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[Seite der Druckausgabe: 83]

Hans-Günter Kleff: Die Bevölkerung türkischer Herkunft in Berlin-Kreuzberg – eine Bestandsaufnahme



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1. Die historische Entwicklung

Der Mauerbau 1961 hatte aus West-Berlin eine Insel gemacht, was u.a. sehr negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Teilstadt hatte. Deshalb warb die West-Berliner Industrie erst relativ spät Arbeitsimmigranten an, nämlich nach den Rezessionsjahren 1966–1967. Zu dieser Zeit hatte sich die Reihenfolge der Hauptanwerbeländer bereits von Italien, Spanien und Griechenland auf Jugoslawien und auf die Türkei verschoben. In den folgenden Jahren stieg die Zahl der Migranten um so schneller: Hatte West-Berlin 1967 erst rund 6.700 türkische und 1.700 jugoslawische Einwohner, so waren es 1973, im Jahr des Anwerbestopps, bereits 66.000 türkische und 28.000 jugoslawische Einwohner. 1979 überschritt die türkische Bevölkerung die Grenze von 100.000 und West-Berlin wurde die erste türkische Großstadt Westeuropas.

Die großen elektrotechnischen Betriebe AEG, Siemens, Osram usw. benötigten für Montagearbeiten vor allem junge fingerfertige Arbeiterinnen. Deshalb lag – anders als in den meisten Industriezentren Westdeutschlands – sowohl der Anteil der Frauen an den türkischen Arbeitskräften als auch an der türkischen Gesamtbevölkerung der Stadt bereits zu Beginn der siebziger Jahre bei 40%. Dies hatte zur Folge, daß es bereits früh türkische Ehepaare gab, die eigene Wohnungen suchten. Zu dieser Zeit war das in bestimmten Bezirken – darunter vor allem in Kreuzberg – relativ einfach, da deren Bevölkerung enorm abgenommen hatte. Qualifizierte Bevölkerungsgruppen waren seit dem Krieg und vor allem nach dem Mauerbau nach Westdeutschland abgewandert. So sank z.B. die Bevölkerungszahl Kreuzbergs zwischen 1956 und 1973 von 204.000 auf 167.000. Ohne die ausländischen Bewohner wären es sogar nur noch 134.000 gewesen.

Ein großer Teil der verbliebenen Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterbevölkerung lebte in den sechziger Jahren noch in den gründerzeitlichen Altbauvierteln, die sich am Rande des alten Stadtzentrums entlang der Grenze

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zu Ost-Berlin konzentrierten. Eine sehr dichte Bebauung war und ist oft heute noch typisch für diese Viertel. Viele Hinterhofwohnungen bestanden nur aus einem oder zwei Zimmern und besaßen weder Toilette noch Bad und Zentralheizung.

Um das Ausbluten Westberlins zu verhindern, plante man, die Infrastruktur der Stadt, insbesondere im Wohnungsbereich, zu verbessern. Man wollte diese Viertel blockweise abreißen und neu bebauen. Außerdem sollten breite Schneisen für Schnellstraßen geschlagen werden. Am Ende der sechziger Jahre begann man diese Planung umzusetzen. Gleichzeitig errichtete man in verschiedenen Außenbezirken riesige Neubauviertel, in die vor allem die Familien mit Kindern zogen. Vor dem Hintergrund der geplanten Kahlschlagsanierung standen am Ende der sechziger bzw. zu Beginn der siebziger Jahre viele der schlechtesten Wohnungen der Altbauviertel bereits leer, da sie kaum noch bewohnbar waren. Jeder, der nur ein bißchen flexibel war, verließ diese Sanierungsgebiete. In dieser Situation traf sich das Profitinteresse der städtischen Wohnungsbaugesellschaften als Sanierungsträger und der privaten Hauseigentümer mit dem Wohnraumbedarf der neu eingewanderten türkischen Familien. Hausbesitzer bekamen bis zum geplanten Abriß der Häuser unerwartete Rest-Verwertungsmöglichkeiten, indem sie an türkische Arbeiterfamilien vermieteten, die in gutbürgerlichen Vierteln kaum eine Chance auf eine Wohnung hatten. Trotz bestehender Mietpreisbindung und sonstiger gesetzlicher Regelungen zahlten die unwissenden Einwanderer hohe und höchste Mieten für schlechteste Wohnungen.

Zwischen 1967 und 1973 führten die Kahlschlagsanierung und das systematische Verwahrlosenlassen von Altbauten zur Konzentration der türkischen Bevölkerung in den Sanierungsgebieten der Bezirke Kreuzberg, Tiergarten und Wedding. Wie eine Bugwelle wurde sie durch die abzureißenden Wohnblöcke geschoben. Als 1975 dem Berliner Senat dämmerte, daß seine verfehlte Sanierungspolitik unerwünschte Wirkungen gezeitigt hatte, änderte er nicht etwa seine Sanierungspolitik, sondern er verhängte eine Zuzugssperre über diese drei Bezirke. In der Folge zeigte sich das gleiche Phänomen – allerdings in geringerem Ausmaß – auch in den Sanierungsgebieten von Schöneberg, Neukölln, Charlottenburg und Spandau, deren ausländische und türkische Bevölkerung nun ebenfalls sprunghaft zunahm.

[Seite der Druckausgabe: 85]

Tabelle 1: Die Bevölkerung in Berlin-Kreuzberg


Jahr (jeweils 31.12.)

1956

1966

1973

1982

1989

1996

Gesamtbevölkerung (total)

203700

176000

166897

140917

151541

153680

Deutsche Bevölkerung (total)



134059

100333

106225

101828

Ausländische Bevölkerung (total)



32778

40584

45316

51852

Ausländische Bevölkerung
(in % der Gesamtbevölkerung)



19,7

28,8

29,9

33,7

Anteil des Bezirks an allen Ausländern
in Berlin-West (%)



20,2

16,4

15,4

13,9

Anteil des Bezirks an allen Ausländern
in Berlin (%)





14,4

11,7

Türkische Bevölkerung (total)



20521

27210

29261

28639

Türkische Bevölkerung
(in % der Gesamtbevölkerung)



12,3

19,3

19,3

18,6

Anteil des Bezirks an allen Türken
in Berlin-West (%)



30,8

22,8

22,8

21,3


Quelle: Statistisches Landesamt Berlin


Trotz der Zuzugssperre, die in vielen Fällen einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhielt, stieg die Zahl der türkischen Bevölkerung in Kreuzberg bis Ende der achtziger Jahre weiter an. Interessanterweise ist sie erst nach der formalen Aufhebung der Zuzugssperre im Jahre 1990 gleichgeblieben bzw. etwas gesunken.

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2. Die besondere Bevölkerungsstruktur in Kreuzberg

Durchschnittszahlen geben wichtige Phänomene oft nicht richtig wieder. Je kleinteiliger man die Situation betrachtet, um so unterschiedlichere Konzentrationen der türkischen Bevölkerung werden sichtbar. In einem der größten Sanierungsgebiete, dem Gebiet Kottbusser Tor, [ Fn.1: Das Sanierungsgebiet Kottbusser Tor ist weitgehend identisch mit dem Statistischen Ge biet Mariannenplatz der Tabelle 2.] lag z.B. der Ausländeranteil 1991 bei durchschnittlich 56% (Kreuzberg: 31%). [ Fn.2: Vgl. Chatterjee/Zimmer-Zügel 1992, S. 18.] Er dürfte heute bei knapp

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Tabelle 2: Verteilung der Bevölkerung innerhalb Kreuzbergs (1996)


Statistische Gebiete

Mehringplatz

Moritzplatz

Mariannenplatz

Wiener Straße


Urban

Viktoriapark

Kreuzberg (Gesamt)

Bevölkerung gesamt

19276

18597

23049

28479

46697

17023

153121

Deutsche

13631

13474

12133

17047

32761

12223

101269

Ausländer

5654

5123

10916

11432

13936

4800

51861

Ausländeranteil

29,3

27,5

47,4

40,1

29,8

28,2

33,87

Bevölkerung 0–6 Jahre

1539

1352

1857

2310

3279

1072

11409

Deutsche

959

791

796

1229

2097

705

6577

Ausländer

580

561

1061

1081

1182

367

4832

Ausländeranteil

37,7

41,5

57,1

46,8

36

34,2

42,4

Bevölkerung 7–18 Jahre

3035

2519

3509

4016

5299

1956

20334

Deutsche

2166

1594

1381

1913

3169

1267

11490

Ausländer

869

925

2128

2103

2130

689

8844

Ausländeranteil

29,5

36,7

60,4

52,4

40,2

35,2

43,5

Bevölkerung 19–30 Jahre

3359

3034

4493

5416

8188

3084

27574

Deutsche

1900

1817

1978

2704

4927

1855

15181

Ausländer

1459

1217

2515

2712

3261

1229

12393

Ausländeranteil

43,4

40,1

56

50,1

39,8

39,9

44,9

Bevölkerung 31–50 Jahre

6938

5695

8436

11351

19942

7153

59515

Deutsche

4906

4082

5210

7789

14950

5368

42305

Ausländer

2032

1613

3226

3562

4992

1785

17210

Ausländeranteil

29,3

28,3

38,2

31,4

25

25

28,9

Bevölkerung 51–65 Jahre

2683

3153

3326

3721

6247

2341

21471

Deutsche

2147

2476

1602

2006

4258

1730

14219

Ausländer

536

677

1724

1715

1989

611

7252

Ausländeranteil

20

21,5

51,8

46,1

31,8

26,1

33,8

Bevölkerung >65 Jahre

1722

2844

1428

1665

3742

1453

12854

Deutsche

1553

2714

1166

1406

3360

1334

11533

Ausländer

169

130

262

259

382

119

1321

Ausländeranteil

9,8

4,6

18,3

15,6

10,2

8,2

10,3


Quellen: Statistisches Landesamt (Hrsg.): Melderechtlich registrierte Einwohner …, a.a.O.; Statistisches Landesamt (Hrsg.): Melderechtlich registrierte Ausländer …, a.a.O.


60% liegen. Dort, aber auch außerhalb der eigentlichen Sanierungsgebiete stellt man fest, daß von zwei Nachbargebäuden mit gleicher Wohnungsan

[Seite der Druckausgabe: 87]

zahl das eine von 23 deutschen Haushalten mit 45 Personen und von drei ausländischen Haushalten mit zehn Personen bewohnt wird, während im anderen Gebäude vier deutsche Haushalte mit vier Personen und 22 türkische Haushalte mit 65 Personen wohnen oder daß ähnliche Korrelationen zwischen der Bewohnerschaft von Vorder- und Hinterhaus eines Grundstückes bestehen. [ Fn.3: Vergleiche die Häuser A und C der Tabelle 3.]

Tabelle 3: Die Bewohner verschiedener Sanierungshäuser in Berlin-Kreuzberg (1994–1998)



Gesamt

Deutsch

Türkisch

Sonst. Ausländisch

Häuser

HH

Pers.

Kinder

HH

Pers.

Kinder

HH

Pers.

Kinder

HH

Pers.

Kinder

A

26

32

9

23

45

4

2

9

5

1

1

0

B

26

61

19

13

28

1

10

25

16

3

8

2

C

26

69

25

4

4

0

22

65

25

0

0

0

D

29

99

47

1

2

0

28

97

47

0

0

0

E

26

72

31

17

25

3

9

47

28

0

0

0

F

12

36

15

1

2

0

11

34

15

0

0

0

G

32

72

19

15

20

1

13

44

18

4

8

1

H

21

47

8

20

45

8

1

2

0

0

0

0

Summe

198

488

173

94

171

17

96

323

154

8

17

3


Quelle: Eigene Berechnung aus Mieterberatungsunterlagen


Solche Verhältnisse, die in den Statistiken normalerweise untergehen, haben nichts mit einem Ballungs- oder Ghettoisierungswunsch der türkischen Bewohner zu tun, sondern mit der Vermietungspolitik konkret benennbarer Privateigentümer, Hausverwaltungen und Wohnungsbaugesellschaften.

Das zweite Phänomen besteht darin, daß in den deutschen Haushalten solcher Gebiete bereits seit den siebziger Jahren Kinder eine Rarität sind, während die türkischen Haushalte im Durchschnitt etwa zwei Kinder haben, also ein „normales" Reproduktionsniveau aufweisen. [ Fn.4: Nehme ich die Beispielhäuser der Tabelle 3, so komme ich auf 1,6 Kinder. Chatterjee/ Zimmer-Zügel 1992, S. 18 schreiben dazu: „Im Gebiet leben 15.775 Menschen in insgesamt 6.080 Haushalten. In zwei Dritteln aller Haushalte leben 6.970 Deutsche, in einem Drittel aller Haushalte dagegen 8.805 Ausländer, überwiegend Türken. Die durchschnittliche Haushaltsgröße betrug 1987 2,6 Personen, bei den Deutschen jedoch 1,7 Personen. Die ausländischen Haushalte sind dagegen mit 4,3 Personen je Haushalt mehr als doppelt so groß."]

[Seite der Druckausgabe: 88]

Dies zwingt dazu, auch einen genaueren Blick auf die Struktur der deutschen Kreuzberger zu werfen: Bei den deutschen Haushalten handelt es sich einmal um die zurückgebliebenen Reste der ursprünglichen Arbeiter- und kleinbürgerlichen Bevölkerung, darunter viele Alte, Sozialhilfeempfänger, Alkoholiker, alleinerziehende Mütter und nur wenige Artikulationsfähige oder gar Engagierte. Oder es handelt sich um Angehörige sehr mobiler neuer sozialer Gruppen, wie Studenten, Künstler, arbeitslose und arbeitende Akademiker, Yuppies usw. Ab Anfang der siebziger Jahre hatten nämlich mehr und mehr Flüchtlinge vor Bundeswehr und westdeutschem Provinzmief die spartanischen, aber billigen, von Zimmerwirtinnen unkontrollierten und exotischen Kreuzberger Wohnverhältnisse entdeckt. Es entwickelten sich die Anfänge der Kreuzberger Alternativszene, die im Zusammenwirken mit einigen Alteingesessenen ab 1980 durch Hausbesetzungen und Häuserkämpfe die Kahlschlagsanierung stoppte und mit ihren Mieterräten und Stadtteilinitiativen die Grundlage für die sogenannte behutsame Stadterneuerung legte.

Die wesentlichen, idealtypischen Akteure der heutigen Kreuzberger Szene zeigten sich also bereits damals:

  • die sehr mobilen metropolitanen deutschen Individualisten, bei denen es u.a. angesichts der im Laufe eines Lebens mehrfach bis häufig wechselnden Partnerschaften und angesichts vorrangiger Orientierung auf individuelle Erfüllung kaum noch zur Kindererzeugung und -aufzucht kommt;
  • die deutschen „Restarbeiter(innen)" mit „Restfamilie" und viel Wut im Bauch, die mit Alkohol oder anderen Drogen betäubt wird;
  • und die blindlings in diese metropolitane Umgebung gelangte Bauernfamilie – meist türkischer oder kurdischer Herkunft –, die vielleicht noch zwei oder drei Generationen lang bäuerlich geprägten Umgangsformen mit einem konventionellen Familienideal nachhängen wird.

[Seite der Druckausgabe: 89]

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3. „Behutsame Stadterneuerung" und Seßhaftwerdung

Die wichtigsten Prinzipien der behutsamen Stadterneuerung waren, daß jede Stadterneuerung sich um die Bedürfnisse der gegenwärtigen Bevölkerung kümmern muß, daß diese Bevölkerung in den Planungsprozeß einbezogen werden muß und daß der konkrete Erneuerungsprozeß auf breitem Einvernehmen von Bewohnern, Planern und Eigentümern beruhen muß.

Selbstverständlich bestand auch hier eine Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Die Koalition weniger alter Kreuzberger mit der meist akademisch gebildeten, aus Westdeutschland stammenden Alternativszene und deren Sympathisanten in Politik und Verwaltung war das dominierende Element in diesem Prozeß. Man agierte eher für die als mit der türkischen Bevölkerung. Gleichwohl hat die überwiegend aus bäuerlichen Schichten stammende, durch ihre eigenen Politgruppen bis dahin nur wenig unterstützte und somit in den achtziger Jahren noch weitgehend hilflose türkische Bevölkerung Kreuzbergs durch die behutsame Stadterneuerung enorm profitiert. Denn nicht nur die schulische und sonstige Infrastruktur wurde speziell für ihre Bedürfnisse ausgebaut, es wurden jede Menge Beratungsläden, Schülerläden usw. eingerichtet, in denen mehr und mehr türkische Mitarbeiter arbeiteten und – das soll nicht verschwiegen werden – jede Menge Konflikte mit ihren deutschen Kollegen austrugen.

Vor allem, was ihre konkrete Wohnsituation betraf, tat sich sehr viel. In Einzelgesprächen auf türkisch und in simultan übersetzten Mieter- und Stadtteilversammlungen konnten viele türkische Mieter erstmals ihre Bedürfnisse hinsichtlich des Wohnens nicht nur artikulieren, sondern auch erreichen, daß menschenwürdige Wohnungen für sie bereitgestellt oder umgebaut wurden. Schätzungsweise ein Drittel der heutigen türkischen Bevölkerung Kreuzbergs konnte im Zuge der behutsamen Stadterneuerung ihre Wohnsituation entscheidend verbessern.

Im Laufe der geschilderten Entwicklungen ist die türkische Bevölkerung das seßhafteste Element Kreuzbergs geworden und hat sich – was von deutscher Seite meist übersehen wird – während dieses Prozesses auch intern ausdifferenziert. Als einzige Gruppe in Kreuzberg mit normaler demographischer Struktur versucht sie, für ihre erwachsenen Kinder Wohnungen in der Nachbarschaft zu bekommen, sobald dort Wohnungen frei werden. Sie stellt nicht nur in vielen Schulen inzwischen die Majorität, sie hat auch die Tendenz, immer größere Bereiche der lokalen Infrastruktur zu besetzen.

[Seite der Druckausgabe: 90]

Solange es eine demographisch intakte deutsche Arbeiterbevölkerung in Kreuzberg gab, also in den ersten 40 Jahren dieses Jahrhunderts, hat sich niemand darüber aufgeregt. Parteien wie die SPD bezogen aus ihrer Verankerung in so strukturierten Arbeitervierteln ihre eigentliche Kraft. Heute, da die Kreuzberger Unterschicht weitgehend eine nichtdeutsche Unterschicht ist, wird weniger die Lage der Unterschicht problematisiert als vielmehr die Tatsache der nichtdeutschen Ethnie.

Für jemanden, der noch die verödeten und kaputten Straßenzüge dieser Gebiete zu Beginn der siebziger Jahre kennt, ist es faszinierend zu verfolgen, wie im Laufe der späten siebziger und der achtziger Jahre gerade durch die vielen türkischen Lebensmittelläden, Kaffeehäuser, Reisebüros, Fahrschulen usw. die düsteren Straßenzüge wiederbelebt wurden und wie dadurch diese Gebiete auch für deutsche Bevölkerungsgruppen eine neue Attraktivität bekamen. Gerade jüngere intellektuelle Schichten fühlten sich durch das exotische Flair angezogen. Mit ihnen kamen aber nicht nur Dienstleistungsgewerbe wie Architekten, Sozialberater, Anwälte, Verlagsbüros usw., sondern es kamen auch Gruppen – etwas vereinfachend, aber doch treffend „schwäbische Landjugend" genannt –, die wenig bis nichts von der Vergangenheit Kreuzbergs wußten, sich aber nun anmaßten, dem Rest der Bevölkerung zu zeigen, wo es langzugehen hatte. Mit ihren ritualisierten 1. Mai-Krawallen, ihren Besetzungen der falschen, weil bereits für bestimmte türkische oder deutsche Mieter vorgesehenen Häuser und Wohnungen und mit ihren Anschlägen und Überfällen auf Mieterberatungsbüros und angebliche Yuppie-Restaurants und -Geschäfte haben sie in den beiden Jahren vor dem Mauerfall massive physische Gewalt in den Bezirk getragen und damit ein bisheriges Tabu verletzt.

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4. Der Mauerfall und seine negativen Auswirkungen

Alles in allem war die Lage der türkischen Bevölkerung Kreuzberg und ganz West-Berlins vor dem Herbst 1989 zwar immer noch durch vielerlei Probleme und Diskriminierungen gekennzeichnet, doch wurde die Notwendigkeit ihrer politischen, rechtlichen und sozialen Gleichstellung in dieser oder jener Form nur noch vom rechten politischen Spektrum bestritten. In vielen Fragen schien ein Durchbruch nahe. Im Alltag ihrer Wohngebiete und ihrer Arbeitsplätze war sie weitgehend integriert und es hatten sich vielerlei normale Alltagsbeziehungen zwischen Türken und Deutschen entwickelt. Die

[Seite der Druckausgabe: 91]

Maueröffnung hat aber für die türkische Bevölkerung West-Berlins eher negative als positive Auswirkungen gehabt: Da ist zum einen der in Ost-Berlin und in Brandenburg viel stärkere Rassismus, der als diffuses Gefühl der Bedrohung bis nach Kreuzberg ausstrahlt. Mit der Maueröffnung war auch plötzlich das Thema ‘Migranten’ in allen Lagern der Berliner Politik nebensächlich geworden. Die von einem breiten Bündnis türkischer Gruppen getragene Demonstration gegen das neue Ausländergesetz im März 1990 wurde zwar die bisher größte ihrer Art in Berlin, doch nahmen kaum Deutsche daran teil und in der Presse wurde sie weitgehend totgeschwiegen. Ähnlich verhielt es sich mit der Kampagne zum kommunalen Ausländerwahlrecht. Zwar wurde das entsprechende Gesetz noch im Laufe des Jahres 1990 vom West-Berliner Parlament verabschiedet, doch gab es kaum eine öffentliche Reaktion, als das Bundesverfassungsgericht dieses Wahlrecht im November 1990 wieder aufhob.

Neben den politischen Entwicklungen gab und gibt es diejenigen, die unmittelbar die ökonomischen und sonstigen Lebensgrundlagen der türkischen Bevölkerung bedrohen. Zusätzlich zur negativen bundesdeutschen Arbeitsmarktentwicklung hat in West-Berlin der Abbau der Berlinförderung gerade zum Wegfall derjenigen unqualifizierten Arbeitsplätze geführt, die von den türkischen Arbeitnehmern besetzt waren. Auch viele Kreuzberger Industriebetriebe machten dicht oder sie wanderten ins Brandenburger Umland aus, wo sie auf größeren Flächen, mit besserem Verkehrsanschluß und mit Brandenburger Arbeitskräften arbeiten. So ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Türken in Berlin von 49.000 im Jahre 1990 auf 32.000 im Jahr 1997 zurückgegangen. Die Ausländer-Arbeitslosenquote in Berlin betrug im November 1997 32,7% (zum Vergleich Berliner Arbeitslosenquote: 17,6). [ Fn.5: Vgl. Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit Nr. 1/1998, S. 55 und 81.] Von den 52.000 Ausländern in Kreuzberg (vom Säugling bis zum Rentner) waren 1996 6.200 arbeitslos. Die Gesamt-Arbeitslosenquote Kreuzbergs betrug im April 1998 31,4% [ Fn.6: Vgl. Neue Jobs für Berlins Mitte finden – nur wie?, in: Der Tagesspiegel vom 27.5.1998.] und war damit die höchste Berlins. Leider gibt es keine Zahlen für die türkische Bevölkerung Kreuzbergs. Wenn es sie gäbe, sähen sie sicherlich noch deprimierender aus.

Die enorm hohe Arbeitslosigkeit, die vor allem eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit ist, die große Zahl der Sozialhilfeempfänger, die seit jeher große Zahl von deutschen Sozialfällen und die steigende Zahl der Sozialfälle in der

[Seite der Druckausgabe: 92]

türkischen Bevölkerung, die massiven Generationenkonflikte – auch wegen Geldmangels – unter der türkischen Bevölkerung, all dies und vieles mehr führt natürlich auch in Kreuzberg zu wachsender, öffentlich sichtbar werdender Aggressivität und Gewalt. Bei allem ist es jedoch erstaunlich, daß es bisher in Kreuzberg im Vergleich zu sozialen Brennpunkten im Nachbarbezirk Neukölln, in Wedding oder in den Plattenbausiedlungen Ost-Berlins vergleichsweise zivil zugeht.

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5. Was müßte getan werden?

Da gibt es zum einen die allgemeinen Dinge, die schon tausendmal gesagt und geschrieben wurden, wie Einbürgerung und doppelte Staatsangehörigkeit: Die Beteiligten müssen zumindest juristisch gleich sein. Zu diesen allgemeinen Dingen gehört auch eine Bildungs- und Ausbildungsoffensive, die imstande ist, alle Kinder ungeachtet ihrer familiären Situation und ethnischen Herkunft am Ende ihrer Schulpflicht auf einen gleich hohen Bildungsstand mit guten Deutschkenntnissen zu heben. Wenn die Schulen dies leisten könnten, dann würde ein wesentlicher Grund für bessergestellte Türken und Deutsche mit Kindern wegfallen, Gebiete wie Kreuzberg zu verlassen.

Weiterhin muß man eine übertriebene Angst vor möglicher Gentrifizierung [ Fn.7: Dangschat 1997, S. 625 definiert „Gentrifizierung" bzw. „Gentrification" als „einerseits die ökonomische Aufwertung des innerstädtischen Wohnungsbestandes durch sog. Luxus modernisierung und Umwandlung der Miet - in Eigentumswohnungen sowie den Zuzug höherer sozialer Schichten, oft verbunden mit der Sukzession der Alteingesessenen und andererseits die sozio-kulturelle Umwertung durch ‘neue’ Haushaltsformen, nicht-bürger liche Lebensstile und Inhaber moderner Dienstleistungsberufe."] ablegen, eine Angst, die in Kreuzberg fast paranoiahafte Züge angenommen hatte. Bezirke wie Kreuzberg brauchen Kaufkraft, wenn sie nicht nur von Transferzahlungen wie Sozialhilfe und Arbeitslosengeld und -hilfe leben wollen. Woher, wenn nicht von Besserverdienenden und von der Neuansiedlung höherwertigen Gewerbes soll diese Kaufkraft kommen?

Es ist enorm wichtig, daß alle Beteiligten sich intensiv darum bemühen, den Alltag und seine Konflikte nicht zu ethnisieren. Das gilt im positiven wie im negativen Sinne. Es ist weder zulässig, „alle Türken als kriminell" oder „alle Deutschen als rassistisch" zu bezeichnen, noch etwa zu behaupten „ein Türke, der kriminell geworden ist, ist eigentlich gar nicht kriminell, sondern, da dauernd rassistisch unterdrückt, nur ein Opfer der Verhältnisse".

[Seite der Druckausgabe: 93]

Das dauernde Gerede von Entballung, von Senkung der Ausländerquote, von Zuzugssperren sollte aufhören. Wenn man sich die aktuellen Bevölkerungszahlen Kreuzbergs anschaut, dann weiß man, daß eine Reduzierung der Zahl türkeistämmiger Bewohner nur um den Preis von Pogromen zu haben wäre. Andersherum wird ein Schuh daraus: Das besondere eines Bezirks mit vielen türkeistämmigen Bewohnern muß herausgestellt, den Bewohnern und der Außenwelt muß vermittelt werden, „dort ist was besonderes, dort lohnt es sich hinzufahren oder zu investieren".

Alles in allem: Jede positive Veränderung kann nur zusammen mit den Betroffenen, nicht gegen sie erfolgreich sein.

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Literatur

Chatterjee, Gudrun, Veronika Zimmer-Zügel (1992): Abschlußbericht der Sanierung Kreuzberg Kottbusser Tor P III, P VIII, P IX, PXI, Berlin.

Dangschat, Jens (1997): Sag’ mir, wo Du wohnst, und ich sag’ Dir, wer Du bist! Zum aktuellen Stand der deutschen Segregationsforschung, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 109, 27. Jg., Nr. 4, S. 619–647.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei/Planungsleitstelle (Hrsg.) (1980): Wohnraumversorgung von Ausländern und Entballung überlasteter Gebiete durch städtebauliche Maßnahmen, Berlin.

Gude, Sigmar (1986): Soziale Lage der Mieter in SO 36. Eine repräsentative Erhebung der Wohn- und Lebensverhältnisse der Mieter in SO 36, Berlin.

Kleff, Hans-Günter (1991): Wohnungsmarkt und Koloniebildung. Anmerkungen zur Entstehung, Verfestigung und gegenseitigen Abgrenzung ethnischer und sozialer Subkulturen in Berlin-Kreuzberg, in: Ingrid Haller, Klaus Geiger (Hrsg.), Ethnische Minderheiten in Industriegesellschaften, Kassel, S. 100–113.

Paffhausen, Jürgen (1997): Die Bevölkerung Berlins 1946 und 1996, in: Berliner Statistik 1/1997, S. 3–9.

Verein SO 36 (Hrsg.) (1989): … außer man tut es! Berlin.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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