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TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 29 ]


Monika Springer-Geldmacher

Interkulturelles Lernen in Schulen mit Kindern und Jugendlichen


Das gegenseitige Ausgrenzen der sich Fremden

Während Kinder neugierig sind, auf den anderen zugehen, sozial sind, zusammenführen wollen, wählen Jugendliche die Abgrenzung, besonders dann, wenn der Konkurrenzkampf um das andere Geschlecht, um Ausbildung und Arbeit beginnt. Vorurteile existieren auf beiden Seiten, Ausländer bemühen sich nicht, einheimische Werte kennenzulernen, einheimische Jugendliche prangern die Mißachtung „ihrer" Werte an. Auf der Suche nach der eigenen Identität wird der Andersartige oft abgelehnt, um mit der eigenen Verunsicherung umgehen zu können, der Fremde ausgegrenzt. Vorurteile existieren jedoch nicht nur bei den unterprivilegierten Jugendlichen, sondern man kann generalisierend sagen, daß je weniger Jugendliche miteinander umgehen, um so ablehnender und vorurteilsbehafteter stehen sie sich gegenüber. Ausgrenzung geschieht sowohl von seiten der Deutschen gegenüber den Ausländern, als auch umgekehrt. Nur da, wo man sich ganz gut kennt, spielt die Abgrenzung voneinander keine Rolle mehr.

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Werteverlust

Ohne pädagogische Intervention ist der Ausgrenzung nichts entgegenzusetzen, sind gemeinsames Tun für etwas, was gemeinsam interessiert, nicht herzustellen. Ohne pädagogische Intervention ist der Gewalt unserer Kinder, die die Gewalt dieser Gesellschaft widerspiegelt, kein Einhalt zu gebieten. Ohne pädagogische Intervention ist dem Werteverlust unserer Jugendlichen, die ja nur den Werteverlust der Erwachsenengeneration spiegeln, nicht entgegenzutreten.

Hurrelmann spricht von der latenten Regellosigkeit der unterprivilegierten deutschen Jugendlichen. Unser Signalsystem greift im Grund nur für die innengesteuerten Personen aus den Mittel- und Oberschichten, und die

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mehr außengesteuerten Jugendlichen können gesellschaftliche und schulische Standards mit ihren Mitteln nicht so ohne weiteres erkennen. Dies trifft auf muslimische Jugendliche auch zu. Die Familien der ausländischen Jugendlichen intervenieren ebensowenig wie die sozial schwachen deutschen Familien, denn die ausländischen Familien setzen ihre männlichen Sprößlinge großen Freiheitsgraden in unserer Gesellschaft aus, während ihre Mädchen viel stärker der äußeren Kontrolle unterliegen und von daher viel seltener die Grenzen unseres Wertesystems überschreiten. Die männlichen Jugendlichen aber haben alle Freiheiten, Grenzen auszuloten und mißverstehen unser System allzuoft als grenzenlos.

Die Regellosigkeit der muslimischen männlichen Jugendlichen wird also hervorgerufen durch einen Konflikt zwischen den zwei Regelmustern, denen sie sich gegenübersehen, dem des Elternhaus und dem in unserer Gesellschaft gültigen.

Der Konflikt wird hervorgerufen durch zwei verschiedene Muster der Überwachung von Regeln: Während beispielsweise türkische Jugendliche in der Familie durch äußere Kontrolle reglementiert werden, existiert dieses Muster in der deutschen Gesellschaft und in der Schule nicht. Dieses Fehlen der äußeren Kontrolle verunsichert die Jugendlichen sehr, weil sie durch den fehlenden Außendruck ständig in der Gefahr sind, die Normen, die in der deutschen Gesellschaft gelten, zu übertreten.

Das bedeutet, daß die beiden Teilgruppen von Jugendlichen mit der Art und Weise, wie bei uns ein soziales Miteinander gesichert, ausgehandelt, stabilisiert wird, aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten haben, zurechtzukommen. Im Effekt sind beide dadurch verunsichert, daß Regeln nur implizit sind: Man muß sie suchen, ertasten. Aber eigentlich sind diese Jugendlichen darauf angewiesen, daß sie Regeln vorfinden, an die sie sich halten können. Aber erst, wenn sie schon viel zu weit gegangen sind, erfahren sie, daß plötzlich beispielsweise das Strafrecht zuschlägt.

Auch hier ist eine pädagogische Intervention unumgänglich. Die Spielregeln müssen wieder explizit und transparent erfahrbar werden.

Soziale Konflikte, die im pädagogischen Raum auftreten, müssen ausgetragen und nicht weggedrängt werden. Kommt es also zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen, zu gewalttätigen Übergriffen, dann darf der Pädagoge nicht weggucken, sondern muß aufarbeiten, was passiert ist.

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Er muß die sozialen Regeln und Normen für den Umgang miteinander zum Thema machen. Er muß über sie reden, muß sie festlegen, besonders weil Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammenkommen. Dies ist eine Neubesinnung auf eine Aufgabe des Pädagogen und der Pädagogin, der die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen muß, soziale Regeln zu erkennen, zu finden, weiterzuentwickeln, einhalten zu lernen und mit einer Verletzung von sozialen Regeln in einer demokratisch angemessenen Weise umzugehen.


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Interkulturelles Lernen ist Umgang mit Werten



Begegnungsorientiert in der Primarstufe

Ich nenne die pädagogische Intervention, die ich nun mehrfach angemahnt habe, Interkulturelles Lernen.

In den Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung ausländischer Kinder und Jugendlicher (RAA), die es 18 mal in NRW, je einmal in Baden-Württemberg und Niedersachsen und 12mal in den Neuen Bundesländern gibt, ist unser Bemühen in NRW seit 1980 darauf gerichtet, Interkulturelle Erziehung in den Schulen zu verankern, und ich darf nicht verhehlen, daß wir damit unterschiedlichen Erfolg haben.

Generell ist zu sagen, daß Interkulturelles Lernen auf das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit abhebt und impliziert, daß sich die pädagogische Aufmerksamkeit sowohl auf kulturelle und ethnische Minderheiten, als auch auf die eingesessene Mehrheit richten muß.

In der Primarstufe ist es verhältnismäßig leicht, mit dem Konzept Erfolge zu verbuchen. Zwei unserer Thesen waren immer, das Bereichernde einer uns fremden Kultur herauszustellen und sich an der Lebenswelt aller Kinder im Schulleben zu orientieren. Mit diesem Ansatz kommen wir der Neugier der Kinder, ihrem sozial ausgerichteten Interesse entgegen. Das gemeinsame Spiel, Musizieren und Tanzen kann Elemente anderer Kulturen aufnehmen. Märchen und Literatur aus verschiedenen in den Klassen präsenten Ethnien wirken bereichernd und stärken die Kinder mit einer fremden Herkunft.

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Die Lebensvveltorientierung impliziert, daß sich Schule für den Stadtteil öffnet und die unterschiedlichen Lebenswelten der Stadtteilbewohner reflektiert. So treffen sich türkische Mütter in der Grundschule Marschallstraße in Gelsenkirchen, begleiten ihre Kinder bei der Einschulung, lernen kennen, was an Fähigkeiten und Fertigkeiten vorausgesetzt wird, wenn Jungen und Mädchen in die Schule kommen und beginnen, eigene Lernbedürfnisse zu artikulieren. In Oberhausen wird gemeinsam mit anderen Institutionen im Stadtteil ein Projekt deutsch/türkische Schrebergärten betreut, die Menschen lernen sich über ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Ordnung und Gestaltung auseinanderzusetzen, beginnen sich zu tolerieren, lernen voneinander und bauen Vorurteile ab. In Duisburg erarbeiten deutsche, türkische Kinder aus dem nahen Flüchtlingsheim mit ihren Lehrerinnen und Lehrern im Bürgerhaus Rheinhausen ein Musical mit dem Thema „Und jetzt bist du hier", setzen sich spielerisch mit dem Fremdsein auseinander, schaffen Identitäten und Wertesysteme, indem sie Phantasievölker kreieren.

Der interkulturelle Vermittler muß sich in verschiedenen Wertesystemen auskennen, um Brüche zu erkennen und den Kindern und Jugendlichen bei der Orientierung zwischen zwei Wertesystemen zu helfen.

Interkulturelle Erziehung verlangt einen Ansatz, der die Minderheiten weder isoliert noch sie bevormundet. Was dem Konzept im Wege steht, ist sehr häufig unser eigener Paternalismus und Ethnozentrismus, eine Haltung, die für andere handelt und immer schon weiß, was für die anderen gut ist.

Interkulturelle Erziehung in der Primarstufe gelingt, wenn sich die Lehrer bemühen, kulturelle Traditionen von Minderheiten präsent zu machen, statt sie wie üblich zu negieren. Es geschieht aber nicht von alleine, die Einforderung von Interkultureller Erziehung führt nicht automatisch zu ihrer Verwirklichung. Lehrer müssen zur interkulturellen Pädagogik ermutigt werden, ihre eigenen Ängste mit der Befremdung müssen bearbeitet werden, sie brauchen die Vermittlung von Experten und Material - einige der Aufgaben der RAA. Vorsicht ist geboten, wenn Lehrer Minderheiten auf Eigenheiten festlegen wollen, die sie evtl. im Integrationsprozeß schon abgelegt oder von sich aus lieber verbergen würden, wenn beispielsweise diese Eigenarten immer wieder zu ihrer Diskriminierung im Alltag herhalten müssen.

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Konfliktorientiert in der Sekundarstufe

Welche Rolle spielt nun die Interkulturelle Erziehung mit Jugendlichen, die anders als Kinder auf Fremde und Fremdes reagieren, die selbst wenn sie eine störungsarme gemeinsame Grundschulzeit mit Kindern anderer Herkunft verbracht haben, in der Verunsicherung ihrer pubertären Lebensphase, auf der Suche nach ihrer Identität dazu neigen, das auszugrenzen, was sie verunsichert. Welche Rolle spielt die Interkulturelle Erziehung, wenn Jugendliche zu Gewalt und Ausgrenzung greifen?

Interkulturelles Lernen will sich um einen kontinuierlichen Abbau von Vorurteilen und ethnozentrischen Einstellungen bemühen, will Ausgrenzung durch Gewalt gegen die Andersartigen beseitigen. Während in der Kindheitsphase dieses Ziel durch Begegnungen eingeleitet wird, ist dieser Ansatz im Jugendalter nur noch bedingt erfolgreich. Die Bereicherungsthese funktioniert jetzt nicht mehr, nun gilt es sich den Konflikten der Jugendlichen zu nähern.

Die Weltsicht und die Moral des Pädagogen mögen Grundlage seines Vorgehens sein, aber sie eignen sich nicht als Basis eines appellativen Einwirkens auf den jungen Menschen. Wer „Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu Themen einer Unterrichtsreihe degradiert, hat den Kampf dagegen schon verloren", sagt Heitmeyer. Es gilt, sich auf die Welt des jungen Menschen einzulassen, und sei sie noch so fremd. Es gilt, Irritationen aufzugreifen und ernstzunehmen, sich auf der Handlungsebene zu begegnen: „Belehrungen kommen gegen Erfahrungen nicht an".

Interkulturelles Lernen wäre die ausdrückliche Ermutigung der Schüler, sich als Türke, Italiener oder Marokkaner einzubringen. Bei der Identifikation können Experten, die selber aus einer anderen Kultur kommen, helfen, die oben zitierten Lernprozesse in Gang zu setzen. Interkulturelle Erziehung soll aber auch helfen, eine neue Identität - eine bikulturelle -stabil zu gestalten.

Interkulturelle Erziehung heißt, die Stärken der Minderheiten zur Kenntnis zu nehmen, von ihnen lernen zu können, die Fähigkeit aufzubauen, mit den Augen der anderen sehen zu können.

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Mehr wissen voneinander

Vorurteile werden durch mehr Wissen voneinander abgebaut. Da, wo gemeinsame Interessen sich berühren, ist das Miteinanderumgehen und Voneinanderlernen am erfolgreichsten. Interkulturelle Erziehung ist nicht die Präsentation von fremder Folklore, nicht das gemeinsame Feiern von Festen und sollte auch nicht die Problematik der Andersartigen (z.B. das Kopftuch) zum Thema von Unterricht machen. Interkulturelles Lernen hat aber Folgen, wenn es sich den gemeinsamen Konflikten zwischen den Jugendlichen nähert und sie auf kreative, künstlerische Weise zu ihrem Thema macht: Theaterspielen, eigene Stücke schreiben, Videos drehen, eine Zeitung herausbringen, durch Musik und bildnerisches Gestalten der eigenen Befindlichkeit Ausdruck verschaffen. Befremdung durch Schüleraustausch und Praxisaufenthalte am eigenen Leib im Ausland erfahren.

Ich möchte noch einmal meine These vom Beginn meines Beitrages wiederholen. Der Pädagoge, der Interkulturelles Lernen konfliktorientiert initiiert, ist ein Vermittler zwischen Wertesystemen. Soziale Konflikte, Identitätskonflikte, die im pädagogischen Raum auftreten, müssen ausgetragen und dürfen nicht weggedrängt werden. Der Lehrer muß dabei helfen, Werte, die für das soziale Miteinander bestimmend sind, sichtbar zu machen, eine unverzichtbare Aufgabe in Zeiten und Lebensphasen der Verunsicherung.

Auch diese Aufgabe spricht den Pädagogen als Lernenden an. Er muß sich mit den unterschiedlichen Wertesystemen der ihm anvertrauten Schülerinnen und Schüler vertraut machen und muß lernen, mit der eigenen Verunsicherung, mit der eigenen Befremdung umzugehen. Dies bezieht sich sowohl auf Schülerinnen und Schüler ausländischer Herkunft, als auch auf Jugendliche der eigenen Ethnie, die die Moral und Weltsicht des Pädagogen herausfordern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2000

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