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Hans-Ulrich Klose: Einführung

Nahezu sämtliche Industriegesellschaften leiden – so spottete kürzlich der britische Economist – am „Luxus des längeren Lebens". Ob man die Wertung, die in dieser Aussage steckt, teilt oder nicht – eines steht fest: Der demographische Wandel, die „Revolution auf leisen Sohlen" läuft, sie ist nicht aufzuhalten. Die Konsequenzen dieser Entwicklung betreffen uns alle und alle Sektoren der Gesellschaft und alle politischen Ressorts auf allen Ebenen, und zwar massiv. Obwohl das so ist, kümmert sich – worüber ich staune und erschrecke – die Politik um diese Entwicklung bestenfalls ausschnittsweise und mit verkürztem Zeithorizont. Warum das so ist, ist eine spannende Frage. Es liegt nicht an fehlender Erkenntnis, wohl aber an der Bereitschaft oder Fähigkeit, entsprechend der vorhandenen Erkenntnis zu handeln. Ein weites Feld, zu weit für einführende Bemerkungen, ich beschränke mich auf folgende:

  • 1. Die „alte Welt" wandelt sich zur „Welt der Alten". Folgt der neuen demographischen Revolution der Abstieg in graue Unbeweglichkeit?

    Alt ist nicht gleichzusetzen mit krank und hilflos. Nur 5% der 80jährigen sind pflegebedürftig. Die Altersforscher bestätigen jedenfalls unsere Alltagseindrücke, daß die heute 60- bis 80jährigen in ihrer Mehrzahl beweglich und kompetent sind. Von einer „aktiven Lebenserwartung" wird allenthalben gesprochen.

    Es entwickeln sich zwei sehr unterschiedliche Altersphasen: Eine Phase des aktiven Alters zwischen Ende 50 und Ende 70, in der ein wachsender Anteil ohne größere Beeinträchtigung lebt und vital bleibt; sowie die Phase eines zusätzlichen Alters jenseits der 80, in der Einschränkungen fühlbar werden und gesundheitliche Probleme kumulieren. Die Grenze zwischen diesen beiden Altersphasen hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich nach oben verschoben; die Experten rechnen damit, daß sie sich auch weiterhin nach oben verschiebt.

  • 2. Unsere institutionellen Engagements und Spielregeln sind auf einen weitaus höheren Anteil Älterer derzeit noch wenig zugeschnitten. Die Berliner Altersforscher Margret und Paul Baltes fassen ihr auf Individuen bezogenes Modell eines „erfolgreichen Alterns" unter der Überschrift „selektive Optimierung mit Kompensation" zusammen. Pianisten etwa beschränken sich auf ein kleineres Repertoire an Stücken, die sie häufiger spielen. Schließlich vermögen sie schnelle Passagen dadurch zu meistern, daß sie das Stück insgesamt langsamer vortragen. Ob dieser Grundgedanke auf die älter werdende Gesellschaft insgesamt übertragen werden kann, müßte geprüft werden. Bedenkenswert ist er allemal.

  • 3. Wenn es keine positiven Bilder gibt oder nur in geringem Maße, die Entwicklung also vor allem auf der negativen Soll-Seite der Gesellschaft verbucht wird, als Problem nämlich, dann ist auch die Wahrscheinlichkeit, daß etwas Positives entstehen kann, sehr gering. Das ist die eine Seite der politischen Medaille. Auf der anderen Seite warne ich vor den Fallen und Gefahren eines übertriebenen (unkritischen) Optimismus. Es gibt eben viele Gesichter des Alters, und wir sollten nicht so tun, als sei es nur schön, alt zu werden und zu sein. Erstens stimmt das nicht, und zweitens verstellt solch blauäugiger Optimismus den Blick auf Schwierigkeiten und Probleme, die wir auf gar keinen Fall übersehen dürfen.

  • 4. Es gibt bei uns einen verbreiteten demographisch begründeten Zukunftspessimismus. Die Jugend ist die Zukunft, heißt es. Wenn aber die Jugend immer mehr zur absoluten Minderheitsgruppe in der Gesellschaft wird – wie kann dann diese Gesellschaft Zukunft gewinnen? Die Antwort darauf ist klar: Die Gesellschaft muß alles dafür tun, daß die Jugend die bestmögliche Ausbildung erhält (was derzeit nicht geschieht); und sie muß die Fort- und Weiterbildung zur überlebenswichtigen vierten Säule unseres (nicht notwendigerweise staatlichen) Bildungswesens ausbauen. Ein strenger Zusammenhang zwischen dem Durchschnittsalter der Erwerbstätigen und der Leistungs- und Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist empirisch bisher nicht belegt. Belegt ist dagegen der Zusammenhang zwischen Ausbildungsstand und Produktivität für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Aus meiner Sicht ist deshalb die Diskussion über den Bildungs- und Wissenschaftsstandort Deutschland wichtiger als die allgemeine und zumeist folgenlose Standortdiskussion.

  • 5. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Deutschland verhalten sich überwiegend altersscheu und greifen bei der Charakterisierung der Entwicklung mehrheitlich zu unfreundlichen oder sogar pathologischen Begriffen. Diese Haltung ist ihrerseits pathologisch, jedenfalls verquer und auch unproduktiv im Wettbewerb mit anderen Industrieländern. Nach meinem Eindruck verläuft z.B. die Debatte in Japan energischer, offensiver und vor allem handlungsoptimistischer als bei uns. Von einer „Gesellschaft des langen Lebens" wird dort gesprochen, nicht wie hier von Überalterung, Alterslast und Vergreisung. Das MITI arbeitet derzeit an völlig neuen Industriestandards, die speziell auf Bedürfnisse von Senioren zugeschnitten sind. Leicht zu öffnende Verpackungen, einfach zu bedienende Haushaltsgeräte, lesbare Verkehrsschilder – wer solche Normen in Zukunft nicht erfüllt, hat nicht nur auf dem japanischen Markt keine Chancen mehr, mit solchen generell benutzerfreundlichen Produkten werden die Japaner auf dem Weltmarkt antreten.

  • 6. Die Entwicklungsmöglichkeiten, die sich aus der neuen Beweglichkeit des Alters ergeben, werden vielfach durch Altersmythen blockiert. Dies gilt erstaunlicherweise auch für die richtige Einschätzung von Kaufkraft, Konsumfreude und Lebensstilen der Älteren. Eines der gängigen Vorurteile lautet: Ältere Menschen sind markenfixiert, durch Werbung also nicht mehr ansprechbar. Also findet bezogen auf sie Werbung nicht statt. Das Gegenteil ist jedoch richtig: Ältere prüfen genauer und wählen entsprechend ihren sehr präzise definierten Wünschen und Bedürfnissen ganz gezielt aus, sind also ganz und gar nicht markenfixiert. Hinzu kommt: Sie verfügen über eine beträchtliche Kaufkraft. Die Amerikaner wissen das. Dort entstehen neue Märkte mit großen Expansionsmöglichkeiten, mit positiven Folgen auch für die Beschäftigung. Unsere deutschen Unternehmen könnten in dieser Frage einiges von den Amerikanern, aber auch von den Japanern lernen. Dort spricht man zu Recht vom „Silbermarkt".

  • 7. Eine aktuelle Bemerkung: Es geht in diesem Kreis und heute nicht in erster Linie um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Eine themenspezifische Einladung dazu aus „meinem Hause" (aus der Baracke) wird gerade verschickt. Für heute mögen dazu diese Anmerkungen genügen: Für die Gegenwart und die nächsten Jahre sehe ich wenig Probleme für jene, die heute Rentner sind oder es demnächst sein werden. Für heute und morgen kommt es entscheidend darauf an, die Massenarbeitslosigkeit zu senken, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen und die Rentenkassen von sogenannten versicherungsfremden Leistungen zu entlasten. Darum und um staatliche und betriebliche Kostenprobleme dreht sich die aktuelle politische Debatte in der Bundesrepublik Deutschland, die allerdings nicht allzuweit in die Zukunft reicht. Wenn in nicht allzuferner Zukunft der sogenannte Altersquotient steigt und sich mehr als verdoppelt, wenn also auf 100 Menschen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren nicht mehr 35, sondern 70 und mehr Rentner kommen, haben wir ein Problem; genauer: haben die heute 20/30/40jährigen ein Problem, für dessen Lösung ich langfristig nur zwei Ansatzpunkte sehe: Erstens müssen wir weg von der ausschließlich durch Erwerbsarbeit finanzierten Altersversorgung; und zweitens werden wir rechtzeitig dafür sorgen müssen, daß künftig eine zumindest ergänzende Altersversorgung aus auf Dauer an- und festgelegten Kapitaleinkünften zur Verfügung steht – die Politik muß dies gesetzgeberisch und vor allem steuerrechtlich vorbereiten und stützen. [ Nur zur Klarstellung: Dies sind persönliche Hinweise für die es in der Beschlußfassung meiner Partei keine Abstützung gibt.]

  • 8. Zur Erinnerung: Wir Deutschen werden nicht nur älter, sondern auch weniger. Die Bevölkerungszahl nimmt ab, und zwar im Verlauf des nächsten Jahrhunderts geradezu dramatisch. Diese demographisch bedingten Lücken durch „Binnenlösungen" (Stichwort Geburtenziffer) auszufüllen, ist unmöglich. Eine kompensatorische Einwanderungspolitik, die Einwanderung zunächst begrenzend, dann steuernd und schließlich fördernd, flankiert durch entschlossene Integrationsmaßnahmen, gehört zu dem notwendigen Mix mittel- bis längerfristig angelegter Maßnahmen. Leider wird darüber in der Politik nur selten geredet, und wenn – wie in der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel" des Deutschen Bundestages –, dann unter Ausschluß der Öffentlichkeit.

Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind enorm. Sie fordern die Selbststeuerungs- und Anpassungsfähigkeiten unserer Gesellschaft und unseres Staates in starkem Maße und zunehmend. Unsere Chancen für ein erfolgreiches Altern sind um so größer, je früher wir mit den notwendigen Reformen beginnen. Mit unserer heutigen Veranstaltung wollen wir solche Reformen anstoßen, zumindest aber das Bewußtsein für die Notwendigkeit von Reformen schärfen. Verdrängung mag im Einzelfall für den einzelnen Menschen eine verständliche, vielleicht sogar notwendige Verhaltensweise sein. Für die Gesellschaft insgesamt ist ein solches Verhalten absolut inakzeptabel, ja sogar gefährlich.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 1999

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