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Franz Müntefering
Ökonomische Modernisierung und Reformbedarf der beruflichen Ausbildung


Das Thema ist wichtig genug.

Es ist nicht neu, aber es hat in den letzten Jahren zusätzliche Brisanz bekommen. Das Problem Ausbildungsplätze ist in 1995 keines mit nur konjunkturellem Hintergrund. Es reicht nicht. Ausbildungsplatzmangel ein paar Jahre lang so gut es geht zu überbrücken, bis konjunktur- und demographische Entwicklung die Situation vielleicht entspannen.

Es geht um mehr:

  • Um die Rolle der Ausbildung im Lebensweg derer, die jetzt jung sind und

  • um die Funktion der Ausbildung für den Wirtschaftsstandort.

Daraus ergeben sich viele Bezüge zu anderen Politikbereichen und viele Fragen.

Aber die beiden entscheidenden Ansatzpunkte für unsere Diskussion sind hier bezeichnet:

  • Der berechtigte Anspruch jedes einzelnen, sich auf das Berufsleben vorbereiten zu können, eine Ausbildung zu erhalten und

  • der Anspruch der Unternehmen, letztlich der Gesellschaft, das Potential an Wissen und Können, das in der jungen Generation angelegt ist, zu entfalten und zu nutzen.

Modernisierung der Wirtschaft und Modernisierung der beruflichen Bildung gehen zusammen. Denn: Wirtschaftliche Modernisierung ohne Modernisierung der beruflichen Ausbildung wäre ein Konzept ohne Fundament.

Projektgruppe „Jugend-Beruf-Zukunft"

Es wird immer deutlicher: Eine Reform des Berufsausbildungssystems ist überfällig. Oder müßte man sagen: der Ausbildungssysteme, denn die

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Landschaft wird bunter? Wie sieht die duale Ausbildung heute aus und wie muß sie weiterentwickelt werden? Es geht dabei um wichtige gesellschaftspolitische, ökonomische und bildungspolitische Fragen. Sie können nur in einem gemeinsamen Dialog gelöst werden. Aus diesem Grunde hat der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei eine Arbeitsgruppe unter dem Titel „Jugend-Beruf-Zukunft" eingesetzt. Sie soll:

  • Eine Konzeption zur Modernisierung des Berufsbildungssystems erarbeiten und

  • dem Parteivorstand 1996 Vorschläge für eine Reform des Berufsbildungssystems vorlegen.

Klar ist:

Das duale System, wenn es nicht irgendwann kollabieren soll, braucht neue Impulse. Jeder Jugendliche hat Anspruch auf eine qualifizierte Ausbildung. Sie ist noch immer die Grundlage für eine erfolgreiche berufliche Perspektive. Die Arbeitsmarktzahlen belegen: Arbeitslose Jugendliche haben zumeist keine abgeschlossene berufliche Ausbildung. Je weniger Ausbildung, um so größer die Gefahr der Arbeitslosigkeit.

Und:

Qualifikation ist eine Schlüsselgröße für die ökonomische Entwicklung von Industrienationen: Ein Wirtschaftsstandort ist nur so gut, wie die Qualifikation seiner Beschäftigten es zuläßt.

Der Ausbildungsstellenmarkt

Seit Beginn der neunziger Jahre haben wir es mit einem steigenden Problem auf dem Ausbildungsstellenmarkt zu tun:

  • Weniger Angebot,

  • mehr Nachfrage,

  • erhebliche regionale Disparitäten.

Die Fakten:

  • In den letzten beiden Jahren wurden allein in Westdeutschland mehr als 120.000 Ausbildungsplätze abgebaut.

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  • In Ostdeutschland werden 60% aller neuen Lehrverhältnisse staatlich subventioniert.

  • In den neuen Bundesländern entfallen auf einen Ausbildungsplatz fünf Bewerber.

  • Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen steigt 1995 von 586.000 auf über 600.000.

  • Die gemeldeten Berufsausbildungsstellen gehen in den alten Bundesländern um 15% gegenüber dem Vorjahr zurück.

  • 1984: 700.000 neue Ausbildungsverträge; 1994: 450.000 neue Ausbildungsverträge.

  • In vielen Arbeitsmarktregionen ist der Ausbildungsmarkt bereits gekippt, rein rechnerisch gibt es dort mehr Nachfrage als Ausbildungsstellen.

Die Ausbildungs-Neuverträge sind in den Jahren von 1987 bis 1993 deutlich gesunken:

  • In der Industrie um 48%,

  • in den Dienstleistungsbereichen im Durchschnitt um 27%.

Eine Trendwende ist leider nicht in Sicht.

Dabei waren die Anstrengungen der letzten Jahre keineswegs erfolglos:

  • Regionale Ausbildungskonferenzen zur Mobilisierung zusätzlicher Ausbildungsplätze.

  • Die Appelle der Kammern und Verbände an ihre Mitglieder, Ausbildungsplätze bereitzustellen.

  • Tarifvereinbarungen, die auf zusätzliche Ausbildungsplätze zielen.

  • Das Klinkenputzen der Berufsberatungen/der Arbeitsämter bei vielen Unternehmen.

  • Überbrückungen in Form von Berufsvorbereitungsjahren und ähnlichem.

  • Nicht zuletzt die Zusage der Deutschen Wirtschaft (am 15. März beim Bundeskanzler), in diesem und im nächsten Jahr jeweils 5% mehr Ausbildungsplätze bereitzustellen.

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In allen Zahlen, die ich kenne, ist dieses Ziel nicht erreicht. Im Gegenteil:
Es gibt in 1995 bisher nicht mehr Ausbildungsplätze; es gibt weniger. Das Ausbildungsplatzangebot im Westen ist sowohl bei den industriellen Facharbeitern als auch bei qualifizierten kaufmännischen Angestelltenberufen rapide zurückgegangen. Allein im Ausbildungsjahr 1994/1995 ging das Angebot im Westen deutlich zurück: 513.063 (-48.377 = 8,6%). Gleichzeitig stieg die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber: 478.029 (+22.805 = +5%).

Rein rechnerisch lag das Angebot noch knapp über der Nachfrage, aber

  • in immer mehr Regionen gelingt der Ausgleich nicht mehr und

  • von einem auswahlfähigen Angebot kann auch insgesamt immer weniger gesprochen werden.

Wenn sich dieser Trend fortsetzt, dann wird auch im Westen künftig noch nicht einmal rechnerisch ein Ausgleich erreicht werden.

Im Osten Deutschlands stagniert das Angebot, während die Nachfrage wächst.

Angebot 120.129 (-1.893 = -1,6%)

Nachfrage 191.692 (+20.589 = +12%)

Die Zahl der unversorgten Jugendlichen liegt am Ende des Ausbildungsjahres bei 5.566 (4.280 in Sachsen). Wir brauchen eine „Gemeinschaftsinitiative Ausbildungsplatzsicherung", wie sie von uns seit langem vorgeschlagen wird.

Aktuell:

Antrag der SPD-Bundestagsfraktion „Handlungsvorschläge zur Rettung des dualen Systems".

Wir brauchen eine Offensive: Ausbildung für alle!

Aber: Selbst wenn es gelingt, das derzeitige Problem auf dem Ausbildungsstellenmarkt zu lösen, sind wir noch lange nicht über den Berg. Denn anders als in Phasen der siebziger oder achtziger Jahre haben wir es heute nicht nur mit kurzfristig zu lösenden Problemen zu tun. Das Problem wächst qualitativ und es wächst quantitativ; es gibt strukturelle Umbrüche.

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Strukturelle Probleme

Die Ursachen für die strukturellen Probleme auf dem Ausbildungsstellenmarkt sind vielfältig.

Umstrukturierungsprozesse der Wirtschaft:

  • Wegbrechen produzierender Bereiche mit hohen Ausbildungsplatzkapazitäten; Trend zu Dienstleistungsbereichen mit geringeren Ausbildungsplatzkapazitäten.

  • Rationalisierung und Abbau von Arbeitsplätzen - insbesondere bei Arbeitsplätzen für Un- und Angelernte, aber auch durchgängig bis hin zum Management.

Modernisierungsprozesse

  • In allen Wirtschaftszweigen mit wachsender Bedeutung von neuen Technologien, Computerisierung und Verfahren steigen die Anforderungen. Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit, Sozialkompetenz, Eigenverantwortung, vernetztes Denken gewinnen an Bedeutung.

Fehlende personelle und finanzielle Ressourcen

  • Nur 36% aller Betriebe in Deutschland bilden aus.

  • Nur 40% aller Betriebe verfügen über die für eine Berufsausbildung notwendigen fachlichen und personellen Voraussetzungen.

  • Berufsausbildung wird immer stärker als reiner Kostenfaktor betrachtet und im Rahmen von „Lean production"-Konzepten zum Teil massiv zurückgefahren.

  • Neue Personalrekrutierungsstrategien, etwa im Rahmen von Berufsakademien oder durch Einarbeitungs- und Trainee-Programme von Fachhochschul- und Hochschulabsolventen, werden als kostengünstige Varianten ausgebaut.

Wenn es auf diese strukturellen Probleme keine Antworten gibt, die bald gefunden werden und die tragfähig und zukunftsträchtig sind, wird die

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duale Ausbildung die quantitativen und qualitativen Anforderungen an einen modernen Wirtschaftsstandort nicht mehr erfüllen.

Die Aufgabe der Projektgruppe „Jugend-Beruf-Zukunft" beim Parteivorstand der SPD

Angesichts der Bedeutung der Berufsbildung und ihrer unverkennbaren Probleme hat der Parteivorstand der SPD eine Projektgruppe „Jugend-Beruf-Zukunft" eingesetzt, die

  • eine Konzeption zur Modernisierung des Berufsbildungssystems erarbeitet,

  • dem SPD-Parteivorstand Mitte 1996 Vorschläge für eine Reform des Berufsbildungssystems vorlegt und

  • wir haben gerade dem Parteitag in Mannheim unseren Zwischenbericht vorgelegt.

Die Bundesregierung sieht diesen Handlungsbedarf leider nicht. Ja, sie versucht sogar mit statistischen Spielereien, die Situation auf dem Ausbildungsmarkt schönzureden. Die Bundesregierung versucht nicht nur an dieser Stelle, die Probleme statistisch, aber nicht tatsächlich zu lösen.

Die Vorzüge des dualen Systems der Berufsausbildung

Es besteht aber nicht nur aktueller, sondern grundsätzlicher Handlungsbedarf. Die Projektgruppe „Jugend-Beruf-Zukunft" hat vor dem Hintergrund

  • der aktuellen Ausbildungssituation,

  • der wirtschaftlichen, technischen und organisatorischen sowie

  • der demographischen Entwicklung

die Chancen und Risiken für das duale System diskutiert.

Faßt man die Debatte in zwei Sätzen zusammen, so kommt man zu folgender Bewertung:

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  1. Das System der dualen Berufsausbildung hat sich insgesamt bewährt.

  2. Es besteht jedoch erheblicher Modernisierungs- und Entwicklungsbedarf.

Wir müssen das Positive bewahren und weiterentwickeln. Vor allem die folgenden fünf Vorzüge sprechen für eine Beibehaltung und Weiterentwicklung:

  • Die nach dem Berufsprinzip organisierte Ausbildung fördert das Selbstbewußtsein und die soziale Einbindung. Das Berufsprinzip erhöht die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt.

  • Die Verknüpfung von Arbeiten und Lernen erleichtert die Anpassung der Ausbildung an eine sich wandelnde Arbeitswelt.

  • Der Übergang von der Ausbildung in das Berufsleben gestaltet sich leichter. Das belegt auch die in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten relativ niedrige Jugendarbeitslosigkeit.

  • Das duale System ist kostengünstig. Dies verkennt, wer nur in der kurzen Frist denkt. Einzelbetrieblich und gesamtwirtschaftlich zahlt sich das duale System auf Dauer aus.

  • Die paritätische Beteiligung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern an der Gestaltung und Weiterentwicklung hat sich bewährt. Der hier gefundene Konsens trägt das duale System.

Die Herausforderungen

In der Projektgruppe haben wir aber auch die Entwicklungen diskutiert, die erforderlich sind.

  • Wir müssen die Privilegierung der Allgemeinbildung positiv aufheben, d.h. die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung anerkennen. Wer die Chancengerechtigkeit ernsthaft will, darf dies nicht auf die Ausbildung beschränken, sondern muß auch die beruflichen Karrieremöglichkeiten erweitern. Nur so kann die Attraktivität des dualen Systems gesteigert werden.

  • Wir müssen das Ausbildungsangebot in dem Sinne modernisieren,

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    • daß es sich an die sektorale Beschäftigungsentwicklung anpaßt und

    • zukunftsträchtige Ausbildungsangebote an Gewicht gewinnen.
  • Wir brauchen neue Berufe und Ausbildungsordnungen

    • in der Medienwirtschaft,

    • im Freizeitbereich,

    • in Wartung und Sicherung,

    • in der Logistik,

    • im Controlling sowie

    • im Pflegebereich.

  • Wir müssen noch mehr Gewicht auf die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen legen, dazu gehören

    • Eigeninitiative und Kreativität,

    • Sozialkompetenz und Teamfähigkeit.

  • Die Lerninhalte und Ausbildungsstruktur in Berufsschule und Betrieb müssen entsprechend diesen Schlüsselqualifikationen entwickelt werden.

  • Wir müssen die Berufsschulen in die Lage versetzen, diesen Prozeß wirkungsvoll zu begleiten. Dies erfordert

    • hochqualifiziertes Lehrpersonal,

    • moderne Ausstattung,

    • Differenzierung für unterschiedliche Lerngruppen.

Kosten und Finanzierung der beruflichen Bildung

Wir alle wissen: Berufliche Bildung kostet Geld, viel Geld. Die Kosten können gesenkt bzw. in Grenzen gehalten werden, wenn es uns gelingt, die bestehenden Einrichtungen optimal auszulasten, z.B. als

  • überbetriebliche Ausbildungseinrichtungen (Ausbildungsverbünde) oder

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  • in Kombination von Ausbildung (vormittags) und Weiterbildung (nachmittags und abends).

Hier sind Staat und Wirtschaft in der Pflicht. Nüchtern betrachtet:

Die einzelbetriebliche Finanzierung ist ein wichtiger Grund für die starken konjunkturellen Schwankungen im Ausbildungsangebot. Wenn es der Wirtschaft schlechter geht, dann wird vor allem in den Großunternehmen zuerst an der Ausbildung gespart, um dann im Aufschwung die selbstverschuldete Fachkräftelücke zu beklagen.

So geht das nicht. Ein tragfähiges Finanzierungssystem muß - unabhängig von strukturellen Entwicklungen und konjunkturellen Schwankungen - ein bedarfsdeckendes Angebot sichern. In unserem Wirtschaftssystem liegt die Verantwortung für die betriebliche Ausbildung bei den Arbeitgebern. Auch im Interesse der verantwortungsbewußten Unternehmen muß es zu einer solidarischen Ausbildungsfinanzierung kommen.

Vorschläge zur gesetzlichen Verankerung des finanziellen Ausgleichs zwischen ausbildenden und nicht-ausbildenden Betrieben sind zu entwickeln. Dabei geht es in erster Linie nicht um eine globale Umlage. Betriebe mit durchschnittlicher, dem Fachkräftebedarf entsprechender Ausbildungsquote sollen nicht zusätzlich belastet, unterdurchschnittlich ausbildende Betriebe in zumutbarem Umfang belastet werden.

Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion sieht hier ein differenziertes Maßnahmenpaket vor. Ganz klar: Je mehr Lösungen in Eigenverantwortung gefunden werden, wie etwa in der Bauwirtschaft, desto besser. Ansonsten bleibt staatliches Handeln erforderlich.

Schluß

Ich habe versucht. Ihnen einige Aspekte deutlich zu machen, in denen wir die Ansatzpunkte sehen. Wir haben in der Politik eine große Mitverantwortung dafür, die Möglichkeiten der Jugendlichen, ausgebildet zu werden und eine berufliche Perspektive zu finden, zu verbessern. Das haben wir über Jahre getan. Wir müssen auch weiterhin große Anstrengungen unternehmen. Jeder Jugendliche hat den Anspruch auf eine angemessene Ausbildung. Dazu muß die Politik die notwendigen Antworten entwickeln.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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