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1. Fragestellung

„Die Armut ist weiblich", so hieß es in den achtziger Jahren. Vertreter der neueren Armutsforschung halten diese Aussage für überholt, Vertreterinnen halten an dieser Aussage fest. Unumstritten ist lediglich, daß alte Frauen die Armen der sechziger Jahre waren.

Bereits diese kleine Kontroverse zeigt, daß es keine voraussetzungslose Bestimmung von Armut gibt. Schon die Definition der Armut ist eine politische Entscheidung, und es gibt eine Reihe verschiedener Kriterien, mit denen Armut bestimmt werden kann: es gibt Armut in der Definition der Einkommensarmut und dabei Grenzen von 50, 40 oder 30 Prozent des durchschnittlichen Einkommens, es gibt Armut als sogenannte bekämpfte Armut, indem der Sozialhilfebezug als Indikator benutzt wird und dabei Kriterien, die sich auf den Warenkorb oder auf statistische Modelle beziehen, zugrunde gelegt werden.

Im folgenden wird, um die geschlechterbezogene Dimension der Armut in den Blick zu rücken, ein spezifischer Armutsbegriff benutzt. Geht man nämlich von der Annahme aus, daß diese Dimension genauso, wie in der herrschenden Forschung auch in der Armutsforschung keine bedeutsame Rolle spielt, so gilt es, die Formen der Armut aufzuspüren, die den gängigen Betrachtungen verborgen bleibt: die jeweils relative Armut von Frauen gegenüber Männern in vergleichbarer Lage, die durch den Geschlechtervertrag verursacht wird. Damit wird angenommen, daß nicht die Armut weiblich ist, sondern daß es vielmehr einen Geschlechtervertrag gibt, der Frauen in spezifischer Weise und in jeweils höherem Maße ärmer als Männer macht. Untersucht wird deswegen, welche armutserzeugende Lebenslage der Geschlechtervertrag bewirkt. Der Geschlechtervertrag, das ist eine „hidden agenda", ein verborgenes Muster, nach dem sozialstaatliche Regelungen, Gesetze und Institutionen das Geschlechterverhältnis prägen. Wenn es auch eine direkte Positionszuweisung nach Geschlecht in dieser Gesellschaft nicht mehr gibt - wie auch die direkte Diskriminierung wegen des Geschlechts von Rechts wegen verboten ist -, so herrscht doch eine indirekte gesellschaftliche Steuerung, die das Geschlechterverhältnis in einer bestimmten Form herstellt. Durch die Privatisierung und geschlechtsspezifische Zuordnung der Kinder- und Altenbetreuung - auch wenn sie je individuell abgelehnt werden kann oder modifizierbar ist - und durch die Erzeugung geschlechtsspezifischer Sozialcharaktere - auch wenn sie je individuell eine Auseinandersetzung herausfordern - werden die Lebenssituationen von Männern und Frauen geprägt.

Im ersten Teil werden Definitionen und Konzepte der Armutsforschung auf ihren Androzentrismus hin untersucht, also gefragt, in welcher Weise eine Perspektive, die die männliche Lebenssituation für die allgemeine und gültige hält und in der die weibliche als abweichende Form gilt, vorherrschend ist.

Im zweiten Teil wird analysiert, wie die verborgene Armut von Frauen durch den Ehevertrag als eine Form des herrschenden Geschlechtervertrags bedingt sein kann. Spezifische Formen weiblicher Armut entstehen, wenn Frauen dem Geschlechtervertrag entsprechen, eine Ehe mit einem Durchschnittsverdiener eingehen und sich um Kinder und/oder alte Menschen kümmern. Sie entstehen aber genauso, wenn Frauen diesen Geschlechtervertrag aufkündigen, sich von ihrem Partner trennen, sich scheiden lassen, ihre Kinder alleine erziehen oder vor ihren Männern fliehen müssen. In der aktuellen sozialpolitischen Diskussion wird auf eine spezifische Armutslage von Frauen, die alleinerziehender Frauen, hingewiesen. Selbst die Sozialhilfestatistik läßt nicht mehr übersehen, daß allein

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erziehende Frauen in relativ größerem Maße arm sind als alleinerziehende Väter, aber auch als Frauen, die als Mutter in einer Ehe leben. Alleinerziehende Mütter haben entweder nie an dem vorgegebenen ehelichen Unterhaltssystem teilgenommen (ledige Mütter) oder sind aus ihm herausgegangen (getrennt lebende Mütter, geschiedene Mütter oder verwitwete Mütter). Verheiratete Mütter demgegenüber gelten nicht als arm, solange das Einkommen der Familie nicht unter einer bestimmten Grenze liegt, und sie nicht als Sozialhilfeempfängerinnen in der Statistik auftauchen. Welche Implikationen eine solche Betrachtung hat, wie sie auf der traditionellen Ehe- und Familienideologie basiert und die relative Armut der Ehefrauen gegenüber den Ehemännern verschleiert, wird in diesem Teil dargestellt.

Aber auch das Erwerbsarbeitssystem als materielles Sicherungssystem produziert die Armut insbesondere von Frauen. Im Vergleich zu Männern sichert das Erwerbsarbeitssystem die materielle Existenz von Frauen schlechter. Legt man die durchschnittlichen Verdienste aller Vollzeitarbeitnehmer zugrunde, gehören Frauen weitaus häufiger zu den „working poor", also den Personen, die selbst bei volltägiger Erwerbsarbeit das durchschnittliche Einkommen nicht erzielen. Frauen sind darüber hinaus weitaus häufiger als Männer ausschließlich in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen, sind häufiger scheinselbständig oder arbeiten als mithelfende Familienangehörige. Als Arbeitslose liegt ihre Absicherung aus dem Arbeitslosengeld bzw. der Arbeitslosenhilfe sehr viel niedriger als die vergleichbarer Männer und auch nach der Erwerbsarbeit erhalten sie relativ sehr viel geringere Renten als Männer. In welcher Weise diese relative materielle Armut Folge des Geschlechtervertrags ist, wird im dritten Teil dargelegt.

Im letzten Teil werden Strategien der Armutsbekämpfung vorgestellt. Dabei geht es um die Konsequenzen aktueller sozialpolitischer Maßnahmen, die unter dem Stichwort „Sozialabbau" diskutiert werden und deren Auswirkungen auf den Geschlechtervertrag seltener thematisiert werden. Aber auch die in der sozialpolitischen Diskussion und in der Armutsforschung vorgeschlagenen Strategien werden auf ihre Veränderungspotentiale für den Geschlechtervertrag überprüft und gefragt, inwieweit sie imstande sind, die verborgene Armut der Frauen zu bekämpfen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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