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Karl-August Schwarthans: Ein Stadtteil im Wandel – Konsequenzen für einen Wohlfahrtsverband

Weder „Ghetto" noch „Kolonie" halte ich für die richtigen Begriffe zur Beschreibung der realen Situation. Großstädte in den alten Bundesländern verändern kontinuierlich ihre Bevölkerungsstruktur. In zehn Jahren wird jeder dritte Duisburger nichtdeutscher Abstammung sein. Da die Migranten eine sehr jugendliche Bevölkerungsgruppe darstellen (40% der zugewanderten Bevölkerungsgruppe ist unter 30 Jahre alt), wird durch sie das Bild und das Leben von Kommunen und Stadtteilen künftig sehr stark geprägt sein. Jeder dritte Duisburger ein Zuwanderer nichtdeutscher Abstammung – dies stellt eine durchschnittliche Entwicklung dar und bezieht sich auf das gesamte Stadtgebiet. Dieser Wandel wird in einigen Stadtteilen schneller, heftiger und auch konfliktträchtiger verlaufen. Marxloh verfügt über einen besonders hohen Anteil von Zuwanderern. Dies wird besonders sichtbar bei der jungen Bevölkerung. Hier beträgt der Anteil von jungen Menschen bis 21 Jahre nichtdeutscher Abstammung bereits jetzt schon ca. 50%. Nicht „Ghetto" oder „Kolonie" kann die richtige Beschreibung sein, sondern „Wandel in der Bevölkerungsstruktur". Der Stadtteil Hamborn wird sich nicht mehr in eine niederrheinische, bäuerliche Kulturlandschaft – die er vor 150 Jahren war – zurückentwickeln lassen. Sozialer Wandel muß positiv gestaltet werden; er wird aber nicht konfliktfrei verlaufen.

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ist seit über 50 Jahren in Duisburg-Marxloh als Wohlfahrtsverband präsent und tätig. Seit nahezu 30 Jahren befaßt sie sich in diesem Stadtteil auch mit Migrationssozialarbeit. Natürlich erlebte dieses Tätigkeitsfeld aufgrund der sich veränderten Rahmenbedingungen einen Wandel: vom ursprünglich begrenzt und abgegrenzt tätigen Spezialdienst, der oft parallel zu anderen Arbeitsbereichen sich um die Belange der nichtdeutschen Arbeitnehmer in Deutschland kümmerte, zur interkulturell geöffneten Regelangeboten. Im Mittelpunkt dieser Veränderungen standen bisher vor allem der Jugendhilfebereich. Die hier angesiedelten Angebote – Erziehungshilfe, Jugendgerichtshilfe, Tagesgruppe, Sozialpädagogische Familienhilfe – sind so konzipiert, daß qualitativ hochwertige erzieherische

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Hilfen für deutsche als auch für nichtdeutsche Eltern und ihre Kinder von einem multi-ethnischen Team erbracht werden können. In der Normalität des Betreuungsalltags werden deutsche Eltern und ihre Kinder auch von türkischen Sozialpädagogen und Erziehern beraten und begleitet. Dies geschieht natürlich auch umgekehrt. Multi-ethnische Teams stellen die Voraussetzung für einen gelebten und praktizierten internen interkulturellen Dialog dar. Notwendig sind selbstverständlich auch flankierende Fortbildungen.

Die Einstellung von nichtdeutschem sozialpädagogischem Fachpersonal garantiert aber noch nicht die interkulturelle Öffnung des erzieherischen Angebotes. Es müssen auch inhaltliche und äußere Zugangsbarrieren abgebaut werden, die erst eine Akzeptanz des Angebotes bei der nichtdeutschen Bevölkerung ermöglichen. In den Herkunftsländern sind sozialpädagogische Hilfsangebote traditionell unbekannt und nicht vorhanden. Es gibt gegen sie unterschiedliche Bedenken, u.a. auch aufgrund von Informationsdefiziten oder der Hemmung, innerfamiliäre Probleme Dritten offenzulegen. Aufgrund des hohen Anteils von Kindern und Jugendlichen innerhalb der nichtdeutschen Bevölkerung besteht die zwingende Notwendigkeit, diesen Eltern möglichst frühzeitig erzieherische Hilfen zugänglich zu machen und anzubieten. Noch sind sie in ihrer Teilhabe an diesen Hilfsangeboten vollkommen unterrepräsentiert.

Die interkulturelle Öffnung sozialer Regeldienste stellt die Voraussetzung für eine Teilhabe der Migranten an sozialen Leistungen dar. Sie muß von der jeweiligen Geschäftsleitung eines Wohlfahrtsverbandes gewollt sein und von den Mitarbeitern mitgetragen werden. Interkulturelle Öffnung ist keine individuelle träger- und stadtteilbezogene Aufgabe, sondern muß als Anerkennung eines Wandlungsprozesses innerhalb der Bevölkerung betrachtet werden. Migrationssozialarbeit ist eine Querschnittsaufgabe, die nahezu alle sozialen und kommunalen Dienstleistungen betrifft. Zuwanderer sind nicht von ihrer Natur aus hilfsbedürftiger als andere Bevölkerungsgruppen. Daraus ergibt sich aber die logische Folge, daß sie entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil von sozialen Hilfsangeboten partizipieren müßten. Überall, wo dies nicht geschieht, besteht Handlungsbedarf.

Interkulturell geöffnete Regeldienste ersetzen nicht den Beratungsbedarf, der im Bereich der ausländerspezifischen Lebenslagen besteht, die sich aus strukturellen Benachteiligungen (Aufenthaltsrecht, Sprach-, Orientierungs- und Identitätsprobleme) ergeben. Die Sozialdienste für Migranten nehmen

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hier weiterhin eine sehr wichtige Funktion, und zwar nicht nur für die erste Generation wahr. Wir sind immer noch Hauptansprechpartner für Migranten in Duisburg. Möglichkeiten, Ratsuchende an interkulturell kompetente Regeldienste zu vermitteln, sind sehr eingeschränkt.

Zwei wichtige Arbeitsbereiche, die Frauen- und Seniorenarbeit, werden im Stadtteil Marxloh im wesentlichen vom Sozialdienst für Migranten getragen. Der Umfang der hier stattfindenden Aktivitäten wäre aber nicht ohne die enormen Selbsthilfepotentiale der Frauen als auch der Senioren denkbar.

Der Frauentreff in Marxloh auf der Friedrich-Engels-Straße erreicht jährlich eine große Zahl Frauen. Er ist Treffpunkt, Bildungs- und Freizeitstätte für Migrantinnen im Stadtteil und in der Region. Es finden kreative Freizeit-, Bildungsangebote sowie Sprachkurse, natürlich mit Kinderbetreuung, statt. Kurse zur Verbesserung der erzieherischen Kompetenz und Informationsveranstaltungen für soziale und erzieherische Hilfsangebote sowie geschlechtsspezifische Fragestellungen werden vor allem von jungen Frauen rege angenommen.

Scheidung und Trennung sind längst keine Tabuthemen mehr, aber auch kein selbstverständlicher Vorgang wie bei der deutschen Bevölkerung. 50% der von der AWO im Bereich der allgemeinen Erziehungshilfe betreuten Migrantenfamilien sind zwischenzeitlich unvollständig. Die Erziehungs- und Versorgungsleistungen werden selbstverständlich in der Regel von Frauen wahrgenommen. Auch hier ist ein gesellschaftlicher Wandel festzustellen.

Die Seniorenarbeit stellt ebenfalls eine Schwerpunkttätigkeit der Sozialdienste dar, wobei aufgrund der knappen personellen Ressourcen die Förderung und Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfepotentialen die Hauptaufgabe des verantwortlichen Sozialberaters darstellt. 1997 gründete sich die Senioreninitiativgruppe „IMECE", die in dieser Form seitens der Arbeiterwohlfahrt unterstützt wird. Der Seniorentreff stellt ein offenes Angebot in

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Pro Marxloh dar. Es ist ein nicht kommerziell genutzter Treffpunkt mit Freizeit-, Bildungs- und Informationsangeboten. Zwischenzeitlich zeichnet sich ab, daß ein Teil der alten Migranten zeitweise auch eine AWO-Altenbegegnungsstätte in Duisburg-Walsum frequentieren. Hierbei handelt es sich aber nicht um einen sozialpädagogisch angestrebten Integrationsversuch, sondern um einen selbständigen, nicht manipulierten Entscheidungsprozeß aller Beteiligten, der natürlich von der Arbeiterwohlfahrt gefördert und unterstützt wird.

Pro Marxloh, das AWO-Dienstleistungszentrum in zentraler Lage, verkehrstechnisch günstig gelegen, bietet allen Bürgern im Stadtteil und in der Region sehr unterschiedliche Dienstleistungen an. Hier ist neben der Einsatzleitung der Sozialpädagogischen Familienhilfe ein Großteil der Jugendgerichtshilfe und Erziehungshilfe der Arbeiterwohlfahrt, zuständig für den Duisburger Norden, anzutreffen. Hier gibt es Schuldner- und Sozialhilfeberatung, der Lions-Club Duisburg-Hamborn bietet in den Räumlichkeiten Altenberatung an, die Familienbildung der AWO ist mit diversen Kursen und Veranstaltungen vertreten, Parteien und Initiativen können sich hier treffen, Bürger Veranstaltungsräume anmieten, Informationsveranstaltungen zu verschiedenen sozialen und politischen Themen werden hier regelmäßig durchgeführt. Arbeitslosentreff und Seniorentreff sind ebenfalls zu finden. Pro Marxloh wird mit seinen unterschiedlichen Angeboten von der deutschen als auch von der nichtdeutschen Bevölkerung angenommen. Hier ist auch der Sitz des Projektes „Verstehen lernen", ein vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales gefördertes Kooperationsprojekt der Arbeiterwohlfahrt und der Stadt Duisburg zur Reduzierung der gesellschaftlichen Spannungen, die der Wunsch nach dem lautsprecherverstärkten Muezzin-Ruf in Duisburg auslöste, die überregional Aufmerksamkeit fanden. Gemeinsam mit den Vertretern der Moschee-Vereine und anderen gesellschaftlich relevanten Verbänden und Gruppen wurden diverse Handlungsempfehlungen entwickelt und umgesetzt. Die Arbeiterwohlfahrt hat die Muslime in Duisburg als drittgrößte Religionsgemeinschaft anerkannt und befindet sich im Dialog mit muslimischen Institutionen.

An einem dritten Standort in Duisburg-Marxloh, an der Hagedornstraße, erbringt die Arbeiterwohlfahrt Leistungen der Jugendberufshilfe. Auch hier gibt es interkulturelle Kompetenzen, wie muttersprachliche Begleitung und Förderung. Dies schließt aber nicht die gleichzeitige Qualifizierung von deutschen jungen Menschen aus.

Die Migrationssozialarbeit der AWO in Duisburg durchlebte einen organisatorischen Wandel. Diese Entwicklung ist nicht beendet. Dies bezieht auch die in-

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terkulturelle Öffnung mit ein. Auch hier gibt es für uns noch weiteren Handlungsbedarf. Es wurden Strukturen geschaffen, aus denen die Migrationsdienste gestärkt hervorgingen. Obwohl sich die Mitarbeiterschaft des Spezialdienstes „Sozialdienst für Migranten" in den neunziger Jahren um nahezu 50% reduzierte, beschäftigt die Arbeiterwohlfahrt aufgrund der interkulturellen Öffnung in anderen Regelbereichen heute doppelt soviel sozialpädagogische Fachkräfte als vor dem Tiedt-Gutachten, das allgemein bekannt sein dürfte. Die Bereitschaft, auf Veränderung und Wandel, auch auf gesellschaftlichen und sozialen, konstruktiv zu reagieren, ermöglichte dieses Ergebnis. Demographische Entwicklung politisch zur Kenntnis zu nehmen, Konsequenzen zur Partizipation zu ziehen, stellt weiterhin eine der wichtigsten Forderungen dar. Nicht populistisch auf abweichendes Verhalten reagieren, sondern die soziale und politische Teilhabe ermöglichen. Und dazu gehört vor allem auch die interkulturelle Öffnung von Regeldiensten.

Kooperation und Vernetzung, oft appellativ moralisch als soziales Allheilmittel von Trägern eingefordert, läßt sich nur verwirklichen, wo Gemeinsamkeiten existieren und die Kooperationspartner sich wechselseitig auch für attraktiv halten, um so auch die stets vorhandenen Schwierigkeiten zu bewältigen. Die vorhandenen Ressourcen der Arbeiterwohlfahrt in dem Stadtteil Marxloh sind längst nicht komplett ausgeschöpft. Die Kombination Frauentreff und Tagesgruppe ließe sich zu einer stadtteilorientierten Erziehungsagentur ausbauen. Ein Kooperationsmodell zwischen Jugendgerichtshilfe und Erziehungshilfe und der Polizei im Stadtteil gäbe die Möglichkeit, auf akute Entwicklungen der Kinder- und Jugendkriminalität schnell und frühzeitig zu reagieren. Zentraler Gedanke im Stadtteil muß aus unserer Sicht stets Teilhabe und Partizipation heißen. Leistungen der Jugendhilfe müssen leicht und einfach auch den Bevölkerungsteilen zugänglich gemacht werden, die nicht über das Selbstbewußtsein des sogenannten „mündigen Bürgers" verfügen, der seine Ansprüche selbständig einfordern und beantragen kann.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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