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TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 35 ]


Jürgen Micksch
Miteinander für Gerechtigkeit
20 Jahre Woche der ausländischen Mitbürger -
Wie geht es weiter?


Thesen zum Gespräch

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1. Aus dem Ausländersonntag wurde eine interkulturelle
Bewegung


Unter dem Motto „Miteinander für Gerechtigkeit" gab es im Oktober 1975 erstmals einen bundesweiten ökumenischen Ausländersonntag. Ein zweiter Ausländersonntag widmete sich 1978 der Situation ausländischer Kinder - die Vorsitzenden der Kirchen formulierten damals, daß „die Bundesrepublik zum Einwanderungsland geworden ist". Im Jahre 1980 wurde mit der These „Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft" eine jahrelange Diskussion ausgelöst. Seit 1986 gibt es den Flüchtlingstag in der Ausländerwoche, für den Pro Asyl die Materialien erarbeitet. Seit 1990 finden Veranstaltungen in den neuen Bundesländern statt, mit inzwischen vergleichsweise mehr Aktivitäten als in den alten Ländern. Seit 1991 wird auch von der Interkulturellen Woche gesprochen.

Bei der letzten Woche der ausländischen Mitbürger fanden bundesweit über 3.000 Veranstaltungen statt. Über 8.000 Gottesdienste widmeten sich dieser Thematik. Neben zahlreichen Rundfunk- und Fernsehsendungen berichteten über 500 Zeitungsartikel über die Woche. Aus dem Ausländersonntag ist eine interkulturelle Bewegung geworden.

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2. Eine kirchliche Initiative wurde zur gesellschaftlichen Institution

Bei der Initiierung eines bundesweiten ökumenischen Ausländersonntags war es mein Ziel als damaliger Ausländerreferent der EKD, den evangeli-

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sehen Kirchen die Verantwortung für Ausländerfragen bewußt zu machen, die damals nur als soziale Aufgabe gesehen wurden. Das ist erreicht worden.

Der Ausländersonntag profilierte sich durch Konflikte. Nach anfänglich harter Kritik als Alibi - Veranstaltung wurden allerdings so viele örtliche Initiativen ausgelöst, daß sich eine positive Bewertung durchsetzte. Gewerkschaften, Unternehmer, Sportverbände, die Ausländerbeauftragten der Bundesregierung und der Länder, Kommunen, Ausländerbeiräte, Initiativgruppen sowie Vertretungen fast aller gesellschaftlichen Gruppen haben Veranstaltungen in der Ausländerwoche unterstützt. Viele Gremien in der Ausländerarbeit sind durch die Ausländerwoche initiiert worden.

Die Woche der ausländischen Mitbürger ist zu einer gesellschaftlichen Institution geworden, die öffentliches Gewicht hat. Der zur bundesweiten Vorbereitung gebildete Ausschuß befürwortete das kommunale Wahlrecht und kritisierte öffentlichkeitswirksam das Ausländergesetz - deswegen wurde er von der Regierung angegriffen. Mit dem Kirchenamt der EKD und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz gab es deswegen Konflikte. Gegenwärtig finden mit beiden Kirchenverwaltungen Gespräche zur künftigen Arbeit des Ausschusses statt.


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3. Die polarisierte öffentliche Meinung benötigt Impulse

In fast allen Lebensbereichen gibt es ein beachtliches Engagement für ein friedliches Zusammenleben zwischen Deutschen und Fremden - und zugleich verstärkt sich in großen Teilen der Bevölkerung die Ablehnung von Ausländerinnen und Ausländern, Asylsuchenden, Juden oder Roma. Die Lichterketten haben daran nichts geändert. Eine fremdenfeindliche und teilweise rassistische Grundstimmung sucht sich immer neue Zielgruppen. Waren es Ende der sechziger Jahre die Italiener, Ende der siebziger Jahre die Türken, so sind es seit Mitte der achtziger Jahre die Asylsuchenden und Afrikaner und seit einigen Jahren Muslime. Die Interkulturelle Woche kann durch positive Impulse dazu beitragen, gegen einen breiten gesellschaftlichen Trend die immer wieder aufbrechenden fremdenfeindlichen Stimmungen zu überwinden.

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4. Innovationen und Konflikte prägen die interkulturelle Normalität

Die multikulturelle Realität ist durch Konflikte bestimmt. An Konflikten können Menschen wachsen oder scheitern. Bei ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen ist das Scheitern der Normalfall. Bedenkenträger auf den verschiedenen Seiten bleiben meist im Recht.

Ein friedliches Zusammenleben ist möglich, wenn innovative Bewegungen Anregungen geben, wie mit Konflikten umzugehen ist. Die gesellschaftli
che Dynamik darf nicht den Fremdenfeinden und Rechtsextremisten überlassen werden. In den letzten Jahren war das häufig der Fall.

Angesichts des fremdenfeindlichen Potentials in Deutschland reicht eine interkulturelle Woche nicht mehr aus, auch wenn sie sich - wie in Berlin - auf fast zwei Monate ausgedehnt hat. Das ganze Jahr über sind Ak
tivitäten erforderlich.

Für diese Aufgabe sind neue Strukturen erforderlich, bei denen Ausländer
innen und Ausländer mit Einheimischen dauerhaft und gleichberechtigt zusammenwirken. Personen aus Kirchen, Gewerkschaften, Bürgerinitiati
ven und staatlichen Stellen sollten sich daran an erster Stelle beteiligen. Auf den Ebenen der Kommunen, Länder und des Bundes können Interkul
relle Räte, Runde Tische oder ähnliche Gruppen weiter entwickelt oder eingerichtet werden, bei denen kritische und offene Dialoge stattfinden und von denen gemeinsame Kampagnen organisiert werden. Konkurrie
rende Initiativen können das Spektrum möglicher Ansprechpartner erwei
tern. Bei der Woche der ausländischen Mitbürger als Höhepunkt interkul
reller Aktivitäten sollte jedoch eine breite Zusammenarbeit angestrebt erden.

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5. Rassismus macht einsam

In vielen Ländern werden am 21. März Veranstaltungen zum Tag der Vereinten Nationen zur Überwindung von Rassismus durchgeführt. Warum kaum in Deutschland? Müßte unsere Vergangenheit dafür nicht Grund genug liefern, die verbreitete Ablehnung von schwarzen Deu
tschen, die alltäglichen Diskriminierungen oder die Ereignisse von Mölln, Solingen

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und Lübeck? Weltweit gerät Deutschland in die Isolation, wenn diese Herausforderung verdrängt wird.

Die vom Interkulturellen Rat in Deutschland erstmals zum 21. März 1995 herausgegebenen Plakate und Anregungen mit dem Motto „Rassismus macht einsam" wollen dafür Anstöße geben. Den Einheimischen sind die Folgen von Fremdenhaß und Rassismus zu vermitteln, die Demokratien und Menschenrechte zerstören können.


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6. Nur wenige Muslime sind Islamisten

Ablehnung bis hin zum Haß gegen Muslime verbreiten sich nicht nur in Deutschland. Begründet wird das mit Zuständen im Iran, in der Türkei, in Algerien, im Sudan oder mit den islamischen Terroristen. Nichts darf beschönigt werden: Aber das alles sind keine Gründe, Muslime in Deutschland abzulehnen. Manche christlichen Fundamentalisten nutzen solche Stimmungen aus, um Haß gegen Muslime zu schüren.

Nur wenn sich Menschen in der Tiefe religiösen Denkens verstehen, kann Friede zwischen ihnen wachsen. Religiöser Fanatismus ist genauso gefährlich wie Rassismus.

Interreligiöse Beziehungen haben daher eine hohe Priorität. In der Breite haben Kirchen vor dieser Herausforderung versagt, auch wenn es gerade bei der letzten Interkulturellen Woche erfreuliche positive Ansätze gab. In der Weihnachtszeit können Muslime zu christlichen Feiern eingeladen werden, denn auch sie freuen sich über die Geburt von Jesus, den sie als Propheten Isa verehren. Zum Ende des Ramadan können christliche Nachbarn von Muslimen eingeladen werden - in manchen islamischen Ländern hat das eine gute Tradition.

Am Vorabend zum 3. Oktober könnten interreligiöse Gespräche und Begegnungen stattfinden, in denen Gemeinsamkeiten und Unterschiede erlebt und besprochen werden. Solche Begegnungen sind mit Buddhisten, Christen, Hindus, Juden, Muslimen und Menschen anderer Religion möglich. Zum Tag der Deutschen Einheit gehört auch die positive Wahrnehmung religiöser Vielfalt in Deutschland.

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7. Völkischer Nationalismus wird überwunden, wenn sich Deutschland als interkulturelle Nation versteht

Das Selbstverständnis als deutsche Nation ist belastet. Mit ihm verband sich die Vorstellung eines homogenen Landes. Diese Nation hatte sich nach außen gegen die Nachbarn abgegrenzt. Furchtbare Kriege waren die Folge. Und nach innen war es damit nicht vereinbar, daß zur deutschen Nation auch Juden, Sinti oder Roma gehören. Das Selbstverständnis als homogene deutsche Nation wurde zur geistigen Wurzel für die Vertreibung und Vernichtung von Minderheiten. Damit hängt es zusammen, daß sich Deutsche mit einem Nationalfeiertag schwer tun. Das gilt gleichfalls für manche der hier lebenden ausländischen Gruppen.

Nun ist nach einem neuen Selbstverständnis zu suchen, das den Menschenrechten verpflichtet ist: Deutschland als Teil Europas, mit unterschiedlichen Bundesländern, verschiedenen Erfahrungen im Osten und Westen und Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion, die hier ihre Heimat haben. Deutschland ist zu einer interkulturellen Nation geworden. Ein interkulturelles nationales Selbstverständnis könnte sich nach innen und außen friedensstiftend auswirken.

Zu einer künftigen Gestaltung des Tages der Deutschen Einheit gehören daher die Reflexion der veränderten Situation und zugleich viele interkulturelle Feste, Feiern und Veranstaltungen, die Mut für das Neue machen. „Einheit in Vielfalt" kann dafür ein geeignetes Motto sein.


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8. Der Populismus vieler Politiker ist eine der Ursachen für Fremdenhaß und Gewalt

In fast allen Parteien gibt es Politiker, die sich sachlich um Ausländerfragen bemühen. Beispielhaft sind die verschiedenen Ausländerbeauftragten der Bundesregierung und der Länder sowie das Büro für Einwanderer und Flüchtlinge in Hessen, die sich bei meist unzureichender personeller Ausstattung engagiert für ein friedliches Zusammenleben einsetzen.

Die meisten Politiker haben sich jedoch populistisch die Schlagworte rechtsextremer Parteien angeeignet („Überfremdung", „Asylbetrüger"

„multikriminelle Gesellschaft" usw.). Das hat die Fremdenangst erst rich-

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tig verbreitet. Erst spät wurde erkannt, daß die polarisierende Politisierung von Ausländerthemen vor allem den rechtsextremen Parteien nützt.

Zugewanderte Menschen sind keine potentielle Gefahr, die es abzuwehren gilt, sondern Partner bei der Gestaltung der neuen Bundesrepublik. Die Sachdiskussion sollte künftige politische Debatten bestimmen. Da Politiker meist erst auf fahrende Züge aufspringen, kommt einer von der Basis getragenen interkulturellen Bewegung eine bedeutende Rolle zu. Nur durch beachtliche Mehrheiten in der Bevölkerung erhalten unsere Ziele politisches Gewicht.

Unverzichtbar ist die Aufgabenstellung, Politiker auf ihre Verantwortung für den sozialen Frieden und ihr schwerwiegendes Versagen bei Ausländerfragen anzusprechen. Es ist problematisch, wenn Politiker wegen ihres Versagens zu immer weniger Veranstaltungen während der Interkulturellen Woche eingeladen werden. Eine Demokratie lebt vom Dialog mit den Politikern - dieser Aufgabe sollte sich die Interkulturelle Woche trotz aller Enttäuschungen verpflichtet fühlen.

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9. Zur interkulturellen Bewegung gehört die gleichberechtigte Partizipation von Ausländerinnen und Ausländern

Vorrangig für eine interkulturelle Bewegung ist die gleichberechtigte Partizipation von Ausländerinnen und Ausländern. Das ist häufig ein Defizit. Ohne die enge Kooperation mit Migranten werden auch gut gemeinte Initiativen nicht erfolgreich sein. Bündnisse sollten mit allen Demokraten geschlossen werden, die sich für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben einsetzen. Dazu gehören vor allem Personen in den Kirchen, Gewerkschaften, Unternehmen, Medien, in der Werbung, Wissenschaft, an Schulen und nicht zuletzt bei staatlichen Stellen.

Eine interkulturelle Bewegung ist

  • vielfältig und nicht einfältig,
  • europäisch und nicht völkisch,
  • kommunikativ und nicht abgrenzend,
  • gerecht und nicht gewalttätig,

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  • interreligiös und nicht fanatisch,
  • interkulturell und nicht deutsch-national.


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10. Die Interkulturelle Woche lebt von innovativen Kampagnen

Seit 20 Jahren gibt es den Ausländersonntag und die Woche der ausländischen Mitbürger - und zugleich haben Fremdenhaß und Gewalt gegen Ausländer laufend zugenommen. Zusätzlich werden inzwischen auch Obdachlose, Behinderte und andere ausgegrenzt und tätlich angegriffen. Engagierte Menschen werden dadurch frustriert - aber gerade angesichts dieser Entwicklung sind Bemühungen um den sozialen Frieden um so dringlicher.

Die Interkulturelle Woche kann nur wirksam sein, wenn es ihr mit Innovationen und attraktiven Impulsen gelingt, Menschen zur Mitarbeit zu gewinnen. Wenn es solche Impulse und damit ausgelöste Konflikte nicht mehr gibt, wird die Ausstrahlung der Woche zurückgehen.

Das Motto „Miteinander für Gerechtigkeit" hat vor 20 Jahren Konflikte ausgelöst - wir brauchen solche Konflikte auch heute. Deswegen sind Kampagnen erforderlich, um

  • interkulturelle Bündnisse zu ermutigen und partizipatorisch zu organisieren,
  • die Einbürgerung zu erleichtern und die doppelte Staatsbürgerschaft zu akzeptieren,
  • das kommunale Wahlrecht für alle zu erreichen,
  • das Ausländergesetz und Asylrecht zu reformieren,
  • Ehegatten ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu geben und
  • hier aufgewachsene ausländische Jugendliche auch bei Straffälligkeit nicht auszuweisen.

[Seite der Druckausg.: 42 = Leerseite ]


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