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Henrik von Bothmer
Benachteiligte Jugendliche - chancenlos?


„Benachteiligte Jugendliche - chancenlos?" ist das mir gestellte Thema. Dabei stellt sich zunächst die Frage, wer eigentlich gemeint ist mit den benachteiligten Jugendlichen. Denn offensichtlich ist der Begriff Benachteiligung sehr stark erklärungsbedürftig, da selbstverständlich Benachteiligung subjektiv sehr unterschiedlich erlebt werden kann.

In den Durchführungsanweisungen zum § 40 c des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) der sogenannten „Benachteiligtenförderung" gibt es eine nunmehr schon durchaus gängige Definition davon, welche Gruppen von Jugendlichen zumindest in diesem Kontext als Benachteiligte betrachtet werden. Es sind insbesondere

  1. Jugendliche, die nach Feststellung des Psychologischen Dienstes des Arbeitsamtes verhaltensgestört sind,

  2. Legastheniker,

  3. Jugendliche, für die Hilfe zur Erziehung im Sinne des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) geleistet worden ist und wird, soweit sie nicht aus diesen Gründen in einem Heim ausgebildet werden,

  4. ehemals drogenabhängige Jugendliche,

  5. Strafentlassene Jugendliche,

  6. junge Strafgefangene, wenn durch die Maßnahme eine Berufsausbildung ermöglicht wird, deren Fortsetzung nach Entlassung aus dem Strafvollzug sonst nicht sichergestellt werden könnte,

  7. junge Straffällige/Strafgefangene, wenn die Aufnahme oder Fortsetzung einer Berufsausbildung strafmindernd wirkt oder zu einer Strafaussetzung zur Bewährung führt sowie

  8. jugendliche Spätaussiedler mit Sprachschwierigkeiten.

Zusätzlich werden im Kontext dieser Definition auch ausländische Jugendliche und lernbeeinträchtigte junge Menschen, insbesondere Haupt-

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Schulabgänger ohne Abschluß und Abgänger aus Schulen für lernbehinderte (Sonderschulen) genannt.

Ich halte diese Eingrenzung, wie sie das AFG bzw. die Durchführungsanweisung vornehmen, insofern für durchaus hilfreich, als damit zunächst sehr deutlich wird, daß mit den Benachteiligten eine Gruppe von jungen Menschen gemeint ist, die schon aufgrund relativ klar feststellbarer Kriterien und unabhängig von konjunkturellen und demographischen Einflüssen Schwierigkeiten hat, einen anerkannten und selbstverantwortlichen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Nichtsdestotrotz ist klar, daß der Begriff „Benachteiligung" bzw. „benachteiligte Jugendliche" auch sinnvollerweise nicht ausschließlich und abschließend definiert werden kann, da je nach gesellschaftlicher Situation, konjunktureller Lage, Entwicklung des Ausbildungsstellenmarktes usw. alte Kriterien u.U. weniger relevant werden und dafür neue Aufmerksamkeit und Beachtung finden müssen.

Der Begriff „Benachteiligte" wurde Ende der siebziger Jahre in dem Willen geprägt, deutlich zu machen, daß diese junge Menschen nicht durch eigene Schuld oder persönliches Versagen in eine problematische Situation geraten sind. Er sollte im Gegenteil gerade entstigmatisierend deutlich machen, daß in gesellschaftlichen Bedingungen die Ursachen für schlechtere individuelle Startchancen liegen. Es ist festzuhalten, daß die Wirklichkeit leider zeigt, daß auch der Begriff „Benachteiligte" nicht völlig ohne stigmatisierende Elemente geblieben ist.

Als nächstes ist ebenso zu fragen, was unter dem Begriff „chancenlos" zu verstehen ist und welche Chancen damit angesprochen sind.

Da in unserer Gesellschaft nach wie vor sozialer Status und gesellschaftliche Teilhabe sowie Mitwirkungsmöglichkeit ganz entscheidend durch den Zugang zu und die Teilhabe an Erwerbsarbeit definiert sind, werden Chancen vorrangig durch eben diesen Zugang zur Erwerbsarbeit determiniert. Damit wird deutlich, daß die Chance auf die erfolgreiche Absolvierung einer qualifizierten Berufsausbildung ebenso gemeint ist wie die Chance, im Erwerbsleben ein tarifrechtlich geregeltes und sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu haben, weil nur dieses eine realistische Chance für den Aufbau einer „bürgerlichen Existenz" bildet.

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Wenn ich über einen jungen Menschen sage, er ist chancenlos, so kann das durchaus verurteilend, ausgrenzend und distanzierend gemeint sein. Es kann aber auch Parteinahme und Engagement und einen Appell an die soziale Verantwortung ausdrücken. Nicht zuletzt - und das soll nicht verschwiegen werden - kann damit aber auch eine Art von Stigmatisierung gemeint sein, die darin besteht, daß ich jemandem das Etikett „chancenlos" aufklebe, um damit meine eigene Notwendigkeit als Helfer begründen zu können.

Wenn Sie mir soweit in der Begriffsdefinition folgen wollen, stellen sich nun die Fragen:

  1. Haben benachteiligte Jugendliche eine realistische Chance, eine solche bürgerliche Existenz zu erreichen?

  2. Wollen sie das überhaupt?

  3. Welche Konsequenzen folgen daraus für das fachliche Handeln in der Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit, für die ich hier sprechen kann, und für politisches Handeln?

Wenden wir uns zunächst der Frage a) zu. Hier ist natürlich von entscheidender Bedeutung die Arbeitsmarktsituation und vor allem die Arbeitsmarktprognose. Wir haben derzeit eine Arbeitsplatzlücke von 6 bis 7 Mio. Nach den demographischen Daten und nach den Arbeitsmarktprognosen, insbesondere denen des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) und der Prognos AG, müssen wir damit rechnen, daß sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland in den nächsten 15 Jahren nicht wesentlich verringern wird. Zugleich weisen diese Untersuchungen aus, daß sich die Struktur des Arbeitsmarktes erheblich verändert, und zwar dahingehend, daß immer weniger Arbeitsplätze vorhanden sein werden, die keine oder nur geringe Qualifikationsanforderungen stellen. Die lAB-Prognose geht davon aus, daß von den derzeit vorhandenen 5,8 Mio. einfachen Arbeitsplätzen bis zum Jahr 2010 die Hälfte, das heißt 2,8 Mio., weggefallen sind und gleichzeitig an die vorhandenen Arbeitsplätze immer umfangreichere Qualifikationsanforderungen formaler und informeller Art gestellt werden. Das heißt, der Arbeitsmarkt erfordert in zunehmendem Maße eine breite Grundqualifikation, die Fähigkeit zum Transfer des Gelernten auf neue Situationen, die Fähigkeit und Bereitschaft zum ständigen Weiterlernen, die Fähigkeit, Strukturen und Pro-

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zesse erfassen und für das eigene Handeln umsetzen zu können, und nicht zuletzt die Sozialkompetenz, also die Fähigkeit, sich in Gruppenprozesse einzufügen.

Das alles sind Fähigkeiten und Kompetenzen, die landläufig benachteiligten jungen Menschen am wenigsten zugetraut werden, und in der Konsequenz ist es dann auch so, daß diese jungen Menschen auf dem ersten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt de facto die schlechtesten Zugangschancen haben.

Hauptaufgabe der Jugendsozialarbeit ist es nun, gerade an diesem Punkt fördernd und kompensierend tätig zu sein. Und insbesondere die Benachteiligtenförderung nach dem schon zitierten § 40 c AFG bietet hier eine praktische Möglichkeit. Derzeit werden nach dieser Regelung knapp 30.000 junge Menschen in anerkannten Berufen außerbetrieblich ausgebildet, zusätzlich erhalten etwa 70.000 junge Menschen sogenannte „Ausbildungsbegleitende Hilfen" während und zur Unterstützung einer betrieblichen Ausbildung im dualen System.

Wir gehen davon aus, daß grundsätzlich jeder junge Mensch, wenn er nicht im medizinischen Sinne geistig behindert ist, die Möglichkeit hat, eine vollqualifizierende Berufsausbildung zu absolvieren, soweit ihm dafür adäquate sozialpädagogische Unterstützung und Hilfen gegeben werden. Die Erfolge, die das mittlerweile 15 Jahre bestehende Benachteiligtenprogramm aufzuweisen hat, unterstützen diesen Anspruch.

Vor etwa zehn Jahren wurden zunächst die Metall- und Elektroberufe neu geordnet und all die oben genannten „extrafunktionalen" oder auch „Schlüsselqualifikationen" fanden Eingang in die Berufsbilder und damit in die Berufsausbildung. Zu diesem Zeitpunkt gab es viele, durchaus auch in der Jugendsozialarbeit selbst, die der Meinung waren, daß diese neugeordneten Berufe den benachteiligten Jugendlichen nun verschlossen wären.

Es hat sich gezeigt, daß das ein Irrtum war. Heute werden benachteiligte Jugendliche, die keine Chance auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz haben, nach § 40 c AFG in Metall- und Elektroberufen nicht nur ganz normal ausgebildet; oft erhalten sie zusätzlich noch eine Ausbildung in neuen Technologien wie CNC, CAM und Hydraulik/Pneumatik, was viele betrieblich ausgebildete Jugendliche nicht von sich sagen können.

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Allerdings ist relativierend darauf hinzuweisen, daß nach wie vor etwa 14% eines jeden Altersjahrganges ohne qualifizierte Berufsausbildung bleiben. 14% - das sind circa 100.000 Jugendliche und junge Erwachsene in jedem Jahr. Von diesen hat etwa ein Viertel eine begonnene Ausbildung ersatzlos abgebrochen, ein weiteres Viertel hat die Bemühungen um einen Ausbildungsplatz irgendwann aufgegeben, und gut die Hälfte dieser jungen Menschen hat gar nicht erst versucht, eine Ausbildung zu beginnen.

Hieran wird deutlich, und das soll an dieser Stelle nur am Rande vermerkt werden, daß offensichtlich der Zugang jedenfalls zu dieser letzten Gruppe noch so wenig bzw. so ungenügend gelingt, daß sie nicht einmal die Möglichkeiten haben, ihre Chancen beim Zugang zu geregelter Erwerbsarbeit zu verbessern.

Es ist aber festzuhalten, daß auch unter den gegenwärtigen schwierigen Arbeitsmarktbedingungen mit den besonderen Schwierigkeiten für junge Menschen nach der Berufsausbildung, also an der zweiten Schwelle, einen Arbeitsplatz zu finden, auch von den nach § 40 c AFG ausgebildeten Jugendlichen immerhin 70 bis 75% noch einen Arbeitsplatz finden.

Als Zwischenfazit möchte ich festhalten: Ja, ein Teil der benachteiligten Jugendlichen hat zur Zeit noch die Chance zum Einstieg in eine geregelte Berufstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aber es ist eben nur ein Teil. Und ohne besonders schwarzmalen zu wollen, ist doch zu befürchten, daß von den äußeren Faktoren eher die Tendenz ausgeht, daß dieser Teil geringer werden wird.

An dieser Stelle will ich noch auf ein ganz aktuelles Problem hinweisen: Die Bundesregierung beabsichtigt, den Zugang zu Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit mit dem derzeit verhandelten Gesetz zur Arbeitslosenhilfe auf diejenigen zu beschränken, die Leistungsempfänger sind - mit einer Ausnahme von 5%.

Wenn das durchkommt, ist die Folge, daß die Maßnahmen „Arbeiten und Lernen" fast vollständig wegfallen. „Arbeiten und Lernen" sind Maßnahmen, bei denen Jugendliche und junge Erwachsene ohne Hauptschulabschluß, aber eben meist auch ohne nach den beabsichtigten Regelungen ausreichenden Anspruch auf Leistungsbezug, durch das Arbeitsamt, in der Kombination von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Lernanteilen, den Hauptschulabschluß nachholen können.

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Es hat sich gezeigt, daß diese Maßnahmen für viele benachteiligte junge Menschen, die zunächst nicht den Zugang in die Berufsausbildung nach § 40 c AFG und schon gar nicht in betriebliche Berufsausbildung gefunden haben, eine wichtige Möglichkeit sind, den Anschluß doch noch zu finden. Ich halte deshalb die geplante Gesetzesänderung für eine schlimme Verschlechterung der Chancen von Benachteiligten und im übrigen auch gegen den Sinn und die Buchstaben des § 2 AFG gerichtet.

Dort heißt es: „Die Maßnahmen nach diesem Gesetz haben insbesondere dazu beizutragen, daß

  1. weder Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung noch ein Mangel an Arbeitskräften eintreten oder fortdauern,

  2. die berufliche Beweglichkeit der Erwerbstätigen gesichert und verbessert wird,

  3. nachteilige Folgen, die sich für die Erwerbstätigen aus der technischen Entwicklung oder aus wirtschaftlichen Strukturwandlungen ergeben können, vermieden, ausgeglichen oder beseitigt werden,

  4. die berufliche Eingliederung körperlich, geistig oder seelisch Behinderter gefördert wird ..."

Es ist doch offensichtlich, daß ein Hauptschulabschluß, heute sogar noch viel mehr als früher, nahezu eine Mindestvoraussetzung für einen betrieblichen Ausbildungsplatz ist.

Ich komme zur zweiten Frage, ob die jugendlichen Benachteiligten überhaupt eine Berufsausbildung und eine geregelte Erwerbstätigkeit wollen. Sie finden hierzu in der Literatur unterschiedliche Aussagen. Macht man eine Stichprobenbefragung unter benachteiligten Jugendlichen, so werden viele erklären, daß sie auf keinen Fall eine Berufsausbildung machen wollen, sondern lieber einen Job haben, bei dem sie direkt Geld verdienen. Das deutsche Jugendinstitut hat allerdings in einer Langzeitstudie nachgewiesen, daß eine solche Einstellung erst das Ergebnis von vielfältigen Enttäuschungen und Mißerfolgserlebnissen ist, was uns Sozialpädagogen natürlich darauf verweist, daß Hilfsangebote und unterstützende Maßnahmen offensichtlich noch früher und gezielter als bisher einsetzen müssen.

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Dennoch es ist so, daß wir mit dem Faktum umgehen müssen, daß ein Teil der benachteiligten Jugendlichen derzeit kein Interesse an einer qualifizierten Berufsausbildung zeigt. Ich betone „derzeit", denn die Erfahrung lehrt uns ebenfalls, daß viele dieser jungen Menschen früher oder später den Sinn und die Notwendigkeit von Berufsausbildungen für sich selbst sehr wohl erfährt bzw. einsieht, dann aber häufig in einer Lebenssituation ist, die es nicht mehr möglich macht, eine normale Berufsausbildung zu absolvieren. Hier gilt es, neue Formen in der Verbindung von Erwerbstätigkeit und Qualifikation zu entwickeln und zu etablieren, mit denen Berufsabschlüsse auch nachträglich erworben werden können. In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt von besonderer Bedeutung, daß auch bei abgebrochenen oder gescheiterten Ausbildungen die absolvierten Teile der Ausbildung und die damit erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht verloren gehen. Sie müssen festgehalten und zertifiziert werden, damit sie die Grundlage für eine darauf aufbauende und zu einem formalen Abschluß führende spätere Qualifikation bilden können. Entsprechende Ansätze werden zur Zeit an verschiedenen Orten modellartig unter wissenschaftlicher Begleitung des Bundesinstitutes für Berufsbildung durchgeführt.

Ich behaupte also, daß grundsätzlich nahezu alle jungen Menschen eine qualifizierte Berufsausbildung schaffen können und diese auch wollen.

Es stellt sich aber auch die Frage, welche Auswirkungen sogenannte „vererbte Arbeitslosigkeit", dauerhafter Sozialhilfebezug der Eltern, das Aufwachsen in einem Milieu, in dem „alternative" Existenz- und Überlebensformen allgegenwärtig sind, haben. Ich meine damit das Gegenteil von bürgerlichen Existenzen. Und es stellt sich natürlich auch die Frage, wieso ausgerechnet benachteiligte Jugendliche gegen alle entgegenstehenden Schwierigkeiten und Widerstände sich besonders tugendhaft und angepaßt verhalten sollen, wenn ihnen doch in unserer Gesellschaft vorgelebt wird, daß auch illegale und sozial schädliche Verhaltensweisen offensichtlich zu Wohlstand und Reichtum und sogar zu gesellschaftlicher Akzeptanz und Ansehen führen können.

Benachteiligte Jugendliche sind sehr wohl in der Lage, diese gesellschaftlichen Widersprüche wahrzunehmen, und von daher nimmt es nicht wunder, wenn jedenfalls ein Teil von ihnen sich dafür entscheidet, den „Streß" einer Berufsausbildung angesichts der Probleme an der zweiten Schwelle

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und der allgemeinen Arbeitslosigkeit gar nicht erst auf sich zu nehmen, sondern direkt versucht, mit Jobs, Gelegenheitsarbeiten oder mehr oder weniger illegalen Tätigkeiten den Lebensunterhalt zu sichern.

Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die jetzigen und wohl auch die zukünftigen Arbeitsmarktbedingungen die Chancen von benachteiligten Jugendlichen immer schlechter werden lassen. Solange sich hieran nichts Grundsätzliches ändert, werden auch alle Bemühungen der Jugendhilfe und der Benachteiligtenförderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz ihre Nähe zur Arbeit des Sisyphus nicht verlieren, wenngleich diese Bemühungen dadurch weder überflüssig noch unverzichtbar noch gar unsinnig werden.

Die Jugendhilfe und damit auch die Jugendsozialarbeit kann die Welt alleine ganz zweifellos nicht verändern. Aber sie kann in jedem Falle dazu beitragen, die Chancen für einen nicht unerheblichen Teil benachteiligter Jugendlicher zu verbessern, wenn die Rahmenbedingungen dieses erlauben.

Kommen wir nun zur Frage, welche Konsequenzen sich aus dem Gesagten ergeben und hier zunächst zu den Konsequenzen für das fachliche Handeln in der Jugendhilfe bzw. in der Jugendsozialarbeit.

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß es in der Benachteiligtenförderung gelungen ist, die Qualität der pädagogischen Arbeit so zu steigern, daß die erheblich komplexeren Anforderungen der Ausbildung in den neu geordneten Berufen von den weitaus meisten Benachteiligten in der Ausbildung nach § 40 c AFG doch geschafft werden und sie einen erfolgreichen Abschluß vor der IHK bzw. der HWK ablegen. Diese pädagogische Qualitätsverbesserung muß - und kann auch - angesichts zunehmender Anforderungen an die Qualität der beruflichen Erstausbildung weiter gesteigert werden.

Zugleich ist aber unabweisbar, daß in noch weit stärkerem Maße als bisher schon mit der Wirtschaft, anderen Handlungsfeldern der Jugendhilfe und ganz besonders mit der Schule die Kooperation ausgeweitet und intensiviert werden muß. Gerade zwischen Schule und Jugendsozialarbeit gibt es noch vieles an konkreter Kooperation in bezug auf die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler, was z.T. neu entwickelt, z.T. von gegenseitigen Vorbehalten und Vorurteilen entrümpelt und vor allem in-

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tensiviert werden muß. - Glücklicherweise wächst derzeit dazu auf beiden Seiten die Bereitschaft und immer öfter findet eine konkrete und geplante Zusammenarbeit bereits statt. Angesichts einer immer größer werdenden Zahl von schulpflichtigen Jungen und Mädchen, die schulmüde, schulverweigernd oder schulflüchtig sind, gibt es hierzu keine Alternative. Gleichzeitig müssen aber die Bemühungen vorangetrieben werden, diejenigen jungen Erwachsenen zu einer beruflichen Qualifizierung zu ermutigen, die bisher ohne beruflichen Abschluß geblieben sind.

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß erste Modellversuche in diesem Bereich derzeit laufen. Es liegt aber auf der Hand, daß es für diese Arbeit auch darauf ankommt, die methodischen und didaktischen Handlungsansätze von der Jugendlichenförderung im Benachteiligtenprogramm in eine Erwachsenenpädagogik für ein „Benachteiligtenprogramm für Erwachsene" weiterzuentwickeln, ganz abgesehen von den zu schaffenden materiellen Rahmenbedingungen, die es jungen Erwachsenen ermöglichen, an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. Ein Auszubildendengehalt reicht eben zum Lebensunterhalt für einen jungen Erwachsenen, der bzw. die nicht mehr bei den Eltern lebt, eventuell schon eigene familiäre Verpflichtungen hat usw., einfach nicht mehr aus.

Zum Abschluß komme ich nun zu den Konsequenzen, die sich aus meiner Sicht aus den oben getroffenen Feststellungen für politisches Handeln ergeben oder doch ergeben müßten.

Zunächst jedoch eine grundsätzliche Anmerkung: Ich stelle fest, daß im derzeitigen politischen Handeln nicht die aus der Verantwortung für Gegenwart und Zukunft gewachsene mittel- bis langfristige Planung, das Vorhaben oder gar eine politische Vision handlungsleitend ist, sondern ganz im Gegenteil eher die Reduktion politischen Handelns auf das kurzfristige, vorgeblich pragmatische Reagieren auf die vermeintlich gravierendsten oder auch nur offensichtlichsten Probleme. Bezogen auf die Zukunft und damit auf die jetzigen Kinder und Jugendlichen heißt das: Es findet keine Politik statt, die in jedem Fachressort der (Bundes- oder Landes-)Regierung die Perspektiven der Jugend und damit die Zukunft unserer Gesellschaft zu einem entscheidenden Ausgangspunkt allen politischen Handelns macht. Das gilt im übrigen ebenso für die großen Parteien.

Es findet sich aber auch keine Jugendpolitik, die wirksam und effektiv als „Querschnittsaufgabe" in alle anderen Politikfelder hineinreicht und hin-

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einwirkt, wie es eigentlich die logische und zwingende Konsequenz aus dem § 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wäre. Dort heißt es nämlich:

„Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. ... Jugendhilfe soll zur Verwirklichung ... (dieses) Rechts ... insbesondere ... dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen."

Ich habe Zweifel, ob es derzeit - jedenfalls auf der Bundesebene - überhaupt gerechtfertigt ist, von einer zumindest halbwegs konsistenten Jugendpolitik in diesem gesetzlich formulierten und im Bundestag mit großer Mehrheit beschlossenen Sinne zu sprechen, und wenn sie sich auch nur in aller Bescheidenheit - und quasi contra legem - auf das eigene Ressort beschränken würde.

So lange sich am beschriebenen Zustand und Stellenwert von Jugendpolitik nichts ändert, sind Forderungen an politisches Handeln zwar alles andere als obsolet, aber doch von sehr begrenzter Wirkung.

Wenn sich aber die Frage meines Referates „Benachteiligte Jugendliche -chancenlos?" nicht in die Feststellung „chancenlos!" verändern soll, müssen Veränderungen eingeleitet werden: Da der „Erste Arbeitsmarkt" offensichtlich auf absehbare Zeit nicht in der Lage ist, Arbeitsplätze in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen, muß neben allen anderen Bemühungen, wie die um Senkung der Lohnnebenkosten, Flexibilisierung von Arbeitszeiten, ggf. auch Flexibilisierung der Tarifstrukturen usw. auch und sehr dringend über eine Veränderung und Entwicklung des öffentlich subventionierten Beschäftigungssektors gestritten werden. Es muß doch erlaubt sein zu fragen, ob die derzeitige Konzentration auf Bergbau, Stahl, Werften, Landwirtschaft und Weltraumtechnik die einzig denkbare Möglichkeit ist. Warum können Investitionen in den Standort Deutschland nicht auch oder möglicherweise sogar zukunftsträchtiger in qualifizierenden und qualifizierten Bereichen wie Flächen- und Bodenrenaturierung, Umweltschutz und Dienstleistungen, z.B. im Bereich Versorgung, Pflege, geschehen? Warum kann durch die öffentlichen Hände nicht in viel größerem Umfang in diesen Bereichen, die sich in der Regel noch nicht betriebswirtschaftlich lohnen, wohl aber volkswirtschaftlich, beschäftigungswirksame Nachfrage geschaffen werden? Ich rede nicht von befriste-

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ten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, oder ist der Arbeitsplatz des Bergmanns oder des Universitätsprofessors befristet, nur weil er öffentlich subventioniert ist? Aber ich will beispielhaft auf eine Tatsache aufmerksam machen: Die Zerlegung von Altautos in wiederverwertbare Rohstoffe wurde zuerst in Beschäftigungsinitiativen durchgeführt. Heute wird sie zu einem immer größer werdenden Geschäft für private Firmen.

Eine weitere Forderung an politisches Handeln ist die nach einer Verstärkung und nicht zuletzt besseren Koordination der Anstrengungen zur Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Deprivation. Sieht man sich das derzeitige politische Handeln an, kann ich mich jedenfalls des Eindrucks nicht erwehren, daß es nicht eigentlich um die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Armut geht, sondern nur noch darum, welche der öffentlichen Hände den schwarzen Peter, sprich: die finanzielle Hauptlast tragen soll.

Natürlich kann und muß man darüber streiten, was konkret getan werden kann und muß, um die Arbeitslosigkeit abzubauen und möglichst allen jungen Menschen eine qualifizierte und nachgefragte Berufsausbildung und den Zugang zur Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Aber dieser Streit muß möglichst bald zu umsetzbaren und zukunftsträchtigen Ergebnissen führen. Sonst stellt sich nicht mehr die Frage, sondern es wird ein Faktum sein: Benachteiligte Jugendliche - chancenlos! Und in diesem Falle werden wir das „Lumpenproletariat" des 21. Jahrhunderts produzieren, mit all den für Staat und Gesellschaft höchst problematischen Folgen, die die Existenz einer größeren Bevölkerungsgruppe hat, welche auf Dauer von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen ist. Einen Hinweis auf das, was da auf uns zukommt, kann man z.B. in den Pariser Vororten schon jetzt bekommen.

Packen wir es also an, lassen wir den Streit über den richtigen Weg und die richtigen Methoden nicht ausufern und vor allem: Nehmen wir die Probleme, die ich versucht habe aufzuzeigen, ernst. Es geht nicht um Wohltaten, die man verteilen kann oder auch nicht, es geht um die Zukunft unserer Gesellschaft.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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