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TEILDOKUMENT:




Gerhard Leminsky:
Die Weiterentwicklung von Beteiligung und Mitbestimmung
[Fn 1: Ich verzichte in dieser Skizze weitgehend auf Literaturangaben und empirische Einzelheiten und verweise dabei auf Gerhard Leminsky, Bewährungsproben für ein Management des Wandels. Gewerkschaftliche Politik zwischen Globalisierungsfalle und Sozialstaatsabbau, edition Sigma, Berlin 1998, mit ausführlichen Hinweisen.]

Die Schlagworte, die in der Nachkriegszeit die Diskussion bestimmt haben, sind ebenso wie die ökonomische Entwicklung von politischen Konjunkturen bestimmt: Bis in die siebziger Jahre war die Mitbestimmung ein wichtiges Thema, in den achtziger Jahren ging es um Humanisierung und Rationalisierung, die Debatte der neunziger Jahre ist von Begriffen wie Wirtschaftsstandort, Globalisierung, Kostensenkung und Sozialstaatsabbau gekennzeichnet. Die damit verbundene Massenarbeitslosigkeit wird bisher eher als Begleiterscheinung zur Kenntnis genommen.

Mit der Mitbestimmung war bis Anfang der fünfziger Jahre eine Aufbruchstimmung in Wirtschaft und Gesellschaft verbunden. Arbeitnehmer, Betriebsräte, Gewerkschaften, Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten und Arbeitsdirektoren in den Vorständen waren, vor allem bei Kohle und Stahl, schon vor dem Entstehen der Bundesrepublik tätig geworden, hatten die zerstörten Betriebe wieder aufgebaut, waren zugleich Garanten einer demokratischen Entwicklung und eines verantwortlichen Einsatzes wirtschaftlicher Macht. Mitbestimmung sollte der erste Schritt zur Gleichberechtigung der Arbeitnehmer in Wirtschaft und Gesellschaft sein.

Was blieb, war 1951 die gesetzlich geregelte Montanmitbestimmung, schon damals nur mit einer Streikdrohung durchzusetzen, mit dem Kern einer paritätischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften in den Aufsichtsräten der Kohle- und Stahlunternehmen sowie mit Arbeitsdirektoren in den Vorständen dieser Unternehmen, die nicht gegen den Willen der Arbeitnehmer eingesetzt werden konnten. 1952 wurde dann gegen den Willen der Gewerkschaften das Betriebsverfassungsgesetz beschlossen, mit begrenzten Mitbestimmungsrechten vor allem bei sozialen Fragen sowie mit einer Ein-Drittel-Vertretung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten der großen Unternehmen außerhalb des Montanbereichs. Viel mehr als diese unvollkommenen Mitbestimmungsrechte konnten die Gewerkschaften, die treibenden Kräfte hinter dieser Gesellschaftsreform, nicht erreichen, weil sich die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland politisch durchgesetzt hatte.

Es ist durchaus nützlich, sich an diese Ausgangslage zu erinnern. Denn gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturveränderungen werden nur bei längerfristiger Betrachtung sichtbar und in ihren Ursachen erfaßbar. Heute gibt es in der sozialwissenschaftlichen und politischen Diskussion kaum noch eine Diskussion um die Zukunftsfähigkeit der Montanmitbestimmung, eher wird auf Unternehmensebene auf die nicht mit einer echten Parität verbundene Mitbestimmung '76 hingewiesen.

Darüber hinaus ist die ganze Unternehmensmitbestimmung hinter die Betriebsverfassung zurückgetreten, weil die Umbrüche in den Arbeitsformen und Produktionssystemen zuerst in den Betrieben sichtbar werden. Schließlich wird die Debatte und die Praxis dieser gesetzlich geregelten repräsentativen Mitbestimmung überlagert durch die unmittelbare und direkte Beteiligung der Beschäftigten in Arbeitsgruppen oder Entwicklung neuer Formen der Arbeitsorganisation, meist auf Veranlassung des Managements, um produktivitätssteigernde Wirkungen zu erzielen - teils in Verbindung mit der bisherigen institutionellen Mitbestimmung, teils aber auch an diesen Institutionen vorbei. Aus diesen Stichworten wird deutlich, daß sich im deutschen Mitbestimmungssystem bei längerfristiger Betrachtung dramatische Veränderungen vollzogen haben.

Doch nicht genug damit. Das Zentralthema bei der Diskussion um die Regelung von Arbeit und sozialen Beziehungen ist gegenwärtig gar nicht diese grundlegend veränderte Form der Einflußnahme von Betriebsräten und Aufsichtsräten mit der zusätzlichen völlig neuen Form der direkten Beteiligung; es ist vielmehr die Tarifautonomie und die Tarifpolitik in der Form von Flächentarifverträgen, deren gesellschaftspolitische Bedeutung in den vorhergehenden Jahrzehnten viel weniger sichtbar geworden war. Sie beherrscht jetzt mit den Stichworten "Verbetrieblichung" und "Beschäftigungsförderung" die Schlagzeilen, wobei es um Öffnungsklauseln im Sinne einer Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes und einer Differenzierung der Löhne geht, die jeweils entsprechend den spezifischen betrieblichen Bedürfnissen geregelt werden sollen. All das spielt sich vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit in großem Maßstab ab und wirkt auf Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung zurück.

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Mitbestimmung/Beteiligung und Tarifpolitik als Kernelemente der industriellen Beziehungen

Wenn wir von Mitbestimmung und Beteiligung sprechen, dann meinen wir damit das historisch gewachsene System der Einflußnahme der Arbeitnehmer vor allem in Betrieben, Verwaltungen und Unternehmen, wie es sich seit der Weimarer Zeit und nach dem Zweiten Weltkrieg meist in Form von Gesetzen (Montanmitbestimmung und Mitbestimmungsgesetz '76, Betriebsverfassungsgesetz und Personalvertretungsgesetze) im Rahmen der industriellen Beziehungen entwickelt hat. Aber die Mitbestimmung hat auch vielfältige Bezüge zur industriellen Selbstverwaltung in der beruflichen Bildung, in den Gremien der Bundesanstalt für Arbeit und der sozialen Sicherung, besonders der Berufsgenossenschaften, die in der Öffentlichkeit oft nur wenig wahrgenommen werden. Schließlich haben sich in den letzten Jahren zunehmend, vor allem auf Veranlassung der Unternehmen, Formen direkter und spontaner Beteiligung entwickelt. Sie geben den Beschäftigten einen begrenzten Einfluß auf die Gestaltung ihrer Arbeit, vor allem in Form von Arbeitsgruppen und dienen zugleich und vor allem der Steigerung der Produktivität. Während die traditionellen Formen der Mitbestimmung auf gesetzlichen, einheitlichen, institutionellen und repräsentativen Formen der Interessenvertretung beruhen, ist die direkte Beteiligung unterhalb solcher Regelungen angesiedelt, von außerordentlicher Vielfalt und in sehr unterschiedlicher Art und Weise mit der institutionellen Mitbestimmung verknüpft. Wir betrachten Mitbestimmung und Beteiligung als Teile eines Konzepts der Einflußnahme, bei differenzierter Betrachtung der einzelnen Aspekte muß man jedoch beide gesondert behandeln.

Nun kann man die Perspektiven dieser Mitbestimmung, obgleich schon in sich differenziert, nicht für sich allein verfolgen: Die Mitbestimmung bildet zusammen mit der Tarifautonomie/Tarifpolitik den Kern der industriellen Beziehungen in Deutschland. Man nennt dies deshalb auch ein dualistisches System und eines ist ohne das andere nicht vorstellbar, was aber erst in den letzten Jahren deutlich in das allgemeine Bewußtsein geraten ist.

Die Tarifpolitik regelt, meist über Flächentarifverträge, die konfliktuellen Verteilungsfragen (notfalls in Verbindung mit Streik und Aussperrung), die Betriebsräte können sich deshalb vor allem auf die kooperative Lösung der betriebsspezifischen Fragen mit dem Arbeitgeber konzentrieren. Im Gegenzug sind die Gewerkschaften von der Intervention in die betrieblichen Strukturen entlastet, aber sie bleiben verantwortlich für den solidarischen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen. Die Kernelemente des Systems der industriellen Beziehungen lassen sich deshalb mit Einheitsgewerkschaft, Tarifautonomie und Mitbestimmung beschreiben - eingebettet in übergreifende Beschäftigungsstrukturen mit qualifizierten Facharbeitern und einen sozialstaatlichen Zusammenhang mit Schutz vor Krankheit und Unfall sowie sozialer Sicherheit. Diese Konfiguration wurde oft als deutsches Modell bezeichnet, das eine hohe Qualifikation, hohe Einkommen, sozialen Frieden und eine außerordentliche Produktivität miteinander verknüpft hat.

Diese hier etwas schematisch wiedergegebenen Beziehungen, die sich im übrigen in langen Jahrzehnten entwickelt haben, beruhten auf Voraussetzungen, die vor allem seit den achtziger Jahren ins Wanken gekommen sind: weitgehende Vollbeschäftigung einerseits und ein stabiler Sozialstaat andererseits, sozialverträgliche Lösungen des Strukturwandels, einheitliche Strukturen der Arbeitnehmerinteressen und der Betriebe/Unternehmen, Akzeptanz von Flächentarifverträgen (und einem damit verbundenen System von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden), nationale Steuerung der Wirtschafts- und Sozialpolitik, um einige wichtige Punkte zu nennen. Die umbruchartige Gesamtentwicklung, angetrieben von Globalisierung und internationalem Wettbewerb, ist gewissermaßen den institutionellen und politischen Steuerungsmöglichkeiten davongelaufen, der Anspruch auf politische Gestaltung teilweise aufgegeben worden, zumal bei der in den letzten Jahren vorherrschenden neoklassischen Sicht innerhalb der konservativ-liberalen Koalition, wonach der Markt die Probleme regele, wenn die Löhne nur niedrig genug wären und der Arbeitsmarkt "dereguliert" würde.

Wenn man bei diesem massiven wirtschaftlichen und sozialen Wandel, der wiederum umbruchartig Mitbestimmung und Beteiligung, Tarifpolitik und Gewerkschaften beeinflußt hat, nach Orientierungen sucht, dann liegt es nahe, auf langfristige Perspektiven zu setzen und die treibenden Kräfte in den Blick zu nehmen. Es macht wenig Sinn, nur die überkommenen Institutionen der Mitbestimmung (und der Tarifpolitik) zu untersuchen und nach Möglichkeiten ihrer Sicherung zu forschen. Denn die institutionellen Regelungen sind selbst das Ergebnis von Strukturen, die sich, wie die obigen Stichworte zeigen, tiefgreifend verändert haben. Offensichtlich kann man mit den alten Regulierungsformen die neuen Wirklichkeiten nicht mehr fassen. Wenn wir uns heute mit der Weiterentwicklung von Mitbestimmung beschäftigen, dann müssen wir uns deshalb fragen, wie wir auf die ursprünglich damit verbundenen Ziele von Gleichberechtigung, persönlicher Entfaltung und wirtschaftlicher Mitgestaltung eine zeitgemäße Antwort finden können. Zumindest sollten wir dabei die Bedingungen lokalisieren, die bei diesem "Suchprozeß" zu beachten sind, der nun langsam in Gang kommt und der durch das schwierige deutsch-deutsche Zusammenwachsen und die Probleme der Europäischen Union an Bedeutung gewinnt, aber auch an Komplexität zunimmt.

Da man in einer Welt des Umbruchs die Einzelheiten nur aus dem Zusammenhang sinnvoll erklären und damit auch Anhaltspunkte für ihre Gestaltung gewinnen kann, müssen wir uns den Rahmenbedingungen und Triebkräften zuwenden, die die bisherige Entwicklung bestimmt haben, bevor Folgerungen für Mitbestimmung und Beteiligung gezogen werden können. Vorschläge für Handlungsorientierungen müssen schon im Ansatz die Frage der Machbarkeit und der Umsetzbarkeit im Blick haben - und das bedeutet, daß sie auf die konkreten Probleme bezogen sein müssen, die die Menschen heute bewegen (was wir als das Gegenteil von taktischem Verhalten und opportunistischer Anpassung verstehen). Denn nur aus der Unterstützung der Betroffenen kann Aktivierung und Mobilisierung wachsen.

In diesem Beitrag soll jedoch als Ausgangspunkt vorab untersucht werden, welchen grundsätzlichen Stellenwert die Einflußnahme der Arbeitnehmer selbst, ihrer Interessenvertretungen und Gewerkschaften auf die Bedingungen, die ihre Arbeit und Existenz betreffen, für ein sozialdemokratisches Politikverständnis haben kann.

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Grundlagen des sozialdemokratischen Politikverständnisses

Der Bezug der Mitbestimmung auf das sozialdemokratische Politikverständnis ist deshalb von grundlegender Bedeutung, weil er darüber entscheidet, ob Mitbestimmung und Beteiligung nur als Störfaktoren, taktische Konzessionen oder Wesensbestandteile eines sozialdemokratischen Leitbildes wahrgenommen werden können.

Den Ausgangspunkt bildet ein Menschenbild, das auf Freiheit, Solidarität und soziale Gerechtigkeit bezogen ist. Sie gelten für alle Lebensbereiche. Die grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte, die Demokratie als damit verbundene Lebensform können aus keinem Bereich ausgeschlossen werden. Die Menschen müssen selbst entscheiden, wie sie arbeiten und leben wollen. Die Zukunft wird nicht durch "Sachzwänge" festgelegt, sie ist vielmehr eine Aufgabe ständiger Gestaltung. Diese Aussagen aus sozialdemokratischer Sicht, wenngleich von einem hohen Abstraktionsgrad, grenzen sich deutlich von einem Freiheitsideal der Neoklassik und des Neoliberalismus ab, die demokratische Grundrechte nur für den staatlich-gesellschaftlichen Bereich zulassen wollen, insbesondere die Wirtschaft aber ausschließlich an Markt, Wettbewerb und Privateigentum binden. In einem solchen Denken muß in der Tat Demokratie "an den Fabriktoren enden" und wirtschaftliches Handeln wird nicht als Zusammenarbeit von Menschen, sondern als Kombination von Produktionsfaktoren wahrgenommen.

Nun gewinnen solche allgemeinen Sätze ihre konkrete Bedeutung erst in einer bestimmten historischen Situation. Die Sozialdemokraten (und ihre Vorläufer) können für sich in Anspruch nehmen, daß sie für ihre Ideale in der Vergangenheit gekämpft haben: Sie haben gegen den Obrigkeitsstaat die parlamentarische Demokratie und den demokratischen Rechtsstaat mit heraufgeführt, sie sind in der Weimarer Demokratie für eine Demokratisierung der Wirtschaft eingetreten, dem Denken der Zeit entsprechend als institutionelles Konzept analog zur politischen Demokratie, von Betriebsräten bis hin zu Wirtschafts- und Sozialräten mit einer starken Betonung von Freiheit als formaler Gleichheit und im Rahmen des allgemeinen Wohls durch gesetzliche Regelungen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpften sie an dieses Politikverständnis an, wobei es in der Praxis unter dem Einfluß von Weltwirtschaftskrise und der Unterstützung des Nationalsozialismus durch die deutsche Schwerindustrie um die Stichworte Soziale Marktwirtschaft und sozialstaatliche Entwicklung ging. Der Einfluß der Arbeitnehmer prägte sich dabei in der Forderung nach paritätischer Mitbestimmung in den großen Unternehmen aus, wie sie in der Montanindustrie verwirklicht werden konnte. Auch hier war das Konzept der Demokratisierung vor allem auf die Gleichberechtigung von Arbeit, also der Arbeiterschaft, gegenüber dem Kapital bezogen und wurde im wesentlichen stark von Gegenmacht bestimmt. Seit den siebziger und achtziger Jahren setzte eine neue Aufbruchstimmung unter dem Schlagwort "Mehr Demokratie wagen" ein. Mit Bildungsreform, Rationalisierung und Humanisierung ging es nun nicht mehr nur um eine formale Gleichberechtigung der Arbeitnehmer insgesamt gegenüber dem Kapital. Erstmalig traten die Lage des einzelnen und die Inhalte der Arbeit selbst sowie die Mitbestimmung am Arbeitsplatz stärker in das Blickfeld, vor allem durch die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes aus dem Jahre 1972 und das Regierungsprogramm zur Humanisierung der Arbeit von 1974, das eng mit dem Namen Hans Matthöfers verbunden ist.

Jeder dieser Schritte war unvollkommen, aber keiner war ohne die vorhergehenden vorstellbar und alle standen unter dem Grundverständnis, daß wirtschaftliches Handeln sozialen Bindungen und gesellschaftlicher Verantwortung unterliegt und daß sich dies zum Nutzen aller in institutionellen Regulierungen ausprägen muß. Wenn sich deshalb Sozialdemokraten mit Mitbestimmung und Beteiligung beschäftigen, dann sollten sie sich gemeinsam mit den Gewerkschaften ihrer Tradition bewußt sein, auf der sie weiterbauen können - einer Tradition allerdings, die auch die Verpflichtung einschließt, die zukünftige Ausgestaltung von Mitbestimmung und Beteiligung auf die derzeitigen Bedürfnisse der Arbeitnehmer wie auf die Trends der wirtschaftlichen Entwicklung zu beziehen. Dazu gehört neben anderen Gesichtspunkten die Frage, ob bei zunehmender Pluralisierung von Sozialstrukturen und Wertvorstellungen Demokratisierung und Entfaltung weiterhin so stark mit dem traditionellen Denken formaler Gleichheit über gesetzliche Festlegungen verbunden werden kann. Lockert man diesen egalitären Bezug, dann muß gleichzeitig geklärt werden, wie ein größeres Maß an persönlichen Optionen durch kollektive gesetzliche oder vertragliche Möglichkeiten abgesichert werden kann. Jedenfalls eröffnet eine solche, mehr auf den einzelnen bezogene Sichtweise neue Horizonte im Rahmen alter Ziele, weil damit Freiheit, Solidarität und soziale Gerechtigkeit konkret neu bestimmt werden können. Dabei muß sie sich allerdings von neoklassischen und neoliberalen Rezepten abgrenzen, für die in der Wirtschaft Entfaltung und Gerechtigkeit ausschließlich durch Markt und Wettbewerb realisiert werden - mit der Folge einer in Deutschland rekordhohen Massenarbeitslosigkeit, die jedoch, wie die Praxis zeigt, allein mit neoklassischen Mitteln nicht zu beheben ist.

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Modernisierung und Innovation in sozialer Gerechtigkeit

Die Anforderungen an politische Gestaltung vor dem Hintergrund struktureller Umbrüche in Wirtschaft und Gesellschaft sind in den sozialdemokratischen Konzepten nicht strittig. Sie werden meist mit Modernisierung und Innovation umschrieben. Dahinter steht die Vorstellung, daß in einer Zeit eines beschleunigten strukturellen Wandels eine Politik der Besitzstandswahrung nicht angemessen ist, weil die Entwicklung darüber hinweggeht: Die Bedürfnisse und Ansprüche der Menschen in bezug auf Arbeitszeiten, Arbeitsinhalte, Entgelte und Beteiligung am Produktionsprozeß haben sich gewandelt, neue Technologien und Managementstrategien haben zu enormen Steigerungen der Produktivität geführt, wobei sich Unternehmen und Betriebe tiefgreifend verändert haben. Globalisierung und internationaler Wettbewerb mit ihren neuen Chancen und Risiken gehören zu den zentralen Triebkräften dieses Wandels. Sie haben einen bislang unvorstellbaren Kostendruck ausgelöst, der mit hohem Personalabbau vor allem in großen Unternehmen verbunden ist, wobei die einzelnen Sektoren der Wirtschaft von solchen Trends sehr unterschiedlich betroffen sind. Vor allem die hohe und andauernde Massenarbeitslosigkeit setzt gleichzeitig wegen der damit verbundenen Kosten den Sozialstaat unter Druck und führt zu einer Polarisierung der Gesellschaft, weil immer größere Gruppen von Menschen dem extremen Leistungsdruck nicht mehr gewachsen sind und ausgegrenzt werden. Offensichtlich ist dieser Prozeß allein mit marktwirtschaftlichen Methoden und klassischen sozialstaatlichen (Versorgungs-)Leistungen nicht mehr zu bewältigen.

Die Begriffe "Reformpolitik", "Modernisierung" und "lnnovation" stehen insofern für neue Denkansätze: Allgemein gesehen muß mit der unstrittigen Beschleunigung der wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung auch die Politikfähigkeit "dynamisiert" werden. Institutionen, Akteure und Verhaltensweisen müssen fähig gemacht werden, den Änderungen zu folgen oder sie im gewünschten Sinne zu gestalten - im Sinne der Grundziele bei Beachtung der persönlichen Freiheit, in sozialer Gerechtigkeit und mit solidarischer Verteilung der Lasten, nicht zuletzt auch im Sinne einer größeren Effizienz von Entscheidungen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor. Da man stets an gegebene Strukturen anknüpfen muß, kann es nicht den einen besten Weg geben. Jedes Land muß seine Möglichkeiten und Fähigkeiten optimal entwickeln. Gleiche Resultate lassen sich dabei mit sehr unterschiedlichen Methoden erreichen. Die Formulierung, es gäbe keine konservative oder sozialdemokratische, sondern nur gute oder schlechte (Wirtschafts-)Politik, ist in dieser Verkürzung falsch. Je nach Ausgangslage und Wertvorstellungen können beispielsweise unterschiedliche Wege zu mehr Beschäftigung führen, wie die Beispiele verschiedener Länder wie Großbritannien, Frankreich, Niederlande und Dänemark allein in Europa zeigen.

"Innovation" als Beschreiten neuer Wege bei der Entwicklung neuer Produkte und Leistungen kann dabei über die wirtschaftliche Bedeutung hinaus auch weiter gefaßt werden als ein Medium für gesellschaftliche und soziale Veränderungen sowie für neue Lebensformen. Aber für eine solche Beweglichkeit braucht es ein entsprechendes Bildungs- und Erziehungssystem bis hin zu Forschung und Entwicklung; es erfordert gut ausgebildete und zur lebenslangen Qualifizierung bereite Arbeitnehmer, die sich flexibel auf wechselnde Arbeitsanforderungen umstellen können (und wollen); und nicht zuletzt muß das Management der Unternehmen ebenso wie die staatliche Verantwortung ihre Hierarchien und Organisationsformen so gestalten, daß die vorhandenen innovativen Potentiale auch genutzt werden können.

Weil alle Beteiligten Schritte in Neuland tun, Innovation also stets mit Risiko verbunden ist, müssen allerdings neben den fachlichen und institutionellen Voraussetzungen einerseits durch materielle Mindestabsicherungen die persönlichen Risiken begrenzt werden, und andererseits muß durch Information und Beteiligung die Möglichkeit geschaffen werden, abzuschätzen, was man selbst als einzelner oder als Gruppe in neue Entwicklungen einbringen kann. Alle empirischen Untersuchungen zeigen, daß dazu gegenseitiges Vertrauen erforderlich ist, das sich nicht durch Appelle, sondern durch konkretes Verhalten bei tatsächlichen Veränderungen herausbilden muß, um die notwendige Stabilität zu erreichen.

Die Forderung nach Modernisierung und Innovation kann deshalb nicht nur bedeuten, die Ausgaben für Bildung und Erziehung, Forschung und Lehre sowie die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der (vor allem mittelständischen) Wirtschaft zu fördern. Mindestens von gleicher Priorität ist die Schaffung struktureller und institutioneller Rahmenbedingungen und Mindestabsicherungen sowie von Anreizen, um Innovationen zu erleichtern, zumal wenn man auf sehr weitgehende Neuerungen setzt. Voraussetzungen für Innovationspotentiale, die bekanntlich ex definitione nicht planbar sind, sind ein großes Maß an Offenheit, an Experimentiermöglichkeiten, an Zusammenbringen unterschiedlicher Interessen und Gruppen, an der Möglichkeit des Rückgriffs auf unterschiedliche Netzwerke. Innovation ist nicht Aufgabe einer Fachabteilung, sondern muß alle Beschäftigten im Sinne einer lernenden Organisation einschließen. Hier liegt der Bezugspunkt zu Beteiligung und Mitbestimmung. Damit muß der Horizont sozialdemokratischen Denkens überschritten werden, der vor allem in gesetzlichen engen Regelungen, in überwiegend materiellen Besitzständen und Leistungen sowie in Kategorien möglichst umfassender staatlicher Verantwortung denkt. Formale Gleichheit kann sich nicht in einer Vorstellung der Schaffung schematisch gleicher Lebens- und Arbeitsbedingungen für einen durchschnittlichen oder typischen Arbeitnehmer erschöpfen, den es in der Wirklichkeit gar nicht mehr gibt, sondern muß pluralistischen Lebensstilen und vielfältigen betrieblichen Realitäten gerecht werden.

Modernisierung und Innovation beziehen sich bei einem solchen Verständnis nicht nur auf die Wirtschaftspolitik. Sozialdemokratische Kompetenz sollte nicht zuletzt dafür genutzt werden, etwa in der Verknüpfung mit Bildung und Ausbildung und Hochschulpolitik, mit beruflicher Qualifizierung und Arbeitsmarktpolitik, mit Sozialpolitik und Gesellschaftsreform innovative Potentiale zu erschließen - aber dafür müssen konzeptionelle Vorlagen gegeben werden. Wir beschränken uns hier auf die Frage von Mitbestimmung und Beteiligung in Verbindung mit Arbeit und Beschäftigung, weil diese Gesichtspunkte nach unserer Auffassung untrennbar verbunden sind.

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Mitbestimmung und Beteiligung als Demokratisierungspotential und Innovationsressource

Wenn wir die Frage stellen, inwieweit Mitbestimmung und Beteiligung als Demokratisierungspotential und Innovationsressource angesehen werden können, dann wird aufgrund unserer allgemeinen Überlegungen deutlich, daß die Fragestellung bei den Konservativ-Liberalen schon im Ansatz verfehlt ist. Nach ihrer Auflassung müssen in der Marktwirtschaft die Marktgesetze gelten und eine Mitbestimmung und Beteiligung der Arbeitnehmer kann danach nur insoweit akzeptiert werden, wie sie das Funktionieren von Angebot und Nachfrage verbessert und die alleinige Entscheidung der Kapitaleigner und ihrer Vertreter nicht beeinträchtigt. Zwar treibt man neue Beteiligungsformen voran, aber nur, weil diese nachgewiesenermaßen mit hohen Produktivitätssteigerungen verbunden werden können: Beteiligung als Managementstrategie ohne eigenständige, auf der Arbeit selbst beruhende Bürgerrechte - weil eben Demokratisierung nur dem gesellschaftlichen Bereich zugeordnet wird. Aufgrund der marktwirtschaftlichen Fixierung des Innovationsbegriffs werden sozialer Frieden, gesellschaftliche Akzeptanz des Wandels, hohe Qualifikationen oder arbeitsmarktbezogene Neuerungen durch Verbindung öffentlicher und privater Ansätze (etwa Verknüpfungen von Sozialpolitik, Qualifizierung und Beschäftigung) kaum als Standortvorteile wahrgenommen - es sei denn, es handelt sich ausschließlich um Kostenentlastungen.

Gegen diese konservativ-liberale Sichtweise läßt sich ein klares Profil sozialdemokratischen Politikverständnisses setzen, das allerdings vom Menschenbild über die Wirtschaftsordnung bis hin zu konkreten Politikfeldern belegt werden muß. Auch hier müssen, zum Teil gemeinsam mit den Gewerkschaften, neue Wege gegangen werden, aber diese Wege sind nicht schon durch das politische Denken blockiert wie bei den Konservativ-Liberalen.

Im sozialdemokratischen Politikverständnis kann die fundamentale Bedeutung von Mitbestimmung und Beteiligung nur darin liegen, daß sie die menschliche, soziale und gesellschaftliche Dimension als eine eigenständige Zielsetzung systematisch in wirtschaftliche Zusammenhänge einführt.

Das Arbeitsleben und der Wirtschaftsvollzug werden damit nicht verschiedenen, für sich streng getrennten Bereichen zugeordnet, im Gegenteil: Das Spannungsverhältnis von Arbeiten und Wirtschaften ergibt in seiner Verknüpfung durch verbindliche gesetzliche und/oder vertragliche Festlegungen für Kooperationsformen wie die Art der Konfliktaustragung eine neue produktive Kraft, die sich in gewachsenen Beteiligungskulturen ausprägt.

Die Argumentation, daß Mitbestimmung, wenn sie wirklich effizient sei, auch über den Markt eingeführt werde, geht deshalb an der Sache vorbei. Denn Mitbestimmung und Beteiligung setzen jenseits der Marktlogik an, nach der der Mensch nur als Produktionsfaktor betrachtet wird. Und sie geht deshalb über ein Unternehmensverständnis hinaus, nach dem das alleinige Ziel der Aktiengesellschaft eine höchstmögliche Kapitalrendite für die Aktionäre sei. Mitbestimmung und Beteiligung stellen vielmehr das Unternehmen und den Betrieb in einen gesellschaftlichen Zusammenhang: Weil das Unternehmen ein Teil der Gesellschaft ist, müssen dort auch industrielle Bürgerrechte gelten, aber eben deshalb können die Unternehmen auch zusätzliche Produktivitätseffekte erzielen, wenn sie mögliche Beiträge der verschiedenen Bezugsgruppen (stakeholder) zum Unternehmenserfolg systematisch aufgreifen und nutzen. Denn auf dem Markt kann man zwar Produktionsfaktoren kaufen, aber nicht Motivation, Einsatzbereitschaft und Kreativität, die in zunehmendem Maße die Effektivität des Wirtschaftens bestimmen. In diesem Sinne hat Mitbestimmung mit Demokratie und Effizienz gleicherweise zu tun.

In dieser gegenseitigen Verschränkung von wirtschaftlicher und sozialer Rationalität liegt die innovative Bedeutung von Mitbestimmung und Beteiligung beschlossen, nämlich die Mitbestimmung als Bürgerrecht aus Arbeit wie als produktiver Faktor für Wettbewerbsfähigkeit und marktwirtschaftliche Entwicklung gleichermaßen. Die wirtschaftlichen Effekte sind dabei nicht nur Nebenprodukte einer gesellschaftspolitischen Forderung, was früher von den Sozialdemokraten allerdings nicht wahrgenommen worden war. Sie sind in der Tatsache begründet, daß die Produktivitätseffekte moderner Produktionssysteme und neuer Formen der Arbeitsorganisation, überhaupt die Bewältigung eines grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Wandels, nur dann ihr Potential entfalten können, wenn die Interessen, die Motivation und das Engagement an der Gestaltung dieses Wandels rechtlich und tatsächlich anerkannt werden. [ Fn 2: Horst Kern, Mitbestimmung und Innovation, in: "Mitbestimmung und neue Unterneh menskulturen". Ein Projekt der Bertelsmann - Stiftung und der Hans - Böckler - Stiftung, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1998.]

Breitangelegte Beteiligungsprozesse sind damit in besonderer Weise für die Entwicklung und Durchsetzung von Innovationen von Bedeutung. Offensichtlich kann man neue Produkte und Verfahren dann am besten und am schnellsten hervorbringen, wenn man die Interessierten und Betroffenen direkt mit ihrem Expertenwissen neben den traditionellen Managementhierarchien (oder unter Auflockerung dieser Hierarchien, deren blockierende Funktion für innovatives Denken kaum noch strittig ist) zusammenbringt. Gleichzeitig werden durch Beteiligung und Mitgestaltung die Rahmenbedingungen geschaffen, die eine Umsetzung innovativer Entscheidungen in praktische Politik erleichtern: Akzeptanz, Mitarbeit und Einsatzbereitschaft, Einbringen von Kontinuität. Hier liegt eine Schnittstelle zwischen Mitbestimmung und modernen Unternehmenskulturen, [ Fn 3: Vgl. Beyer/Fehr/Nutzinger, Unternehmenskultur und innerbetriebliche Kooperation - An forderungen und praktische Erfahrungen, Gabler Verlag, Wiesbaden 1995.] wobei sich die Bedeutung von Mitbestimmung, Beteiligung und Arbeitspolitik für innovative Entwicklungen auch im internationalen Vergleich belegen läßt. [Fn 4: Frieder Naschold, Nationale Programme zur Innovationsentwicklung. Arbeitspolitik im in ternationalen Vergleich, in: Arbeit, Jg. 3 (1994), H. 2, 5. 103 - 131.] Das Argument soll nicht überzogen werden: Mitbestimmung und Beteiligung sichern nicht automatisch Innovation; aber ohne die Beteiligung des Expertenwissens der Beschäftigten auf möglichst breiter Grundlage ist eine nachhaltige Bewegung für Innovation nicht möglich.

Mitbestimmung und Beteiligung stellen von ihren Grundansätzen her erprobte Verfahrensweisen und institutionelle Plattformen zur Verfügung, weil man sich darauf verlassen kann, daß das Risiko neuer Wege nicht einseitig auf einzelne Gruppen abgewälzt wird, und zwar im privatwirtschaftlichen Sektor wie im sozialstaatlichen Bereich. Mitbestimmung und Beteiligung wandeln sich damit von einem Verständnis als defensiven sozialen Schutzrechten zu Elementen aktiver Mitgestaltung, wenn dafür die entsprechenden Absicherungen, Informationsmöglichkeiten und Kooperationsprozesse für einzelne und Gruppen auf der Grundlage der bisherigen Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte verbindlich festgelegt werden. Die Sozialdemokraten könnten hierbei eine Vorreiterrolle übernehmen, analog zur Diskussion um die Mitte der siebziger Jahre mit Mitbestimmung am Arbeitsplatz und Humanisierung der Arbeit.

Bei diesen Grundüberlegungen darf jedoch ein wichtiger Faktor nicht außer acht gelassen werden, der in den aktuellen Debatten häufig noch immer vernachlässigt wird: Innovation, Mitbestimmung, Kooperation und Beteiligung wofür und wohin? Aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte kann man jedenfalls den Schluß ziehen, daß eine Diskussion um Mitbestimmung nur im Sinne von Verfahrens- und Beteiligungsrechten keine politische Bewegung auslösen wird. Eine solche Diskussion kann nur dann politische Kraft entfalten, wenn man sie mit inhaltlichen Zielen verbindet, und das muß unter den derzeitigen Bedingungen vor allem die Frage von Arbeit und Beschäftigung sein.

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Arbeit und Beschäftigung als inhaltliche Schwerpunkte von Mitbestimmung und Beteiligung

Arbeit und Beschäftigung sind nach wie vor zentral für Existenzsicherung und für Selbstentfaltung. Sie standen stets im Mittelpunkt sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Politik, was in einer Zeit langandauernder Vollbeschäftigung nur nicht immer deutlich geworden ist. Aber in den letzten Jahren hat sich gezeigt, daß Mitbestimmung im Unternehmen, Betriebsverfassung, Gewerkschafts- und Tarifpolitik mit der Beschäftigungsfrage untrennbar verbunden sind. Die Tarifpolitik und das, was unter der Reform des Flächentarifvertrages diskutiert wird, kreist heute unter den Stichworten Arbeitszeitflexibilisierung und Lohnkostendifferenzierung im Sinne einer stärkeren Öffnung für betriebliche Lösungen um die Beschäftigungsförderung. Betriebsräte, Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten und Arbeitsdirektoren stehen seit Jahren mit dem Rücken zur Wand und versuchen, durch Sozialpläne und betriebliche Beschäftigungspakte den Personalabbau sozial verträglich zu machen oder Beschäftigungsmöglichkeiten zu sichern. Bei einem solchen Abwehrkampf sind oft nur kurzfristige Lösungen möglich. Widerstand gegen Arbeitsplatzabbau ist bei der verbreiteten Angst um die Sicherheit der eigenen Tätigkeit kaum zu erreichen. Was fehlt, ist ein Konzeptansatz, wie den Problemen längerfristig begegnet werden kann, und zwar ein Konzept, das von den Strukturveränderungen des Arbeitens und Wirtschaftens ausgeht.

In der Vergangenheit war in Deutschland durch starke Gewerkschaften und ein hohes Lohn- und Produktivitätsniveau die Zunahme der Beschäftigung im Dienstleistungsbereich begrenzt, was sich insbesondere zu Lasten der Beschäftigung von Frauen ausgewirkt hat. Die trotzdem entstehende Arbeitslosigkeit wurde zum Nutzen der Unternehmen und zu Lasten der Bundesanstalt für Arbeit sowie der Rentenversicherungen über Frühverrentungen weiter reduziert. Durch das Ausscheiden Älterer konnte allerdings gleichzeitig die Jugendarbeitslosigkeit niedrig gehalten werden. Weitere Anpassungen wurden über eine zunehmende Flexibilität der Arbeitszeit gelöst, etwa Variationen der Wochenarbeitszeit, der Überstunden oder Einsatz von Kurzarbeit, weniger durch Teilzeitarbeit. Wer trotzdem aus dem Beschäftigungssystem ausschied, lief allerdings Gefahr, in den ständig steigenden Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit zu geraten.

Seit Mitte der neunziger Jahre tritt neben die Forderung nach Flexibilität der Arbeitszeiten die Auseinandersetzung um Entlastung der Arbeitgeber von Lohnnebenkosten, die Forderung nach Lohnflexibilität, die Einführung von Niedriglöhnen sowie der Wunsch und zunehmend auch die Praxis von Lohnspreizungen. Die Fragen der Wirtschaftsentwicklung werden damit auf die Lohnkosten(senkung) verengt, von einer Stärkung der Innovationskraft ist weniger zu hören.

Der rückschauende Blick auf die Beschäftigungsentwicklung und auf die absehbaren Perspektiven zeigt, daß Vollbeschäftigung über die Märkte allein immer weniger möglich ist. Selbst die bisherigen Lösungen wie der Vorruhestand sind im Rahmen der deutschen "Sozialen Marktwirtschaft" nur aus dem Zusammenwirken verschiedener Politikfelder, wie Sozialpolitik und Arbeitsmarktpolitik auf der Makroebene in Verbindung mit Tarifpolitik und Betriebsvereinbarungen bzw. Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen auf der Mikroebene, zu erklären. Sie waren jedoch nicht das Ergebnis einer bewußten Strategie, sondern eher das Produkt einer fallweisen zwar nicht konfliktfreien, aber doch auf Interessenausgleich angelegten Zusammenarbeit. Nun ist dieses Handlungsmuster allerdings in dieser Form nicht durchzuhalten, weil die durch die teilweise Entkopplung von Wachstum und Beschäftigung ausgelöste Massenarbeitslosigkeit (jobless growth) den Sozialstaat überlastet. Der Alltag der Mitbestimmung ist zunehmend dem frustrierenden Umgang mit solchen Problemen gewidmet.

Die Probleme sind deshalb so schwierig, weil in Umbruchzeiten die bisherigen Erfahrungen, Instrumente und Institutionen nur noch bedingt tauglich sind. Die Globalisierung hat die traditionelle Vollbeschäftigung längst beseitigt und die Grundlagen des Hochlohnlandes Deutschland untergraben. Eine hohe Massenarbeitslosigkeit ist selbst bei wirtschaftlichem Wachstum durch noch höhere Produktivitätssteigerungen mit traditionellen Politikansätzen nicht wirksam zu bekämpfen. Aus diesen Gründen sind die bisherigen sozialstaatlichen Absicherungen immer weniger finanzierbar. Nur zentrale oder makroökonomische Mittel können allein nicht helfen, die Vielfalt der Entwicklung erfordert auch gezielte Maßnahmen. Die lange Zeit wirksame Konzentration auf große Unternehmen reicht nicht aus, weil gerade die Großen Personal abbauen. Beschäftigungszuwächse finden sich vor allem in kleineren und mittleren Betrieben und im Dienstleistungssektor, aber hier findet Mitbestimmung und Tarifpolitik kaum statt. Die bisherige Methode der Arbeitsmarktpolitik, die von Arbeitslosigkeit Betroffenen besonderen Problemgruppen zuzuordnen und für jede Gruppe getrennt voneinander eine spezifische Lösung zu suchen, ist durch die schiere Größe dieser Gruppen zum Scheitern verurteilt und führt darüber hinaus zu weitreichenden Diskriminierungen.

Ein neues Gesamtkonzept ist erforderlich, das mit Marktbedingungen vereinbar ist und zugleich den Zielvorstellungen nach persönlicher Entfaltung, beruflichen Wahlmöglichkeiten und sozialer Absicherung gerecht wird. Eine solche Lösung darf nicht nur auf Einzelaspekte zielen, wie den Abbau von Überstunden, die Verhinderung von Jugendarbeitslosigkeit, die Ausweitung von Teilzeit oder die Reduzierung von Langzeitarbeitslosigkeit. Ein Gesamtansatz muß vielmehr den Stellenwert menschlicher Arbeit für alle zum Gegenstand haben. Im Zentrum stehen zwar der Arbeitsmarkt und die Erwerbsarbeit, aber diese muß offen sein für Ausbildung, Weiterbildung und lebenslanges Lernen, ohne die modernes Wirtschaften nicht länger möglich ist, für gemeinnützige und politische Arbeit, ohne die eine Gesellschaft nicht zusammengehalten werden kann, für familiäre, private und persönliche Interessen, die für die individuelle Lebensplanung und Lebensqualität von zentraler Bedeutung sind. Da die Menschen solche Entscheidungen nach ihren Wünschen und Neigungen selbst treffen wollen, muß diese Vielfältigkeit zum Ausgangspunkt für Wahlmöglichkeiten, Brükken und Übergänge zwischen verschiedenen Arbeits- und Lebensformen genommen werden, sei es durch Betriebsvereinbarungen, durch Tarifpolitik und/oder durch gesetzliche/sozialstaatliche Flankierungen. [Fn 5: Vgl. Gerhard Leminsky, Bewährungsproben für ein Management des Wandels, a.a.O., S. 69ff.; Günther Schmid, Reform der Arbeitsmarktpolitik, in: WSI - Mitteilungen 10/96, S. 629ff.]

Ein solches Konzept setzt im Betrieb an, aber es reicht über ihn hinaus, weil es auch Aspekte von Bildung, Ausbildung, Qualifizierung und nicht-erwerbswirtschaftliche Arbeitsformen zusammen im Blick hat. Es erfordert Flexibilität der Betroffenen, aber es braucht ein Netz sozialstaatlichen Schutzes und muß, auf das gesamte Arbeits- und Berufsleben bezogen, eine akzeptable Mindestabsicherung enthalten. Der solidarische Zusammenhang des Konzeptes liegt in der allgemeinen Absicherung und in der Wahl von Übergängen zwischen den verschiedenen Arbeits- und Lebensformen, ohne in die Sackgasse einer "Problemgruppe" zu geraten und zu verbleiben. Dies bedeutet allerdings, Abschied von einer als einheitlich gedachten Arbeitnehmerschaft zu nehmen, die ohnehin in der Realität nicht mehr besteht.

Wenn man die Gefahren eines solchen Ansatzes erkennt, kann man ihnen auch begegnen: Massenarbeitslosigkeit kann die Wahlmöglichkeiten aushöhlen, die Angst um den Arbeitsplatz kann den Rationalisierungsdruck verstärken, die Vielfalt kann vor allem betriebliche Gruppenegoismen begünstigen. Solche Gefährdungen können jedoch insbesondere durch Tarifpolitik und sozialstaatliche Absicherungen begrenzt werden. Ein neuer Grundansatz solidarischer Arbeit macht die Gewerkschaften wieder stärker zu einer sozialen Bewegung, die Wirtschaft als Teil der Gesellschaft begreift, die im Betrieb verankert ist und die in neuen Kooperationsformen auf Zusammenarbeit setzen kann, weil sie sich ihre Konfliktfähigkeit bewahrt hat. Die auf diese Weise möglichen spezifischen betrieblichen Lösungen können auch die Innovationskraft des Wirtschaftens erhöhen, weil sie die Motivation, Beteiligung und Kompetenz der Belegschaften aktivieren. Zugleich ist die über den Betrieb hinausreichende Perspektive von Bedeutung, weil der Preis für die neuen hochbeweglichen und qualifizierten Produktions- und Leistungsstrukturen eine steigende Anzahl von Menschen sind, die ohne begleitende Hilfen dem Druck der Leistungsgesellschaft nicht standhalten und die trotzdem nicht ausgegrenzt werden dürfen.

Teilaspekte in Richtung auf ein neues Verständnis von Arbeit und Beschäftigung sind keimhaft in der Realität vorhanden. Sie werden auch praktiziert, aber nicht als systematische Strategie begriffen. Beispiele aus den letzten Jahren sind auch die Sicherung von Ausbildungsplätzen und die Beschäftigung für junge Menschen, die in größeren Unternehmen oft in Verbindung mit dem Vorruhestand Älterer über Sozialpläne vorgenommen worden ist. Zu solchen Ansätzen gehören auch die Rückkehrmöglichkeiten von Müttern mit kleinen Kindern nach mehrjähriger Freistellung in den Beruf. Desgleichen ist etwa auf die Wahrnehmung von Bildungsurlaub hinzuweisen oder auf den Wechsel zwischen Vollzeit- und Teilzeitarbeit oder auf finanzielle Regelungen zur Durchführung von betriebsnahen Qualifizierungsmaßnahmen durch die Arbeitsmarktpolitik oder die neueren Entwicklungen einer kommunalen Arbeitsmarktpolitik zur Eingliederung von Sozialhilfeempfängern in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Ebenso sind tarifliche und betriebliche Regelungen zur Altersteilzeit zu erwähnen. In den Vereinbarungen großer Konzerne zur Sicherung von Standorten und Beschäftigung finden sich vielfältige Verknüpfungen von Arbeitszeit, Lohnstrukturen und Beschäftigung in Zusammenhang mit Maßnahmen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, besonders in Ostdeutschland.

Was fehlt, ist der Druck auf eine stärkere Verknüpfung bisher nur isoliert wahrgenommener Möglichkeiten. So nehmen Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten den Rationalisierungsdruck üblicherweise ausschließlich von den betrieblichen Wirkungen her wahr und versuchen, mit betrieblichen Mitteln über Betriebsvereinbarungen sozialverträgliche Lösungen zu realisieren. Solche Lösungen werden, von Ausnahmen abgesehen, durch das betriebliche Personalmanagement unterstützt. Die Gewerkschaften, die primär gefordert sind, eine neue Sicht von Arbeit und Beschäftigung zu verbreiten, sind selbst noch sehr stark in einem traditionellen Zuständigkeitsdenken befangen und streben nach zentralen, kollektiven oder einheitlichen Regelungen, die jedoch der Vielfalt der Realität immer weniger gerecht werden können. Immerhin finden sich schon jetzt die meisten innovatorischen Absprachen in Betriebsvereinbarungen und in der Tarifpolitik. Das Denken im Sinne eines Bündnisses für Arbeit könnte darüber hinaus den Weg für eine durchgreifende neue Sichtweise öffnen, unabhängig von seinem kurzfristigen Effekt in bezug auf die tatsächliche Entwicklung der Beschäftigung

Ebenso wie bei der Politik für Modernisierung und Innovation kann nach sozialdemokratischem Politikverständnis eine neue Perspektive von Arbeit und Beschäftigung stärker vorangebracht werden als von den stark neoklassisch und neoliberal beeinflußten Konservativen, weil die Sozialdemokraten vom Ansatz her die Marktentwicklungen mit gesellschaftlichen Zusammenhängen verknüpfen können. Allerdings muß diese Politik die Vielfalt und Differenziertheit der realen Strukturen beachten, denen man nicht durch Lösungen ausschließlich formaler Gleichheit Rechnung tragen kann; wichtig sind gesetzlich, kollektiv oder betrieblich vereinbarte Regelungen für individuelle Optionen und sinnvolle Vereinbarungen für den Wechsel zwischen verschiedenen Arbeits- und Lebensformen. Zwar werden von Zeit zu Zeit einzelne Elemente besonders hervorgehoben, sei es die Ausweitung von Ausbildungsplätzen, der Abbau von Überstunden, die Verstärkung von Teilzeitarbeit, die Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit, die Nutzung von Altersteilzeit, die Verbindung von Arbeit und Qualifizierung, um einige Beispiele zu nennen. Aber die bloße Forderung nach quantitativen Niveaus oder moralische Appelle laufen ins Leere, wenn man die hinter diesen Entwicklungen stehenden Strukturfaktoren ignoriert. So sind Reformen im System der beruflichen Bildung dringend vonnöten; eine stärkere Differenzierung der Beschäftigung in den Betrieben braucht ein entsprechendes Personalmanagement, das bisher die Wahrnehmung individueller Optionen und beispielsweise die Ausweitung von Teilzeitarbeit professionell nicht richtig steuern kann und durch ideologische Blockaden die Produktivität neuer Formen der Arbeit immer noch zu wenig erkennt. Die Veränderung der Frauenerwerbsarbeit braucht nicht zuletzt infrastrukturelle Voraussetzungen wie Kindergärten und Kinderbetreuung. Die gezielte Ausweitung des Dienstleistungssektors und die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen sind erst in den letzten Jahren verstärkt in die Diskussion geraten.

Unbeschadet einer Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik in Richtung auf mehr Beschäftigung [Fn 6: Vgl. Heiner Flassbeck, Ludger Lindlar und Friederike Spiecker, Wirtschaftspolitik im Zeichen von Globalisierung und Arbeitslosigkeit. Hrsg. Friedrich - Ebert - Stiftung, Gesprächskreis Arbeit und Soziales, Nr. 75, Bonn, November 1997.] sollte sozialdemokratische Politik sich nicht nur auf einen Konzeptansatz einer makroökonomisch ausgerichteten Beschäftigungsstrategie beschränken, sondern gleicherweise die Inhalte von Arbeit über die Erwerbsarbeit hinaus thematisieren, weil sie hier vielfältige Kompetenzen aufweist und ein klares Profil entwickeln kann. Es ist schwer begreiflich, warum die bisher vorgeschlagenen Einzelmaßnahmen nicht in eine solche Perspektive eingeordnet werden. Einer der Hauptgründe mag darin liegen, daß die internen Entscheidungsstrukturen, ähnlich wie bei den Gewerkschaften, durch Abschottungen und Segmentierungen nicht die Einzelvorschläge zu einem integrierten Gesamtbild zusammenfügen können, das gleicherweise gesellschaftlich akzeptabel wie ökonomisch effizient und sozialstaatlich machbar wäre, weil es von den gegebenen Realitäten ausgeht.

Wenn man die inhaltlichen Schwerpunkte auf Arbeit und Beschäftigung konzentriert, dann werden damit auch zentrale Aufgaben von Mitbestimmung und Beteiligung bestimmt und ihr hoher Stellenwert im Rahmen eines "beschäftigungsorientierten" Konzepts wird sichtbar, ebenso wie die Verknüpfung mit der Tarifpolitik: Denn wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung nach Wirtschaftsbereichen, Branchen, Beschäftigtengruppen und Unternehmensgrößen durch internationalen Wettbewerb und die Nutzung neuer Technologien sehr unterschiedlich vollzieht, dann muß man für ihre verschiedenen Strukturprobleme auch spezifische Lösungen finden. Und wenn dieser Trend in Richtung Differenzierung und Flexibilisierung ebenso durch veränderte Sozialstrukturen, Wertvorstellungen und Lebensstile im Sinne von Individualisierung und Pluralisierung gefördert wird, dann muß jede sozialstaatlich gewünschte Form der Steuerung aus ökonomischen wie gesellschaftspolitischen Gründen Raum für Vielfalt und Dezentralisierung geben. Hier setzen Tarifpolitik, Mitbestimmung und Beteiligung an, weil sie Interessenvertretung, Beteiligung und Mitgestaltung durch im Kern institutionell stabile Aushandlungsprozesse in Betrieben, Unternehmen und Branchen miteinander verbinden können, und zwar so, daß die Wahrnehmung unterschiedlicher individueller oder gruppenbezogener Optionen fair geregelt werden kann. Die persönliche Entfaltung wird damit durch einen kollektiven sozialstaatlich verankerten Rahmen gestützt, der das Vertrauen der Arbeitnehmer hat, weil es sich um die von ihnen gewählten Gewerkschaften und Interessenvertreter handelt, die diese Aufgaben wahrnehmen, und zwar stets problemnah auf den Ebenen, auf denen Lösungen gefunden werden müssen.

Eine solche Perspektive der Gewichtsverlagerung in Richtung auf mehr Flexibilisierung und Differenzierung im System der industriellen Beziehungen auf der Grundlage von Mindestsicherungen hat sich in den letzten Jahren am stärksten in der Tarifpolitik mit dem Stichwort Verbetrieblichung gezeigt. Sie bedeutet, daß die in Deutschland vorherrschenden Flächentarifverträge, deren Kennzeichen gerade darin bestand, Sonderregelungen für einzelne Betriebe auszuschließen, nun durch vielfältige Öffnungsklauseln stärker an die jeweiligen und sehr unterschiedlichen betrieblichen Strukturen angepaßt werden können. Im Hochlohnland Deutschland ist derzeit diese Anpassung bei Massenarbeitslosigkeit meist eine solche nach unten, aber es ist trotzdem wichtig, daß entsprechende Prozesse in vereinbarter und kontrollierten Form ablaufen, um Auswüchse zu verhindern, neue Wege zu erproben und Optionen für den Fall einer wirtschaftlichen Erholung offenzuhalten.

Eine solche Verbetrieblichung der Tarifpolitik, die zur Zeit im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, muß hier nicht im einzelnen nachvollzogen werden. [Fn 7: Gerhard Leminsky, Mitbestimmung und Tarifautonomie. Reihe "Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen", Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1997.] Wichtig ist für unsere Fragestellung von Beteiligung und Mitbestimmung, daß sie voraussetzt und einschließt, daß auf betrieblicher Ebene die Betriebsräte in der Lage sind, die Öffnungsklauseln der Tarifverträge unter der Zielsetzung der Beschäftigungssicherung politisch wirksam und fachlich kompetent mit dem jeweiligen Arbeitgeber auszuhandeln, wobei in unterschiedlicher Weise die Tarifvertragsparteien je nach Branchenkultur in diese Prozesse einbezogen sind. Und da Fragen der Beschäftigungsentwicklung sehr eng mit der gesamten Unternehmensstrategie zusammenhängen, muß die Mitbestimmung einerseits in längerfristigen Kategorien denken und andererseits die ganze Breite der Unternehmenspolitik in den Blick nehmen. Mitbestimmung auf Unternehmensebene wird damit wieder aktuell.

Bei allen Verknüpfungen zwischen Tarifpolitik und Mitbestimmung müssen jedoch die Eckpunkte der jeweiligen Politikansätze aufrechterhalten werden, daß nämlich die Tarifpolitik, notfalls mit dem Mittel des Streiks, die konfliktuellen Verteilungsfragen behandelt, während die Institutionen der Mitbestimmung die betrieblichen Umstrukturierungen in kooperativer Mitgestaltung bewältigen. Aber die Betriebs- und Tarifparteien können dabei meist nur in einem relativ engen Rahmen handeln, bei vorgegebenen Lohnnebenkosten, Finanz-, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik, die gerade für die Weiterentwicklung der Beschäftigungspolitik von großer Bedeutung sind. Dies bedeutet, daß die Forderung nach einer "Verbetrieblichung" der Tarif- und auch Mitbestimmungspolitik eine Schlagseite hat. Ebenso wichtig für einen neuen Typus von Arbeit und Beschäftigung ist der Staat als Akteur, der Mindestbedingungen setzt, Rahmenbedingungen für den Prozeß des Wandels festlegt und an neue Gegebenheiten anpaßt und der unter dem Gesichtspunkt der Innovation die Infrastruktur für Kooperation verbessert und die Professionalität der Akteure fördert, sei es im Personalmanagement, sei es auf der Seite der Betriebs- und Personalräte - abgesehen von der Notwendigkeit, den Reformstau auf zentralen Politikfeldern endlich aufzulösen.

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Schwerpunkte und Handlungsorientierungen

Wenn man bei den umbruchartigen Veränderungen nach Handlungsorientierungen sucht, dann muß man bei den Triebkräften des Wandels selbst ansetzen. Bei einer solchen, von den konkreten Problemen ausgehenden Betrachtungsweise zeigt sich der enge Zusammenhang von Mitbestimmung und Beteiligung mit der Tarifpolitik. Dieser Blick auf die schon behandelten Realitäten ist ein Blick auf Vielfalt, Ungleichzeitigkeiten und auch Widersprüche. Ein Problem für sozialdemokratische Politik liegt darin, diese Vielfalt vor dem Hintergrund des noch weit verbreiteten Denkens in Kategorien formaler Gleichheit als Chance zu begreifen mit der Folge, daß Gesetzgebung oder Regierungsprogramme sich stärker als bisher auf die Eröffnung und Sicherung von Wahlmöglichkeiten, Optionen, Übergängen bei persönlicher oder institutioneller Beteiligung in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen von Sicherheit konzentrieren können.

Bei alledem hat die Vergangenheit gezeigt, daß bloße Forderungen nach Verfahrensregeln, Paritäten, Entsendungsrechten keine mobilisierende Kraft zu entfalten vermögen, wenn sie nicht mit den inhaltlichen Fragen verbunden werden, in denen die Betroffenen ihre Probleme erkennen. Das erfordert derzeit vor allem eine Konzentration auf Arbeit und Beschäftigung. Dies deckt sich mit den sozialdemokratischen Prioritäten, aber in der politischen Praxis werden sowohl bei Sozialdemokraten als auch bei Gewerkschaften häufig aus Gründen der historischen Entwicklung die Probleme von Arbeit und Beschäftigung einerseits, von Mitbestimmung und Beteiligung andererseits in getrennten Bereichen behandelt und nicht zusammengeführt. Die internen Arbeitsstrukturen von Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden wie auch der staatlichen Verwaltung sind zum Teil noch von Organisationsformen geprägt, die die Realität nicht mehr abbilden können. Dabei wird die Mitbestimmungsthematik häufig in juristischen Kategorien im Rahmen von Arbeitnehmerrechten behandelt, was zwar fachlich zutreffend ist, aber ohne inhaltliche Bezugspunkte kaum politische Schlagkraft entwickeln dürfte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß Mitbestimmung und Beteiligung keine politischen Themen sind, obwohl doch ein neues Konzept von Arbeit dezentrale und differenzierte betriebspolitische Ansätze braucht und obwohl doch die durchaus öffentlich diskutierte Tarifautonomie mit der Mitbestimmung verknüpft wird, mehr noch, eine Verbetrieblichung der Tarifpolitik ohne Betriebsräte nicht vorstellbar ist. Aber auch die damit verbundenen Folgerungen werden kaum behandelt.

Mitbestimmung und Beteiligung sind zugleich nach wie vor politisch kontrovers, weil sie im Spannungsfeld zwischen marktwirtschaftlichen Abläufen und gesellschaftlichen Anforderungen stehen. Darin liegt aber zugleich ihr noch nicht ausgeschöpftes und entwicklungsfähiges innovatives Potential wie auch ihre Bedeutung für Demokratisierung und Entfaltung. Sozialdemokratische Politik, die auf Handlungsorientierung zielt, muß diesen Konzeptansatz mit den breiten gesellschaftlichen Zeitströmungen verbinden. Dazu gehören neue Formen von Arbeiten und Leben, Möglichkeiten der Mitgestaltung der Bedingungen, die die eigene Existenz betreffen, Wahrnehmung eines industriellen Bürgerrechts als einem Recht aus Arbeit, Förderung von Modernisierung und Effizienz. Mitbestimmung muß anschlußfähig sein für Partizipation, Unternehmenskultur, Innovation. Wirkliche und institutionell abgesicherte Fortschritte waren in der Mitbestimmung immer nur dann möglich, wenn solche Verknüpfungen möglich waren wie zu Anfang der zwanziger Jahre, beim Wiederaufbau nach 1945 oder während des demokratischen Aufbruchs Anfang der siebziger Jahre.

Aber gleicherweise braucht man "konkrete Hebel", bei denen man ansetzen kann, um Instrumente und Verfahren durchzusetzen, die konkrete Veränderungen in die gewünschte Richtung auf den Weg bringen. Ein solcher Hebel war der Beginn der Einführung der 35-Stunden-Woche, ist möglicherweise das Konzept der Arbeitszeitkonten, zeigt sich in betrieblichen Beschäftigungspakten wie dem in Unternehmen der Automobilindustrie, liegt in den ÖTV-Vorstellungen zur "Zukunft durch öffentliche Dienste" oder im IG Metall-Vorschlag eines "Bündnisses für Arbeit". Dessen außerordentliche Resonanz hat gezeigt, daß ein breites gesellschaftliches Bewußtsein dafür vorhanden ist, daß die Beschäftigungsfrage mit marktwirtschaftlichen Mitteln allein nicht zu lösen ist, sondern den Sozialstaat mit einschließen muß. Es muß immer wieder hinzugefügt werden, daß die inhaltlichen Vorgaben gleichzeitig die Verfahrensregeln bestimmen und die Aufgaben der Akteure festlegen.

Bei den möglichen Prioritäten heben wir solche Schwerpunkte hervor, die von der Mitbestimmung für die Gestaltung inhaltlicher Politikfelder von besonderer Bedeutung sind und die derzeit in der öffentlichen Diskussion häufig vernachlässigt werden, wie die unmittelbare und direkte Beteiligung (im Gegensatz zu gesetzlichen, institutionellen und repräsentativen Regelungen) und die sozialstaatliche Verankerung einer Mitbestimmung, die mit Vielfalt, Dezentralisierung und Flexibilität verbunden ist.

Der vielleicht bedeutsamste Einzelaspekt betrifft Partizipation und Beteiligung. Technisch gesehen ist damit eine Entwicklung gemeint, bei der unterhalb oder außerhalb des Systems der institutionell-repräsentativen Einflußnahme, insbesondere durch den Betriebsrat, die Betroffenen und Interessierten Entscheidungen, die sie selbst betreffen, in einem begrenzten Umfang mitgestalten können, meist in Form der Bildung von Arbeitsgruppen.

Die Gewerkschaften haben eine solche Einbeziehung der Arbeitnehmer selbst und nicht nur einen Verlaß auf die repräsentativ gewählten Arbeitnehmervertreter zunächst unter dem Stichwort "Mitbestimmung am Arbeitsplatz" nur halbherzig verfolgt, weil sie eine Aufsplitterung der Solidarität der als einheitliches Kollektiv gedachten Belegschaften befürchteten. Umfragen haben allerdings seit Jahren gezeigt, daß die Arbeitnehmer mit Abstand am meisten an der Einbeziehung in die betrieblichen Entscheidungen interessiert waren, die sie unmittelbar betreffen - was im übrigen kein Mißtrauensvotum gegenüber dem Betriebsrat als der gewählten Interessenvertretung darstellt, der nach wie vor das große Vertrauen der Belegschaften genießt. Aber wenn überhaupt, dann betrachten die Gewerkschaften die Mitbestimmung am Arbeitsplatz meist nur als nachgeordnete Ergänzung zur Betriebsratsarbeit, während die SPD hier unter dem Einfluß Matthöfers in den sechziger und siebziger Jahren wesentlich offener war (Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 und HdA-Programm von 1974). Mittlerweile ist jedoch die politische Bedeutung von Beteiligung und Partizipation bei den Gewerkschaften nicht mehr strittig, was allerdings weniger für die Praxis gilt.

Die eigentliche Stoßkraft haben die Ansätze von direkter Beteiligung allerdings durch neue Managementkonzepte erhalten, die Gewerkschaften und Betriebsräte nicht länger ignorieren können. Die Arbeitgeber haben erkannt, daß vor allem beim Einsatz moderner Technologien und bei schnellen Verfahrens- und Produktumstellungen das Engagement, die Motivation, das Improvisationsvermögen und die Kreativität der Arbeitnehmer von ausschlaggebender Bedeutung für substantielle Produktivitätssteigerungen ist. Dies hat sich beispielsweise in höherer Dezentralisierung und mehr eigenverantwortlicher Gruppenarbeit niedergeschlagen, auch im Aufbau neuer Unternehmenskulturen, wobei sich je nach den besonderen Bedingungen einzelner Unternehmen und Betriebe sehr unterschiedliche Strukturen herausgebildet haben. Auch wenn sich solche Entwicklungen teilweise widersprüchlich vollziehen, so kann doch kein Zweifel an ihrer prägenden Bedeutung bestehen.

In der Praxis hat sich allerdings gezeigt, daß eine unmittelbare und direkte Beteiligung ebenso Potentiale in Richtung auf Demokratisierung und Entfaltung wie in Richtung auf ein bloßes Instrument zur Produktivitätssteigerung enthält, und Betriebsräte wie Gewerkschaften tun sich damit oft ebenso schwer wie Arbeitgeber und Management, weil es Informationswege, Entscheidungsebenen und Machtstrukturen tiefgreifend beeinflußt. Für die Institutionen der Mitbestimmung kann die unmittelbare Beteiligung jedoch ein Schwungrad zur Revitalisierung von oft abgehobenen Institutionen sein, weil es zwischen die direkte Arbeitsebene und die institutionell-repräsentative Vertretung durch den Betriebsrat systematisch angelegte schnelle und direkte Rückkopplungen in großer Vielfalt schafft. Das ist gerade in einer Zeit beschleunigter Umbrüche von großer Bedeutung für die Lebenskraft der Mitbestimmung, aber es ist gleicherweise ein wichtiges Innovationspotential.

Hier könnte, in Fortführung sozialdemokratischer Traditionslinien wie dem Programm zur Humanisierung der Arbeit von 1974, ein guter Anknüpfungspunkt für die Förderung von Information, Erfahrungsaustausch, Unterstützung von Modellfällen, Qualifizierung von Arbeitnehmervertretern wie Personalmanagement, Diskussion von Anforderungen an Gesetzgebung, Tarifparteien und Betriebsvereinbarungen, flankierende Unterstützung durch berufliche Bildung und Arbeitsmarktpolitik gegeben sein. Dabei betreffen solche Ansätze nicht nur die private Wirtschaft, sondern sind unter dem Stichwort Modernisierung der Verwaltung/Zukunft durch öffentliche Dienste ebenso eng mit dem öffentlichen Sektor verbunden.

Aber man darf den Blick nicht nur auf Betriebspolitik und Verbetrieblichung lenken, wie es heute in der öffentlichen Diskussion fast ausschließlich geschieht. Die Akzeptanz ständiger Veränderungen, der Personalabbau durch Produktivitätssteigerungen, die gesellschaftliche Verantwortung für unternehmerisches Handeln - all das braucht einen (sozialtstaatlichen Rahmen und Mindestabsicherungen, wenn es nicht in Gewalt, Arbeitslosigkeit, Radikalisierung und gesellschaftlicher Polarisierung enden soll. Hier geht es um solche Strukturfragen wie die Förderung von beruflicher Bildung und Qualifizierung, die Entwicklung der Beschäftigung im Dienstleistungsbereich, um die Reduzierung der Lohnnebenkosten, um die konkrete Ausfüllung dessen, was mit einem neuen Konzept von Arbeit und Beschäftigung gemeint ist. Dabei kann es nicht darum gehen, daß alle bisherigen Besitzstände aufrechterhalten und nur materielle Niveaus behandelt werden. Auch hier kann die Bestandsaufnahme praktischer Erfahrungen mit betrieblichen und tariflichen Absprachen wichtige Hinweise geben, hat der Staat als Vermittler wichtige Aufgaben, kann die Verknüpfung zwischen gesellschaftlich-infrastrukturellen Ansätzen mit betriebs- und branchenbezogenen Problemen Innovation wie Beteiligung und Demokratisierung stärken. Das ist auch auf der sozialstaatlichen Seite nicht nur eine Sache von Zielformulierungen, sondern ebenso von systematischer Bearbeitung von Umsetzungsstrukturen: mehr Dezentralisierungen, Eigenverantwortung, Raum für Erprobungen schaffen.

Die Aufgaben im sozialstaatlichen Bereich beziehen sich also einmal auf den Rahmen für privatwirtschaftliches Handeln, und sie beziehen sich gleichzeitig auf die Umgestaltung der internen sozialstaatlichen Handlungsstrukturen selbst, eine Diskussion, die im Fluß ist und überhaupt nur als längerfristiges Vorhaben zu betreiben ist, auch hier im Zusammenhang von Innovation, Effizienz und Demokratisierung. [Fn 8: Vgl. beispielsweise die umfangreiche Schriftenreihe "Modernisierung des öffentlichen Sektors" im Verlag edition sigma, Berlin, und Herbert Mai (Hrsg.), Dienstleistungen gestalten: Für einen aktiven Wirtschafts - und Sozialstaat (Reihe "Zukunft durch öffentliche Dienste" Bd. 8), Verlagsanstalt Courier, Stuttgart 1997.] Für die praktische Handhabung muß man einzelne Schwerpunkte herausgreifen, doch sollten Einzelheiten stets in das übergreifende Konzept eingeordnet werden; und es sollten bewußt die Beteiligten wie ihre Interessenvertretungen und Gewerkschaften in den Umgestaltungsprozeß einbezogen werden, auch um ihre Beharrungstendenzen und Ängste durch konstruktive Mitarbeit abzubauen - ein Vorhaben, das nur durch längerfristig angelegte Lernprozesse zu Erfolgen führen kann.

Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte wird dann die Betriebsorientierung der Mitbestimmung und die Verbetrieblichung der Tarifpolitik einen hohen Stellenwert behalten und der Reformbedarf wird deutlich sichtbar. Die überwiegend gesetzlichen Regelungen für die betriebliche Ebene (Betriebsverfassungsgesetz) und die verschiedenen Mitbestimmungsgesetze für die Unternehmensebene waren auf Kategorien bezogen (Arbeitnehmer-, Betriebs- und Unternehmensbegriff), die sich in den letzten Jahren außerordentlich stark verändert haben. Die institutionellen Ansätze der Mitbestimmung und die tatsächlichen Entscheidungsstrukturen in der Wirtschaft fallen immer weiter auseinander: Die in der Gesetzgebung unterstellten einheitlichen und gleichförmigen Strukturen bestehen nicht mehr, sondern sind durch sehr vielfältige Gebilde abgelöst, die mit den traditionellen Methoden immer weniger zu beeinflussen sind.

Neben die in Vollzeit tätigen Arbeitnehmer, früher als Normalarbeitsverhältnis bezeichnet, treten zunehmend befristet Beschäftigte, Leiharbeitnehmer, Subunternehmer, die Scheinselbständigkeit nimmt zu, eine neue Art von Heim- und Telearbeit breitet sich aus, wobei diese Entwicklungen in ständiger Veränderung begriffen sind. Massiv sind solche Umbrüche im gesamten Dienstleistungsbereich, den neuen Industrien (Information und Kommunikation), aber auch bei Transport und Verkehr im Zusammenhang mit Privatisierung.

Eine systematische Interessenvertretung wird damit erschwert, zumal auch die Funktion des Arbeitgebers durch die Bildung von Gruppen und Sparten immer mehr aufgesplittert wird, das heißt, daß vergleichbare Erosionsprozesse im Betrieb stattfinden, der seine personelle und sachliche Abgrenzbarkeit immer mehr verliert. Hinzu kommen Vertragsbeziehungen, etwa in bezug auf Lieferverpflichtungen, Wartungsaufgaben, logistische Kooperation, auf die der Betriebsrat überhaupt keinen Zugriff hat, obwohl sie Arbeitszeiten, -bedingungen und -abläufe weitgehend festlegen. Auch hier sind die Entwicklungen im Fluß.

Ähnlich sind aus den früher festgefügten Unternehmen locker gefügte, hoch differenzierte Konzerne geworden mit einer Vielzahl teils faktisch, teils rechtlich verselbständigter Einheiten, wobei die Strategie der Konzernspitzen von den Aufsichtsräten der Tochterunternehmen oft weder überblickt noch beeinflußt werden kann, abgesehen davon, daß die Kontrollfunktion der Aufsichtsräte im Normalfall ohnehin sehr begrenzt ist. Die Rolle der Arbeitsdirektoren in den Unternehmen wird kaum thematisiert.

Offensichtlich muß eine auf Grundsachverhalte bezogene Gesetzgebung durch (kollektiv) vertragliche Absprachen beweglich an die sehr verschiedenen Realitäten in den Unternehmen und Betrieben angepaßt werden können (eine Problematik, die sich im übrigen in gleicher Weise in der Tarifpolitik stellt).

Die generelle Schwierigkeit besteht darin, eine auf Gleichheit und Einheitlichkeit ausgerichtete Regulierungsform, die tief im gesamten Instrumentarium wie in den Mentalitäten der handelnden Akteure verankert ist, unter Wahrung von Mindestbedingungen und Verfahrensweisen zu dynamisieren. Dieser Prozeß ist seit einigen Jahren im Gange. Ein wichtiger Beitrag sozialdemokratischer Politik könnte darin liegen, die Gesamtentwicklung in diese Richtung zu unterstützen und im Rahmen einer sozialstaatlichen Verantwortung eine stärkere Flexibilisierung, Differenzierung und Pluralisierung von Arbeits- und Wirtschaftsformen mit rechtlich abgesicherten Optionen zu verbinden. Die pragmatischen Lösungen, die man bisher gefunden hat, können dabei wichtige Orientierungen für rechtspolitische Verallgemeinerungen darstellen. Was davon gesetzlich geregelt werden kann, ist eine Frage der gegebenen Situation. Insgesamt sollte die Frage der rechtspolitischen Gestaltung in enger Rückkopplung mit inhaltlichen Bestandsaufnahmen durchgeführt werden, auch unter Einbeziehung der europäischen Ebene. Eine nur institutionelle Betrachtung ist dabei in jedem Fall zu eng, und ein ausschließliches Beharren auf formalen Besitzständen wird selbst im Falle des Erfolges tatsächliche Rückschläge nicht vermeiden.

Wenn man nach längerfristig tragfähigen Lösungen sucht, die der gesellschaftlichen Verantwortung und wirtschaftlichen Bedürfnissen Rechnung tragen, dann ist weder eine nur gesetzliche Regelung noch ein ausschließlicher Wildwuchs sinnvoll. Empfehlenswert sind Kombinationen gesetzlicher Festlegungen, die Grundlagen und Eckpfeiler fixieren mit (kollektiv)vertraglichen Konkretisierungen auf Branchen-, Unternehmens- und Betriebsebene, die den Bedingungen der jeweiligen Situation Rechnung tragen. Solche Verknüpfungen werden bei der beschleunigten Entwicklung einen stärker prozeßhaften Charakter haben müssen. [Fn 9: Vgl. Elmar Gerum, Mitbestimmung und Corporate Governance. Reihe "Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen", Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.] Sie müssen mit umfassenden Informationen verbunden sein, die strategischen Planungen umfassen, Betriebs- und Unternehmenspolitik in Zusammenhang sehen und die Wechselbeziehungen zwischen Tarifautonomie und Mitbestimmung beachten.

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Schlußbemerkung

Wir haben die deutsch-deutsche Entwicklung und die Bedeutung der Europäischen Union nicht als Sonderfälle behandelt. Sie erhöhen ohne Zweifel die Komplexität der Probleme, aber es ändert sich im Kern nichts an den dargestellten Sachverhalten. In Ostdeutschland zeigen sich die Schwierigkeiten mit größerer Dramatik als im Westen, weil das solide Fundament wettbewerbsfähiger wirtschaftlicher Strukturen noch zu brüchig ist mit den bekannten Folgen für Arbeit und Beschäftigung. Mitbestimmung wie Tarifpolitik sind neben der Massenarbeitslosigkeit auch durch das Fehlen industrieller Traditionen geprägt mit entsprechend begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten. Das Schwergewicht liegt auf der betrieblichen Ebene, doch oft ohne eigenes Gewicht, wobei die Tarifverträge häufig keine prägende Bedeutung entfalten können.

Auf der Ebene der Europäischen Union ist mit dem Europäischen Betriebsrat (EBR) eine Institution gebildet worden, die, gemessen an der deutschen Gesetzgebung, nur informative und konsultative Möglichkeiten eröffnet. Zugleich ist damit eine Plattform für einen systematischen Austausch von Arbeitnehmerinteressen geschaffen worden, der auf prozeßbezogene Normen setzt und Verhandlungslösungen begünstigt, freilich auf zunächst noch niedrigem Niveau. Da aber die deutsche Mitbestimmung sich ebenfalls stärker für solche Ansätze öffnet und tarifvertragliche Lösungen nicht mehr aus dem Mitbestimmungssystem ausschließt, eröffnen sich durchaus produktive Wechselbeziehungen zu den industriellen Kulturen anderer EU-Länder, wobei die Entwürfe für eine Europäische Aktiengesellschaft (EAG) sich von ähnlichen Maximen leiten lassen. Insgesamt werden nationale Grundlagen für Mitbestimmung und Tarifpolitik damit nicht aus den Angeln gehoben, aber die europäische Ebene wird an Bedeutung gewinnen.

Alles in allem ist die weitere Entwicklung unübersichtlich und kaum vorhersehbar. [Fn 10: Wolfgang Streeck, Industrielle Beziehungen in einer internationalisierten Wirtschaft, in: Friedrich - Ebert - Stiftung (Hrsg.), Globalisierung der Wirtschaft, Standortwettbewerb und Mitbestimmung. Gesprächskreis Arbeit und Soziales Nr. 70, Bad Godesberg 1996, S. 37-69.] Aber wenn die Gewerkschaften ihre Politik an den Interessen ihrer Mitglieder orientieren, auf den Triebkräften des Wandels aufbauen und die damit verbundene Vielfalt von Schutz wie Gestaltung als strategische Chance begreifen, dann werden Mitbestimmung und Beteiligung auch eine gute Zukunft haben, eine Zukunft, die marktwirtschaftlichen Anforderungen genügt und gesellschaftlichen Bedürfnissen Rechnung trägt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

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