem Schritt von ihren Betrieben gedrängt, da der Betrieb für diese Aufgabe unter den aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen kein Geld habe. Oft waren es aber auch die Mitarbeiter der Bildungsstätten selbst, die in die Unabhängigkeit wollten. Die Idee, daß die Vermittlung von Grundlagen in der Ausbildung nur mit qualifizierten Vollzeitpädagogen möglich ist, war und ist bei ihnen fest verankert. Da die Treuhand den Fortbestand der vorhandenen Ausbildungsverhältnisse garantiert hatte, schien die eigene Existenz zunächst gesichert. Zudem wurden neue Ausbildungsverhältnisse über den § 40 c des AFG finanziert. Der Trend zu außerbetrieblichen Bildungszentren war so ausgeprägt, daß bereits über eine mögliche Systemveränderung durch diese Entwicklung in den neuen Ländern spekuliert wurde. Denn auch Unternehmen aus den alten Ländern zeigten zunehmend Interesse dafür, wie sich durch die Ausgründung der eigenen Bildungsabteilung die Ausbildung teilweise öffentlich finanzieren lassen könnte. Alle Spekulationen um eine mögliche Systemveränderung mit außerbetrieblicher Ausbildung als festem Bestandteil des dualen Systems wurden gedämpft, als 1993 die Bundesanstalt für Arbeit die Finanzierung der Ausbildungsplätze einstellte. Und trotzdem, eine große Anzahl (mehr als 70%) von außerbetrieblichen Einrichtungen bestand fort, vor

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allem die, die auch zu Partnern von Betrieben für die Aus- und Weiterbildung wurden. Sie bauten Kooperationskontakte zu anderen Trägern aus, zu Stellen der öffentlichen Verwaltung (Wirtschaftsförderung/Regionalplanung/Sozialverwaltungen) und anderen Institutionen, wie freien Trägern von Sozialarbeit und politischen Gremien. Der Erfolg der außerbetrieblichen Bildungsträger, der durch wieder einsetzende staatliche Förderung noch unterstützt wurde, darf jedoch über Gefahren für die regionale Wirtschaftsentwicklung nicht hinwegsehen lassen. Die Palette der angebotenen Berufe orientiert sich bestenfalls am aktuellen Bedarf, am zukünftigen Bedarf geht sie sehr wahrscheinlich vorbei. Die Anzahl der angebotenen Ausbildungsberufe, in denen ein sinkender Bedarf zu verzeichnen ist -insbesondere im Metall- und Elektrobereich und auch im Textilbereich -, ist wesentlich zu hoch. Außerbetriebliche Einrichtungen nehmen auch nicht ausreichend auf sich ändernde betriebliche Bedingungen organisatorischer und technisch-technologischer Art Rücksicht. In diesem Zusammenhang besteht die Gefahr, daß sie nicht die Kompetenzen ausbilden, die in den Betrieben künftig benötigt werden.

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4. Didaktische und organisatorische Entwicklungen in der Ausbildung

Kurz nach dem Fall der Mauer wurde von den meisten Ausbildern und Ausbildungsleitern wie von den meisten DDR-Bürgern das „Alte" rigoros abgelehnt. Endlich könnte man wieder so ausbilden, wie man das eigentlich schon immer wollte:

  • ohne lästige zentrale Bevormundung,

  • ohne die Zwänge der produktiven Ausbildung,

  • mit einem hohen Maß an didaktisch aufbereiteter Werkstattausbildung zurück zu den alten Tugenden deutscher Facharbeiterausbildung und -erziehung.

Je mehr man sich jedoch mit dem neuen Ausbildungssystem beschäftigte, desto deutlicher wurden aber auch die Vorteile des alten. Insbesondere die Zuständigkeit der zwei Lernorte Betrieb und Schule wurde als wenig sinnvoll erachtet. Im Vergleich zu den eigenen Ingenieurpädagogen wur-

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den die Anforderungen der „Ausbildung der Ausbilder" als völlig unzureichend angesehen. Und in der Reflexion didaktischer Fragen empfand man sich dem Westen als durchaus ebenbürtig. Mit diesem Selbstbewußtsein war man allgemein nicht bereit, sich vom Westen über die richtige Art und Weise der Ausbildung belehren zu lassen. Statt dessen wollte man endlich mit den nunmehr größeren eigenen Gestaltungsspielräumen und der jetzt wesentlich besseren materiellen Ausstattung eigene Lösungen entwickeln. Dies bedeutete nicht, daß man sich nicht Anregungen aus den alten Bundesländern einholte. Vor dem Hintergrund der eigenen guten berufspädagogischen Ausbildung wurden moderne Ausbildungsformen der westdeutschen Berufsausbildung, wie selbständige Projektarbeit, Leittexteinsatz und das Lernen im Team für die berufspraktische Ausbildung aufbereitet. Auf diesem Feld sind gegenüber der westdeutschen Ausbildung keine Defizite mehr zu konstatieren.

Bedingt durch den nicht geringen Anteil außerbetrieblicher Berufsausbildung und durch den eingangs erwähnten Trend „weg von der produktiven Ausbildung" ist die vormals didaktisch gut durchdrungene Ausbildung am Lernort Arbeitsplatz, wenn vorhanden, auf einem schlechten Niveau.

Ihr in der Berufsausbildung der DDR konsequent werteschaffender Charakter und die entsprechenden Organisationsformen sind aufgehoben. Die Neubestimmung der Stellung nebenamtlicher Ausbilder an den betrieblichen Ausbildungsplätzen ist noch nicht vollzogen. Ausbildung an betrieblichen Arbeitsplätzen haftet zudem der Makel des Streitigmachens von Facharbeit an.

Demgegenüber begann Anfang der neunziger Jahre in den alten Bundesländern eine immer stärkere Orientierung der Ausbildung hin zu dezentralen Strukturen, hin zu mehr Ausbildung am Lernort Arbeitsplatz. Hier besteht jetzt - paradoxerweise - ein Nachholbedarf in der Berufsausbildung der neuen Bundesländer.

Wie auch im Westen wird von der betrieblichen Berufsausbildung beklagt, daß die Zusammenarbeit mit der Schule viele Mängel hat. Das betrifft die Abstimmung der Lehrpläne, die Abstimmung der Lehrinhalte durch die Lehrenden und die viel zu wenigen Kontakte zwischen Schule und Betrieb.

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Auch wird beklagt, daß die Unterrichtsmethoden in der Schule, die hauptsächlich durch frontales Vorgehen geprägt sind, der „neuen Didaktik" im Betrieb nicht entsprechen.

Die sozialen Beziehungen zwischen Lehrern und Ausbildern sind jetzt deutlicher als früher durch den unterschiedlichen sozialen Status geprägt. Lehrer gelten oft als „die Theoretiker", die die Segnungen des unkündbaren „Beamten" erhalten haben, während die Ausbilder in ihrem Betrieb um ihren Arbeitsplatz bangen müssen.

Bei der Kritik der betrieblichen Ausbildung an der Schule wird immer auf die in der DDR vorhanden gewesene wesentlich engere Zusammenarbeit von Schule und Betrieb verwiesen.

Durch die Auflösung der Bezirkskabinette, der regionalen Abteilungen Berufsbildung und Berufsberatung, durch die Übernahme der Berufsschulen durch das Land und die damit in der Regel verbundene Beendigung der Zusammenarbeit von Schule und Betrieb in den sogenannten „Methodischen Kommissionen" entstand in allen Regionen ein Kommunikationsdefizit für Ausbilder, Lehrer und andere Ausbildungsverantwortliche. Neue, dezentrale Kommunikationsstrukturen sind nicht oder nur in Ansätzen vorhanden.

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5. Initiativen zur Doppelqualifikation im dualen System

Wenn das Wort Doppelqualifikation fällt, dann hört man von Berufsbildnern in den neuen Ländern: „Das hatten wir ja schon - Berufsausbildung mit Abitur". Und es wird beklagt, daß dieser Bildungsgang bei der Einführung des dualen Systems so rigoros abgeschafft wurde. Er hatte eine große Akzeptanz bei den Jugendlichen und ihren Eltern und auch die Industrie griff gern auf Studienabgänger zurück, die diesen Bildungsweg gegangen waren.

Von vielen Managern ostdeutscher Unternehmen, die in der DDR ausgebildet wurden, wird gefordert, den Nachwuchs für das Management verstärkt über Absolventen eines solchen Bildungsganges zu entwickeln. Sie tun dies zum Teil aus eigenen guten Erfahrungen damit und aus der Einsicht in die Praxisferne gegenwärtiger deutscher Hochschulausbildung.

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Am lautesten ist der Ruf aktuell in der Baubranche und hier insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen. In Sachsen will die Bauindustrie und das Handwerk des gesamten Bundeslandes 1996 mit dem Bildungsgang „Berufsausbildung mit gleichzeitigem Erwerb der Fachhochschulreife von Maurern, Zimmerern und Beton- und Stahlbetonbauern" im Rahmen eines Modellversuches beginnen. Dabei handelt es sich um einen sogenannten „integrativen Bildungsgang". Modellversuche zur Doppelqualifikation gab es bisher in der Bundesrepublik eine ganze Reihe. Allerdings waren es nur wenige im dualen System. In Modellversuchen zur Doppelqualifikation mit einem beruflichen Abschluß nach BBiG war dabei bisher die betriebliche Seite zu wenig in den integrativen Prozeß von beruflicher und allgemeiner Bildung eingebunden, insbesondere dann, wenn es um eine zusätzliche Studienberechtigung ging.

In dem genannten „integrativen Bildungsgang" werden Facharbeiterbrief und Fachhochschulreife in der normalen Berufsausbildungszeit erworben. Die Zeitersparnis wird durch die Integration der Einführung in die wissenschaftliche Arbeit und der Berufsausbildung möglich. Betriebe, überbetriebliche Ausbildungszentren und Schulen leisten dabei in gemeinsamer Arbeit ihren Beitrag. Das bedeutet auch, daß die betriebliche und überbetriebliche Seite bei der Allgemeinbildung mitwirkt.

Von den Ausbildungspartnern werden in die Ausbildung von fachlichem Wissen und Können und des studienvorbereitenden Wissens der Fachoberschule spezielle Kenntnisse zur Nutzung des Computers in Führungsfunktionen. Englischkenntnisse für effiziente Arbeitsanweisungen auf den unteren und mittleren Managementebenen, Managementkenntnisse und Grundlagen der Betriebswirtschaft eingewoben.

Zurückgegriffen werden kann bei diesem Modellversuch auf die Erfahrungen eines Modellversuches zur „integrativen Doppelqualifikation", der seit zwei Jahren in Brandenburg durchgeführt wird. Bei diesem Versuch geht es um die Ausbildung von Industriemechanikern und Energieelektronikern bei gleichzeitigem Erwerb der Fachhochschulreife.

Hier zeigte sich bisher, daß nicht nur die angezielten Fähigkeiten und Kenntnisse von den Auszubildenden erworben wurden, es ergaben sich auch positive Rückwirkungen auf die Verbesserung der Zusammenarbeit von Schule und Betrieb und die Qualifizierung schulischen Lernens hin zu mehr selbständigem Lernen der Schüler und zu mehr Teamarbeit.

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Neben der Erfüllung der Forderungen der Unternehmen ist dieser Bildungsgang auch ein bedeutsamer Beitrag für die Verbindung allgemeiner und beruflicher Bildung in unserem Bildungssystem. Er sorgt für die Durchlässigkeit des dualen Systems zum Erreichen höherer Bildungsabschlüsse und für den Weg betrieblicher Karrieren aus der Berufsausbildung heraus. Mit ihm steigt die Attraktivität des dualen Systems, die es dringend nötig hat.

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Literatur

BMWi-Monatsberichte 1-8/94.

Martens, E.: Den Vorsprung verspielt, in: Die Zeit, Nr. 15, 7.4.1995, S. 28.

Institut für Regional- und Baumarktentwicklung: Baubedarf in Sachsen bis 2005, Leipzig 1993.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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