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Sibel Koray: Ängste, Konflikte und Strategien zur Lebensbewältigung von Jugendlichen ausländischer Herkunft

Bis vor noch gar nicht so langer Zeit herrschte vielfach Migranten etreffend die Ansicht, daß sich die erste Generation aufgrund ihres Verhaftetseins an der Herkunftskultur und mangelnder Deutschkenntnisse ohnehin nicht integrieren läßt, so daß es sich nicht lohne, für sie besondere Integrationsbemühungen anzustellen.

Anders für die zweite Generation, die hier die Schule besucht und zum Teil eine Berufsausbildung macht, relativ gut Deutsch spricht und Bereitschaft zur Übernahme bestimmter deutscher Gewohnheiten zeigt. Hierbei liegt der Schwerpunkt insbesondere auf der schulischen Förderung; Angebote z.B. im Freizeit- und Beratungssektor sind eher rar.

In logischer Konsequenz ging man davon aus, daß alsbald die dritte Generation perfekt Deutsch beherrschen und auch keinerlei Schwierigkeiten haben werde, sich hier zurechtzufinden. - Somit wäre dann die dritte Generation vollends integriert und bedürfe folglich auch keiner spezifischen Angebote oder des besonderen Augenmerks im Vergleich zu deutschen Kindern und Jugendlichen.

Diese Rechnung ist nicht aufgegangen, weil sie viele Faktoren damals wie heute nicht berücksichtigt oder wahrgenommen hat.

Vielfach ist die Bereitschaft und Offenheit der ersten Migrantengeneration mit Deutschen in Kontakt zu treten und Beziehungen zu pflegen, erheblich unterschätzt worden. Eher halbherzige Bemühungen um sie waren größtenteils zum Scheitern verurteilt, da sie entweder an den Lebensumständen und Bedürfnissen der Betreffenden vorbei konzipiert worden waren oder aber nur so sporadisch in Erscheinung traten, wie etwa der 'Tag des Ausländers', daß sie nicht von einem Ausnahmezustand in eine Alltagsrealität übertragen werden konnten.

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Daß auf der Basis von Beständigkeit, regelmäßigem Kontakt, gegenseitiger Toleranz und gemeinsamen Interessen durchaus gute nachbarschaftliche Beziehungen oder Freundschaften zwischen Deutschen und Migranten der ersten Generation wachsen können, belegen vielfache Einzelbeispiele.

Die Entwicklung der zweiten Generation in der Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich durch eine große Heterogenität aus. Je nach Lebenssituation und Umfeld haben Sozialisationen unterschiedlichster Art stattgefunden.

Im einzelnen prägten und prägen folgende Faktoren den bis heute erreichten Status der zweiten und auch der dritten Migrantengeneration, wobei dies als ein sich weiterhin fortsetzender Prozeß zu verstehen ist und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

  • Formale Kriterien (Einreisealter, Aufenthaltsdauer, evtl. Unterbrechungen durch zwischenzeitliche Aufenthalte im Ursprungsland etc.),

  • Art und Ausmaß familiärer Bindungen, Qualität der familiären Beziehungen,

  • Umgangsformen der eigenen Eltern und anderer Bezugspersonen mit der Migration und etwaigen Problemen; isoliertes oder offenes Familiensystem,

  • Anzahl und Ausmaß positiver Erfahrungen im Sinne von Sich-hier-wohl-und-geborgen-Fühlen,

  • Anzahl und Ausmaß negativer/traumatischer Erfahrungen (direktes oder indirektes Erleben von Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierung...),

  • Lebensumfeld (Qualität des Wohnumfeldes; Zustand, Größe und Ausstattung der Wohnung),

  • Sprachkompetenz (sowohl Muttersprache als auch Deutsch),

  • Anzahl und Qualität von Freundschaften/Partnerschaften zu Deutschen,

  • Erfolgreicher Abschluß einer Schul- und Berufsausbildung,

  • Möglichkeit der sozioökonomischen Existenzsicherung in Form einer adäquaten und dauerhaften Arbeitsstelle,

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  • Ausmaß und Existenz kultureller/religiöser Inhalte wie Literatur, Musik, Feiern, rituelle Handlungen etc.

Diese Faktoren wirken im günstigen Fall persönlichkeitsstabilisierend, im ungünstigen Fall führen sie zu Desorientierung und Unsicherheit bei den Betreffenden.

Jede/r der zweiten Generation hat ihr/sein individuelles Profil, so daß man eher von Tendenzen ausgehen kann als von Verallgemeinerungen.

Als eine Tendenz sind zum Beispiel Verselbständigungsbestrebungen vieler junger Migrantinnen anzusehen, die sich an gleichaltrigen deutschen Mädchen orientieren und für sich emanzipatorische Rechte beanspruchen, die in ihrer bisherigen traditionellen Rolle nicht vorgesehen sind. Einige haben Schwierigkeiten mit dem Gebot der Jungfräulichkeit bis zur Ehe, favorisieren Freizeitaktivitäten, die bei fortgeschrittenem Alter auch den abendlichen Ausgang einschließen. In der Regel wollen junge Migrantinnen bei wichtigen Kriterien wie Ehepartner- oder Berufswahl selbst entscheiden und Verantwortung übernehmen. Darüber hinaus beanspruchen viele die gleichen Rechte in der Familie wie ihre Brüder und wollen die soziale Kontrolle der Eltern und des Umfeldes durch Vertrauen und Verständnis ersetzt wissen.

Eine andere Tendenz geht unter dem Einfluß eines verstärkt ausländerfeindlichen Klimas in der Bundesrepublik Deutschland dahin, daß sich viele männliche junge Migranten aus Angst vor Übergriffen zusammenschließen und teilweise auch bewaffnen.

Von einer homogenen Integriertheit der zweiten Generation kann auch aus dem Grund nicht ausgegangen werden, weil viele ihre Ehepartner aus dem Ursprungsland in die Bundesrepublik holen, welche sich dann, ohne Deutschkenntnisse und mit einer Sozialisation im Heimatland, gewissermaßen in der Situation der ersten Migrantengeneration befinden.

Integration meint hierbei einen „langjährigen Prozeß, in dem das Individuum mehrere Stufen oder Phasen mit Erfolg durchgehen muß" (Lajios 1991).

Was derzeit eine zufriedenstellende Integration bedeuten würde und wie sie verwirklicht werden könnte, ist ohnehin die Frage. Eine Integration im Sinne von Assimilation durch Anpassung der Migranten an deutsche Sit-

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ten, Normen und Gewohnheiten mit Aufgabe der ursprünglichen Kultur, Religion und Werte kann sie nicht sein, da dies von den Migranten nicht akzeptiert werden kann.

Andererseits sind wir von einer Integration im Sinne von Gleichberechtigung und Chancengleichheit für Migranten im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben derzeit allein durch das nicht existente Wahlrecht für Ausländer immer noch weit entfernt.

Dabei läßt sich beobachten, daß bei vielen Jugendlichen der zweiten und dritten Generation durchaus die Neigung besteht. Werthaltungen der Eltern kritisch zu hinterfragen und sich an gleichaltrigen deutschen Jugendlichen zu orientieren (Lajios 1991).

Betrachtet man die dritte Migrantengeneration genauer, so wird ihre Komplexität augenscheinlich, zumal ihre Entwicklung neben vielen der oben genannten Faktoren auch noch von weiteren beeinflußt wird. Dadurch zeichnet sich die Situation der dritten Generation durch noch größere Inhomogenität aus.

Die Bereitschaft der zweiten Generation für Freundschaften und Beziehungen mit Deutschen bringt es auch mit sich, daß bisweilen der zukünftige Ehepartner, -partnerin hierunter ausgewählt wird. Oft gehen aus binationalen Verbindungen Kinder hervor, die auch einen Teil der dritten Generation ausmachen.

Entstehen Ehekrisen, wie sie bei allen Partnerschaften zutage treten können, läßt sich häufig bei bikulturellen Paaren beobachten, daß sich die Ehepartner ein Stück weit voneinander distanzieren, indem sie sich jeweils auf ihre eigene Herkunftskultur „besinnen", was zur Folge hat, daß ihre Kinder dann nicht nur zwischen den Eltern, sondern auch im Kulturkonflikt stehen. Eine Lösung erfolgt dann entweder durch eine erneute Annäherung der Eltern aneinander, oft früher oder später verbunden mit einer „Dominanzkultur" innerhalb der Familie oder einer Trennung, wobei sich die Kinder eher an der Kultur und Sprache des Elternteils orientieren, mit dem sie zusammenleben. Dies kann allerdings im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung mehrfach wechseln.

Migrantinnen in der Bundesrepublik, zumal, wenn sie ökonomisch auf eigenen Füßen stehen, sind häufiger bereit als ihre Mütter, unzumutbare Eheverhältnisse durch Trennung und Scheidung aufzulösen, auch wenn

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dies für sie mit erheblichen Folgeproblemen - angefangen von der Gefahr der Ausweisung bei ungesichertem Aufenthaltsstatus bis hin zu Isolation und psychosomatischer Erkrankung - verbunden sein kann.

Mütter, bisweilen auch Väter trennen sich hier eher, sicher nicht zuletzt unter dem Einfluß der allgemein steigenden Scheidungsquote in der Bundesrepublik Deutschland, so daß auch ausländische Einelternfamilien mittlerweile keine absolute Seltenheit mehr sind.

So finden sich unter der dritten Generation auch Scheidungskinder, die bei fehlenden unterstützenden sozialen Bezugspersonen des Elternteils, mit dem sie gemeinsam leben, besonders Gefahr laufen, zum Partnerersatz zu werden, was zu erheblichen Belastungen in ihrer Entwicklung führen kann.

Erwähnung finden soll an dieser Stelle auch ein gewisser geringer Prozentsatz an Migrantenkindern und -jugendlichen, die hier in Heimen oder deutschen Pflegefamilien aufwachsen. Diese Heranwachsenden haben bei ihrer ohnehin diffizilen Identitätsfindung besondere Schwierigkeiten, die die Institutionen und deutschen Bezugspersonen nur bedingt nachvollziehen können. Die Regel ist jedoch, daß Kinder und Jugendliche der dritten Migrantengeneration bei ihren Eltern aufwachsen.

Zieht ein Elternteil durch Heirat aus dem Ursprungsland in die Bundesrepublik Deutschland nach, dauert es in der Regel eine gewisse Zeit, bis das Paar durch Entwickeln einer gemeinsamen Geschichte zueinander findet, da beide sehr unterschiedliche Hintergründe in die Ehe einbringen.

Gewöhnlich befindet sich der hier aufgewachsene Teil des Paares im Vorteil, da er/sie Deutsch sprechen kann und sich bereits mehr oder weniger eingelebt hat. Besonders nachgezogene Ehemänner haben nicht selten Schwierigkeiten damit, daß sie diesen 'Vorsprung' ihrer Partnerinnen als Dominanz erleben, die nicht in ihr Rollenverständnis paßt. Die diskrepante Geschichte der beiden kann zu Verständigungsproblemen führen, da die unterschiedliche Sozialisation zu eigenen soziokulturellen Orientierungen führt, die sich nicht mit denen des Partners decken müssen. Der weniger 'dominante' Elternteil verbündet sich oft mit den aus der Ehe hervorgegangenen Kindern, die sich ebenfalls in niedriger Position in der Familie befinden. Die Gefahr liegt hierbei darin, daß Verselbständigungstendenzen

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und altersgemäße Entwicklungen, z.B. der Sprache, bei den Kindern verzögert werden können.

Teilweise sind die Großeltern, also die erste Migrantengeneration, in ihre Heimat zurückgekehrt, zum Teil leben sie in der gleichen Stadt wie ihre Kinder, manchmal wohnen auch drei Genrationen unter einem Dach. Sind die Eltern berufstätig, übernehmen häufig die Großeltern die Betreuung der Enkelkinder. Somit erfolgt ein Teil der Sozialisation der dritten Migrantengeneration durch die erste Generation. Nicht selten bieten hierbei divergierende Werte- und Erziehungsvorstellungen von Eltern und Großeltern den Nährboden für Generationskonflikte.

Ein Beispiel, das die enge Verwobenheit von drei Generationen veranschaulichen soll, sei hier aufgeführt.

Murat ist der achtjährige Sohn der türkischen Familie K. Er hat noch einen vierjährigen Bruder. Die Mutter ist hier aufgewachsen; ihre Herkunftsfamilie ist mittlerweile in die Türkei zurückgekehrt. Ihr Ehemann, den sie hier kennengelernt hat, war erst im Jugendlichenalter von seinen Eltern nach Deutschland geholt worden, so daß er immer noch gebrochen Deutsch spricht. In unmittelbarer Nachbarschaft der Familie leben die Eltern von Herrn K. Die beiden Söhne wachsen langsam heran. Während Herr K. aufgrund seiner Arbeit als LKW-Fahrer viel unterwegs ist und lediglich die Wochenenden mit seiner Familie verbringen kann, widmet sich Frau K. ganz der Kinderbetreuung und dem Haushalt. Als die Kinder größer werden, fühlt sie sich zunehmend wenig ausgelastet und möchte daher gerne eine Halbtagstätigkeit aufnehmen. Ihr eifersüchtiger Mann, der ohnehin darunter leidet, daß er aufgrund seiner Tätigkeit seine Frau lange allein lassen muß, ist dagegen. In dieser Zeit beginnt Murat täglich einzukoten. Die Mutter wendet sich daraufhin an unsere nahegelegene Erziehungsberatungsstelle. Ein eingeleitetes verhaltenstherapeutisches Programm scheitert, da die Großeltern väterlicherseits das Belohnungssystem unterwandern, indem sie Murat heimlich zwischendurch Süßigkeiten zustecken, die er eigentlich im Rahmen des Therapieplans nur bei erfolgreichem 'Trockenbleiben' von seiner Mutter bekommen sollte. Auch die Großeltern sind gegen eine Berufstätigkeit der Schwiegertochter.

Erfolgreichere Interventionen werden erst möglich, als der größere Zusammenhang deutlich gemacht wird. Murat befolgte durch sein tägliches Einkoten den unbewußten Auftrag seines Vaters, die Mutter durch häufige

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Reinigungsarbeiten auszufüllen und an das Haus zu binden, damit sie nicht gegen den Wunsch des Vaters eine Beschäftigung außer Haus aufnimmt. Erst nachdem die Eltern ihre Paarbeziehung aufgearbeitet hatten, zu einer für beide Seiten akzeptablen Lösung gelangt waren (zunächst stundenweise Berufstätigkeit der Mutter) und auch die Großeltern diese Entscheidung schließlich akzeptierten, ließen Murats Verhaltensauffälligkeiten deutlich nach und verschwanden schließlich.

Familiäre Konflikte beschäftigen häufig Kinder und Jugendliche der dritten Generation. Dabei stehen in der Regel Individualisierungsbestrebungen und Emanzipationsansprüche der Jüngeren traditionellen Rollenmustern und Erziehungsvorstellungen der Älteren entgegen. Durch Einfühlungsvermögen und Verständnis für die unterschiedlichen Sichtweisen können in der Regel Lösungen und Kompromisse zwischen den Generationen gefunden werden, die ein weiteres 'reibungsschwaches' Zusammenleben ermöglichen.

Hierbei sind vor allem die Kinder und Jugendlichen wesentlich günstiger dran, die ihre Muttersprache so weit beherrschen, daß sie sich ihren Eltern mitteilen und verständlich machen können. Sonst besteht die Gefahr, daß Eltern wie Kinder - die einen in der Muttersprache, die anderen auf Deutsch - aneinander vorbeireden. Mangels Effektivität reden sie dann vielfach eines Tages nicht mehr miteinander, sondern handeln inadäquat. Dies können seitens der Eltern Gewaltausbrüche und Mißhandlungen sein, Kinder und Jugendliche können die Lösung ihrer Probleme in der Flucht von zu Hause suchen, drogenabhängig werden etc.

Sprachkompetenz ist überhaupt ein äußerst wichtiger Faktor für gesunde Entwicklung, weil sie es den Kindern und Jugendlichen ermöglicht, „ihre Welt mit symbolischen Mitteln geistig in Besitz zu nehmen" (Auernheimer 1988). Hierbei symbolisiert Sprache sowohl ethnische wie auch kulturelle Zugehörigkeit. Ohne Sprache, d.h. ohne Zugehörigkeit empfinden sich die Betroffenen nicht nur als Verlierer in dieser Gesellschaft, sondern fühlen sich überhaupt verloren.

Konflikte beschränken sich nicht nur auf das Elternhaus, sondern treten vielfach auch außerhalb, insbesondere in der Schule auf. Die gängigsten Probleme sind Autoritätskonflikte mit Lehrkräften oder aggressive Impulsausbrüche zwischen Migrantenjungen und Mitschülern. Die Mädchen reagieren eher mit Rückzug in ihr Inneres oder psychosomatischen Be-

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schwerden. Was die Migrantenkinder und -jugendlichen so auflädt, sind nicht aufgearbeitete Spannungen, die in der Regel gespeist werden durch Unzulänglichkeitserfahrungen, Versagensängste in der Leistungs- und Konsumgesellschaft, in der sie leben, Spüren von Ablehnung, Ausgeschlossensein und Benachteiligung - kurz Diskriminierung. Ängste entwickeln sich auch insbesondere bei männlichen Migrantenjugendlichen und ihren Eltern bei Arbeitslosigkeit. Hierbei wird befürchtet, in schlechte Gesellschaft zu geraten oder kriminell zu werden. Die Zeiten ohne Arbeit sind nach Stüwe (1991) geprägt durch Mutlosigkeit und Resignation.

Die erlebte Intensität von Benachteiligungserfahrungen trägt ganz entscheidend dazu bei, in der Phase der Identitätsfindung dem allmählich entstehenden Selbstbild einen zuversichtlichen oder eher resignativen Anstrich zu geben.

Wie kann es gelingen, trotz der nicht einfachen Situation eine gesunde Identität zu entwickeln und nicht in einer Opferrolle stigmatisiert zu werden?

Genauso wenig wie ein Säugling die Mehrdimensionalität seiner Umwelt nicht entdecken kann ohne seine Hände und Sinne zu gebrauchen, ist eine Identitätsfindung von Migrantenjugendlichen ohne Handlungskompetenz nicht denkbar. Diese können die Jugendlichen nur dann erlangen, wenn sie in der Auseinandersetzung mit ihrer Alltagsrealität Möglichkeiten erhalten, sich zu bewähren und Lebensentwürfe zu kreieren (Auernheimer 1992).

Kulturelle Ressourcen helfen Jugendlichen in Form überlieferten Wissens und ihrer Erprobung und Erfahrung wie auch positiver Vorbilder sowohl aus ihrem konkreten sozialen Umfeld wie auch aus Geschichte und Literatur. Kulturelle Praktiken wie Schreiben, Lesen, Musik machen etc. dienen der Selbstdarstellung, der Selbstvergewisserung und der Verständigung. Je mehr Jugendliche über kulturelle Mittel verfügen oder sich aneignen, um so mehr sind sie zu eigener Orientierung und individuellen Problemlösungen fähig (Auernheimer 1992).

Handlungskompetenz und Vorhandensein kultureller Ressourcen führen zu einer positiven Identitätsentwicklung, die gefördert wird durch die Fähigkeit zu Rollenübernahme und Rollendistanz, Erfassen der Relativität von Standpunkten und der Befähigung, sich in unterschiedliche Perspekti-

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ven hineinzuversetzen und einzufühlen. Jugendliche Migranten mit diesen Kompetenzen zeichnen sich durch hohe geistige Mobilität, Anpassungsfähigkeit und Offenheit aus. Sie können sich zur Bildung ihrer persönlichen Identität aus dem bikulturellen Pool bedienen und ihr individuelles Wertesystem konstruieren, wobei sie tradierte Sitten und Gebräuche beiderseits bewußt reflektieren, hinterfragen und sie z.T. für sich mit neuem, für sie sinnvollen Inhalt füllen. Dies schließt die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten auszuhalten ein, was in der Fachsprache 'Ambiguitätstoleranz' genannt wird (Boos-Nünning & Nieke 1982).

Manche Jugendliche kombinieren die verschiedenen Symbolsysteme äußerst kreativ und meisterhaft, z.B. beim Sprachwechsel in Familie und Peer-Group oder beim Entwickeln einer musikalischen Mischkultur (Auernheimer 1992).

Da Sprache und Bewußtseinsprozesse eng miteinander verknüpft sind, kommt hier der Sprachkompetenz eine besondere Bedeutung zu. Fehlt sie, so bleiben nur nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten vorbewußter Art, wie z.B. künstlerische Betätigungen (Malen, Pantomime etc.) oder auch in Form von Gewalttätigkeiten.

Hierbei können kriminelle Handlungen z.T. interpretiert werden als Grenzüberschreitung, um einen Gleichgewichtszustand für sich selbst wiederherzustellen im Sinne von: Muß ich in meinem Leben immer und immer wieder Benachteiligungen und Unrecht erfahren, so nehme ich mir das Recht heraus, ebenfalls Unrecht zu tun, um die Situation aushalten zu können und mein Selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Identitätsprobleme entstehen immer dann, wenn ungünstige Selbstbewertungsprozesse zu einer „Identitätsdiffusion" (Hill 1990) führen. Diese werden ausgelöst durch doppelte Ausgrenzung, doppelte Halbsprachigkeit, rigide Familienstrukturen, rechtliche und soziale Unsicherheit, Mißerfolge in der Schule und ungünstige Berufsaussichten, kulturelle Desorientierung und Bindungslosigkeit (Firat 1991).

Die Gefahr besteht besonders für die Jugendlichen der dritten Generation in einem kulturellen Werteverfall. Sie verlieren Werte aus ihrer Ursprungskultur (z.B. Zusammengehörigkeitsgefühl, Gemeinschaftssinn), stellen sie oft in Frage, ohne sie sich jemals vorher richtig angeeignet zu haben. Zum Teil fehlt ihnen hierfür die Motivation, weil ihnen in der hie-

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sigen Gesellschaft andere Werte als die, die hier gelten, als wenig attraktiv vermittelt werden.

Möglicherweise gelingt es auch ihren Eltern und Großeltern nicht, diese, sei es auch Zeitmangel oder aufgrund eigener Defizite, ausreichend zu vermitteln oder das Interesse hierfür zu wecken.

Demgegenüber werden sie in ihrer Aufenthaltskultur z.T. durch Werte beeinflußt, die oft zu stark konsumorientierter Haltung, Suchtgefährdung, Individualisierung in Richtung Vereinsamung und Bindungslosigkeit, extrem modebewußter Orientierung im Sinne von 'die innere Unsicherheit in Schale schmeißen, um sie zu verbergen' führen. Auf diese Weise kann sich eine bikulturelle Seichtigkeit entwickeln.

Viele Autoren wie Auernheimer 1992, Treibel 1990 und Lajios 1991 sehen die tatsächlichen Probleme der Migrantenjugendlichen in ihrer sozio-ökonomischen Lage.

Sieht man sich die lange Reihe der vielen Handicaps des Migrantenstatus an, wird deutlich, daß Benachteiligungen von Migranten systematisch erfolgen. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Lebensgeschichte - angefangen von der Kindheit mit fehlenden Kindergarten- und Hortplätzen, über Selektion bei Schullaufbahn und Berufsausbildung (die Tendenz geht dahin, bei derzeitigem Überangebot an Arbeitskräften Problemgruppen vom Arbeitsmarkt auszuschließen), bis hin zu Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, formalem Ausschluß von politischer Partizipationsmöglichkeit, ungünstigen Wohnbedingungen usw. im Erwachsenenalter (Lajios 1991, Auernheimer 1992).

Diese strukturellen Benachteiligungen sind als Integrationshindernisse anzusehen. Den größten Rückschlag im Integrationsprozeß stellen allerdings die ausländerfeindlichen Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland dar, weil sie trennen, statt zusammenwachsen zu lassen. Dies zieht oft auf der anderen Seite reaktive Separationsentwicklungen nach sich, so daß auch innerhalb der dritten Migrantengeneration teilweise eine stärkere gedankliche und faktische Annäherung und Orientierung an der ersten Generation existiert als bei der zweiten Generation. Die ethnische Identität als symbolische Form der Identifikation mit dem Herkunftsland dienst somit den Migranten als Selbstvergewisserung in einer feindselig erlebten Umgebung (Treibel 1990).

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Unreflektierte Anpassung oder innerer Rückzug, Suizidalität, Anschluß an streng nationalistische oder religiös-fanatische Bewegungen sind hier nur als einige von eher ungesunden Konfliktlösungen und Bewältigungsstrategien zu nennen.

Die dritte Migrantengeneration ist in der Regel hier geboren. Ihre Diskrepanz und Distanz zum Ursprungsland der Eltern und Großeltern ist am größten. Wie auch immer, fühlen sich diese Kinder und Jugendlichen als Teil der Gesellschaft, in der sie leben. Je integrierter sie sich fühlen, um so mehr wächst ihr Selbstbewußtsein und ihre Ansprüche auf Gleichbehandlung und Chancengleichheit bezüglich Schule, Ausbildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt (Mehrländer 1983) und um so weniger können sie Benachteiligungen nachvollziehen.

Pädagogische Fördermaßnahmen alleine reichen zur sozialen Integration und Identitätsförderung nicht aus, wenn nicht gleichzeitig die rechtliche Situation verbessert und die ökonomischen Probleme gelöst werden. Nur hierdurch können die jugendlichen Migranten ein positives Selbstkonzept entwickeln und tatsächlich zum Teil dieser Gesellschaft werden.

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Literatur

Auernheimer, G.: Der sogenannte Kulturkonflikt: Orientierungsprobleme ausländischer Jugendlicher, Campus-Verlag, Frankfurt/M., New York 1988.

Auernheimer, G.: Interkulturelle Jugendarbeit muß Kulturarbeit sein, in: gemeinsam, Heft 25, Beltz Verlag, Weinheim 1992, 20-26.

Boos-Nünning, U. & Nieke, W.: Orientierungs- und Handlungsmuster türkischer Jugendlicher zur Bewältigung der Lebenssituation in der Bundesrepublik Deutschland, in: psychosozial 16, 1982, 63-90.

Firat, Ibrahim: Nirgends zu Hause!? - Türkische Schüler zwischen Integration in der BRD und Remigration in der Türkei, Verlag für interkulturelle Kommunikation, Frankfurt/M. 1991.

Hill, P.B.: Kulturelle Inkonsistenz und Streß bei der zweiten Generation, in: Esser, H. & Friedrichs, J. (Hrsg.): Generation und Identität, Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1990.

Hurrelmann, K.: Von der Schwierigkeit der Jugend, Spuren zu hinterlassen, in: gemeinsam, Heft 26, Beltz Verlag, Weinheim 1993, 56-63.

Lajios, K. (Hrsg.): Familiäre Sozialisations-, soziale Integrations- und Identitätsprobleme ausländischer Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland, in: Die

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zweite und dritte Ausländergeneration - Ihre Situation und Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland, Verlag Leske & Budrich, Opladen 1991.

Luchtenberg, S.: Zur Zweisprachigkeit und Bikulturalität ausländischer Kinder, in: Lajios, K. (Hrsg.): Familiäre Sozialisations-, soziale Integrations- und Identitätsprobleme ausländischer Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland, in: Die zweite und dritte Ausländergeneration - Ihre Situation und Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland, Verlag Leske & Budrich, Opladen 1991.

Mehrländer, U.: Türkische Jugendliche - keine beruflichen Chancen in Deutschland?, Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Arbeit, Verlag Neue Gesellschaft GmbH, Bonn 1983.

Nieke, W.: Situation ausländischer Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland: Vorschule, Schule, Berufsausbildung, Freizeit, Kriminalität, in: Lajios, K. (Hrsg.): Familiäre Sozialisations-, soziale Integrations- und Identitätsprobleme ausländischer Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland, in: Die zweite und dritte Ausländergeneration - Ihre Situation und Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland, Verlag Leske & Budrich, Opladen 1991.

Stüwe, G.: Lebenslagen und Bewältigungsstrategien junger Ausländer, in: Lajios, K. (Hrsg.): Familiäre Sozialisations-, soziale Integrations- und Identitätsprobleme ausländischer Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland, in: Die zweite und dritte Ausländergeneration - Ihre Situation und Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland, Verlag Leske & Budrich, Opladen 1991.

Treibel, A.: Migration in modernen Gesellschaften - Soziale Folgen von Einwanderung und Gastarbeit, Juventa Verlag, Weinheim/München 1990.


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