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[Seite der Druckausg.: 39 ]


Peter Strieder
Soziale Stadtentwicklung - Die Aktivierung überforderter Nachbarschaften


Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat aus dem Wahlprogramm der SPD aus dem Jahr 1995 beginnen. Dort hieß es: „Wir werden nicht zulassen, daß im Zentrum der Stadt nur noch gehobene Dienstleistungen und Luxuswohnungen angesiedelt werden. Es darf keine Verdrängung der dort eingesessenen Bevölkerung geben." Das war eine Aussage, die viele Menschen in der Stadt teilen konnten.

Allein die Tatsache, daß dieses Zitat gerade einmal drei Jahre alt ist und heute schon überholt ist und wir heute mit ganz anderen Ausgangsbedingungen zu rechnen haben, belegt die Dramatik und die Dynamik der Entwicklung.

Für alle Großstädte der westlichen Welt werden seit ca. zwei Jahrzehnten grundlegende Veränderungen in der sozialräumlichen Struktur festgestellt, die mit Begriffen wie „Polarisierung", Spaltung der Stadt oder soziale Ausgrenzung belegt werden. Für Berlin werden ähnliche Entwicklungen für möglich gehalten, insbesondere aus dem Zusammenspiel von drei Parametern der Stadtentwicklung, die sich seit 1990 grundlegend verändert haben:

  1. durch die Aufhebung räumlicher Beschränkungen für die Standortentscheidungen von Privathaushalten, das heißt Umzüge innerhalb der Stadt und ins Umland, von öffentlichen Einrichtungen und privaten Unternehmen;

  2. die Dynamisierung aufgrund neuer Angebote auf dem Wohnungsmarkt, der Veränderung von gewerblicher und sozialer Infrastruktur, aber auch durch die Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Hauptstadtumzug,

  3. der tiefgreifende Wandel in der ökonomischen Struktur durch den Wegfall von Industriearbeitsplätzen, die Tertiärisierung, eine stärkere Polarisierung der Einkommensverteilung und die Massenarbeitslosigkeit.

Ein Großteil der Probleme, die wir heute in Berlin sehen, ist ein Ergebnis von 16 Jahren Gesellschaftspolitik durch die Kohl-Regierung. Die von uns befürchtete

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Zwei-Drittel-Gesellschaft ist Realität geworden. Es wird mehr als eine Legislaturperiode dauern, bis wir die Probleme bewältigt haben. Voraussetzung für alles ist Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung. Bei anhaltender Massenarmut und einer immer weiter zurückgehenden Integration in den Arbeitsmarkt werden die Probleme wachsen.

Vom Anstieg der Arbeitslosigkeit und vom Abbau von Sozialleistungen sind vor allem Stadtteile betroffen, in denen Segregationsprozesse - also die Trennung sozialer Gruppen und ihre Ansiedlung in eigenständigen Wohngebieten - bereits stattgefunden hatten. Damit verschlechtert sich die soziale Lage der Bevölkerung innerhalb eines Gebiets, die stärkere Verarmung ist dann Ergebnis einer gesellschaftlichen Polarisierung. Durch den Wegzug von gut verdienenden Mittelschichtfamilien werden Wohnungen frei, in die danach arme oder sozial diskriminierte Haushalte einziehen. Die soziale Entmischung führt zu einer sozialräumlichen Polarisierung. Der soziale Abstieg wird durch diese räumliche Absonderung verstärkt, es entstehen Problemgebiete. Die Konzentration von sozial Benachteiligten führt zu einem stärkeren Druck auf die sozial integrativ wirkenden Schichten. Diesem Druck entzieht sich, wer es sich leisten kann.

Die Häufigkeit von Umzügen innerhalb der Stadt hat sich seit der Vereinigung deutlich erhöht. Diese Dynamik ist in den Innenstadtbereichen am größten. Im Ergebnis führen diese Umzüge zu einer Abnahme der Einwohnerzahl in den innerstädtischen Bereichen und zu einer Zunahme in den Außenbezirken. Von den Randwanderern bleiben zwar die meisten noch innerhalb der Stadtgrenzen, aber die Wanderungsverluste gegenüber dem Umland nehmen zu. Zuwanderer in die innerstädtischen Bereiche sind vor allem jüngere Menschen, überproportional viele aus dem Ausland.

Die Ergebnisse unserer Untersuchung [Fn.1: Vgl. Sozialorientierte Stadtentwicklung. Gutachten im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie, Berlin 1998.] zeigen, daß die Umzugsbewegungen sozial selektiv wirken: Die innerstädtischen Gebiete verlieren in diesem Prozeß Erwerbstätige und Familien mit Kindern, der Anteil von Erwerbslosen und Ausländern nimmt zu. Dies verstärkt die Wegzugsabsichten von Familien noch mehr, denn die Angst, daß die eigenen Kinder wegen des hohen Ausländeranteils in der Schule schlechtere Bildungschancen haben, ist eines der wichtigsten Motive für die Abwanderung.

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Es ist also im Ergebnis nicht die noch vor wenigen Jahren befürchtete Juppyisierung, nicht die Verdrängung der einfachen Leute, sondern vielmehr der soziale Abwärtstrend, die Entmischung, die uns besorgt macht.

Die Untersuchungsergebnisse zeigen auch, daß all diese Gebiete in unterschiedlich starkem Maße unter folgenden Besonderheiten leiden, die langfristig zur Auflösung noch stabiler sozialer Milieus in den Wohngebieten führen bzw. in den bereits problembehafteten Gebieten zu einer weiteren Verschärfung der sozialen Desintegration führen werden.

Die Merkmale der problembehafteten Gebiete sind:

  • hohe Bevölkerungsfluktuation

  • hohe Ausländeranteile, insbesondere bei Jugendlichen und Kindern

  • hohe Arbeitslosigkeit

  • hohe Sozialhilfedichte

  • hoher Zuzug von Zuwanderern aus dem Ausland

  • Wegzug von Familien mit Kindern.

Am schwierigsten sind die Entwicklungen in einigen Altbaugebieten der Innenstadt Westberlins. Bemerkenswert ist, daß die Wanderungsprozesse, die zum sozialen Abstieg eines Quartiers beitragen, dort besonders stark ausgeprägt sind, wo bereits zuvor die Konzentration von Haushalten mit materiellen und/oder sozialen Problemen besonders hoch war. Dort findet also eine kumulative Verschärfung sozialräumlicher Marginalisierung statt.

Auch die Tendenzen in den innerstädtischen Altbaugebieten in Ostberlin weisen prinzipiell in eine ähnliche Richtung. Dort ist der Entmischungsprozeß allerdings noch nicht so weit fortgeschritten.

Auch die Plattenbau-Großsiedlungen weisen solche Tendenzen auf. Dabei sind die bereits sanierten Bereiche von erheblich größerer Stabilität geprägt als die noch nicht sanierten.

Schließlich sind die Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus in Westberlin zu nennen. Dagegen haben wir das Konzept des Quartiersmanagement entwickelt und dabei auf das in Hamburg entwickelte Konzept der Armutsbekämpfung zurückgegriffen. [Fn.2: Vgl. den Beitrag von M. Alisch in dieser Broschüre.]
Wir müssen die Menschen einbeziehen in die

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Gestaltung ihrer Quartiere. Sie müssen selbst definieren, welches Defizit ihnen am meisten unter den Nägeln brennt. Das eigene Engagement ist das beste Mittel, das Selbstbewußtsein im Kiez zu stärken.

Ich setze auf eine Politik der Angebote. Wir müssen Anreize entwickeln, die die Attraktivität der Kieze erhöht. Besondere Angebote - eine deutlich geringere Klassenstärke oder zum Beispiel besondere Sportförderung in einer Schule - könnten für Bevölkerungsgruppen aus anderen Teilen der Stadt ein Anreiz sein, das dortige Angebot anzunehmen und so für eine neue soziale Mischung in diesen Quartieren zu sorgen.

Soziale Not, Arbeitslosigkeit, Eltern, die mit ihrem Schicksal überfordert sind und sich nicht um ihre Kinder kümmern können, mangelnde Integration in die deutsche Gesellschaft sind die wesentlichen Kernprobleme. Wir brauchen also in diesen Gebieten Bevölkerungsschichten, die in einer stabilen Situation leben und deshalb integrationsfähig für andere sind. Ich kann mir gut vorstellen, daß in den von uns identifizierten problembehafteten Gebieten grundsätzlich eine Ganztagsbetreuung für Schulkinder angeboten wird, daß wir die Klassenfrequenz mit einem hohen Ausländeranteil drastisch reduzieren, daß wir den Sportvereinen finanziell und personell helfen, ihre zur Integration wichtige Kinder- und Jugendarbeit auszubauen.

Eine wichtige Erkenntnis unserer Studie: Es geht um kleinteilige Problemlagen. Lösungen können daher auch nur gezielt in einem fest eingegrenzten Gebiet erzielt werden: Quartiersmanagement - keine Apparate.

Was können wir tun? Unser Gutachten zur sozialorientierten Stadtentwicklung hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß es auch innerhalb von Bezirken ungleichzeitige Entwicklungen gibt. Während der eine Kiez einen Aufschwung erlebt, z.B. die Gastronomie boomt und interessante sanierte oder neue Wohnungen entstehen, entmischt sich das nächste Quartier zusehends. Wir kommen deshalb nicht mehr mit einem Wertausgleich nur unter den Bezirken aus. Es bedarf lokaler Interventionsstrategien für einzelne Quartiere und Kieze. Die Menschen müssen aktiviert werden, um für ihre Interessen einzutreten.

Wir müssen für diese Quartiere und Kieze ein Quartiersmanagement einrichten, das als Dienstleistung die Voraussetzungen schafft, um die ohnehin fließenden Projektmittel zusammenzubinden und mit ihnen ein gleichgerichtetes Ziel zu verfolgen. Die Höhe des ausgegebenen Geldes für einzelne Bezirke

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sagt für sich genommen wenig aus. Wahrscheinlich war Kreuzberg SO 36 der Kiez mit den meisten geförderten Projekten. Dennoch gehört gerade dieser Teil der Innenstadt zu einem besonders problembehafteten Gebiet. Es kommt also darauf an, die Projektmittel auf gleiche Ziele abzugleichen, die Jugendpolitik, die Drogenpolitik, die Sozialpolitik, die Arbeitsmarktpolitik, die Schulpolitik miteinander zu verzahnen und gemeinsame Szenarien der Intervention zu entwickeln. Dies bedeutet, daß Bezirke mit einer sich stabilisierenden Sozialstruktur weniger Landesmittel erhalten dürfen als diejenigen, in denen die Verhältnisse schwieriger werden. Gleichzeitig muß allerdings sichergestellt werden, daß die Bezirke die Mittel auch tatsächlich in den problembehafteten Quartieren einsetzen.

Wir müssen in den Gebieten helfen, aber wir dürfen nicht die Innenstadtbezirke zu Elendsquartieren machen, indem wir so über sie reden, wie das z.B. bereits mit dem Begriff „Innenstadt-Konferenz" passiert.

Die soziale Entwicklung in den Quartieren kann nicht isoliert von der Gesamtentwicklung betrachtet werden. Soziale Stadtentwicklung hat die Aufgabe, die Frage nach den langfristigen Entwicklungschancen zu beantworten. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet:

Wovon lebt Berlin, wovon leben die Menschen hier in den nächsten Jahren und Jahrzehnten?

Wir haben zwei große Themen:

  • Politik für mehr Beschäftigung. Wir haben gesehen: Wer die Arbeitslosigkeit nicht in den Mittelpunkt seiner Politik stellt, kann keine Wahlen gewinnen.

  • Ausbildung für alle: Schule, Wissenschaft, Schwerpunkt Bildungspolitik - Investition in die Köpfe ist das eigentliche Zukunftskapital.

[Seite der Druckausg.: 44 = Leerseite ]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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