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Thomas Abel:Was wollt Ihr denn hier …!
Konflikte von Zuwanderern und Einheimischen und kommunalpolitische Konzepte zur Verbesserung des Zusammenlebens


Zunächst möchte ich der an mich herangetragenen Bitte entsprechen und etwas zu meiner Tätigkeit beim Deutschen Städte- und Gemeindebund sagen:

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund vertritt die Interessen der kommunalen Selbstverwaltung kreisangehöriger Städte und Gemeinden in Deutschland und Europa. Er ist kommunaler Spitzenverband der 16 kommunalen Landesverbände in Deutschland, denen kreisangehörige Städte und Gemeinden angehören.

Ich selbst bin seit dem 1. Januar diesen Jahres – das heißt mit Umzug der Hauptgeschäftsstelle von Düsseldorf nach Berlin – Referent im Dezernat für Recht und Soziales. Zu meinem direkten Aufgabengebiet zählt neben den rechtlichen Gebieten Kommunalverfassungs-, Dienst-, Ordnungs- und Datenschutzrecht auch der Bereich des Rettungswesens und natürlich auch alle Fragen im Zusammenhang mit Ausländer-, Aussiedler- und Asylrecht. Trotz der oftmaligen Betonung des Wortes „Recht" beschränkt sich meine Tätigkeit aber eben nicht nur auf die rechtlichen Gesichtspunkte, sondern erstreckt sich auch auf die damit im Zusammenhang stehenden sozialen Fragen.

Während Einzelfälle und -probleme vor Ort in der Regel durch die Geschäftsstellen der einzelnen Mitgliedsverbände des DStGB auf Landesebene bearbeitet werden, ergibt es sich aus der Stellung des DStGB als Spitzenverband, daß Gegenstand unserer Arbeit im Bereich der Aussiedlerfragen die eher allgemeinen und übergeordneten Fragestellungen sind. Ein Problem, das uns in diesem Zusammenhang immer wieder beschäftigt, sind die gesetzlichen Regelungen, die zu einer Abwälzung eines erheblichen Teils der Folgekosten der Aussiedlerzuwanderung auf die Kommunen führten. Mehr und mehr wird die Aussiedlerintegration neben der praktischen Arbeit vor Ort auch auf der Kostenseite kommunalisiert.

Doch nun zum eigentlichen Thema meines Vortrages: Am besten darstellbar ist es anhand von konkreten Beispielen. Wie Sie jedoch aus meinen einleitenden Worten über meine Tätigkeit entnehmen konnten, befasse ich mich weder schon sehr lange mit Fragen der Aussiedlerintegration noch werde ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit mit einzelnen Projekten vor Ort konfrontiert. Aus diesem Grund war ich in der Vorbereitung dieses Vortrages auf Informationen aus Kommunen und sonstigen öffentlichen Institutionen angewiesen. Bei meinen Recherchen ist mir jedoch aufgefallen, daß es zwar zahlreiche Projekte zur Integration von Aussiedlern gibt, daß sich davon aber nur eine vergleichsweise geringe Anzahl um die Verbesserung des Zusammenlebens von Aussiedlern und Einheimischen kümmert. Dies erschien mir um so erstaunlicher, als man schon seit einiger Zeit Berichten in den Medien entnehmen kann, daß es mehr und mehr zu Spannungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen kommt, die sich zum Teil sogar in Gewalttätigkeiten entladen.

Aus dem Material, das mir zur Verfügung gestellt wurde, habe ich zwei Beispiele ausgewählt, die ich Ihnen im folgenden vorstellen möchte. Dabei handelt es sich um ein Projekt in der Stadt Espelkamp, das die Verbesserung des Zusammenlebens unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen bezogen auf das gesamte Gemeinwesen zum Gegenstand hat, und ein Projekt in der Stadt Hannover, das als Reaktion auf die sich zuspitzende Lage in einem sozialen Brennpunkt gedacht war.

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Espelkamp

Bei dem ersten Beispiel handelt es sich wie gesagt um ein Projekt in der Stadt Espelkamp.

Dieses Projekt liegt zur Zeit leider erst als Skizze vor. Deshalb kann ich an dieser Stelle noch nicht über Erfahrungen berichten. Trotzdem erschien mir das Projekt, das durch das Jugendamt des Kreises Minden-Lübbecke erarbeitet wurde, ein interessantes Beispiel, um es Ihnen hier vorzustellen, da es sich zum Ziel gesetzt hat, das Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen bezogen auf eine ganze Stadt zu verbessern. Hier werden also nicht nur Teilaspekte behandelt, sei es, daß nur bestimmte Zielgruppen erfaßt werden oder nur die Situation an bestimmten Brennpunkten verbessert werden soll.

Beginnen möchte ich mit einer kurzen Schilderung der Situation in der Stadt. Die Stadt Espelkamp liegt in Ostwestfalen im Landkreis Minden-Lübbecke. Sie gehört seit ihrer Entstehung zu den größten Zentren der Flüchtlings- und Aussiedlerzuwanderung in der Bundesrepublik. Die Gemeinde Espelkamp zählte im Jahr 1939 rund 1.000 Einwohner. In dieser Zeit wurde in der Nähe mit dem Aufbau einer Munitionsanstalt des Heeres begonnen, die mit Kriegsende 1945 stillgelegt wurde. Auf dem Gelände der Anstalt wurde die Siedlungsneugründung Espelkamp-Mittwald durch und für Flüchtlinge und Vertriebene errichtet. Bereits seit Juni 1945 fanden die ersten Flüchtlinge eine Unterkunft in den Baracken auf dem Gelände. Der Umbau erster Lagerhäuser zu Wohnungen erfolgte 1948 und schon 1958 wohnten bereits 10.000 Menschen in Espelkamp. Der Aufbau des politischen Gemeinwesens in Espelkamp beruht vor allem in seiner Gründungsphase auf einer engen Kooperation zwischen Staat und Kirche. Die Siedlung sollte zu einem Modell für die sinnvolle Eingliederung der Ostvertriebenen werden. Die weitere Entwicklung der Stadt ist durch verschiedene Phasen des Wanderungsgeschehens geprägt. Die Stadt hat mehrere, in Form und Umfang unterschiedliche Zuwanderungswellen erlebt:

Zunächst die Zuwanderung der Flüchtlinge und Vertriebenen in den vierziger und fünfziger Jahren, dann in den sechziger und siebziger Jahren die Zuwanderung überwiegend türkischer Staatsangehöriger aufgrund des zu dieser Zeit bestehenden Arbeitskräftemangels. Dem folgte die erste Zuwanderungswelle von Aussiedlern in den siebziger Jahren sowie eine weitere große Zuwanderungswelle von rußlanddeutschen Aussiedlern seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Während der ersten großen Aussiedlerzuwanderung zwischen 1971 und 1981 kamen insgesamt fast 3.400 Neubürger nach Espelkamp. In der zweiten großen Zuwanderungswelle zogen zwischen 1987 und 1996 über 5.200 Aussiedler in die Stadt, so daß der Anteil der Aussiedler an der Gesamtbevölkerung nahezu 16% betrug. Die Zuwanderung erreichte allein in den zwei Jahren zwischen 1987 und 1989 eine Größenordnung von über 3.100 Neubürgern. Die Stadt hat im vergangenen Jahrzehnt gegenüber allen übrigen Gemeinden des Landes Nordrhein-Westfalen die höchsten Zuwanderungsquoten erfahren. Sie lagen nach Angaben der Stadt Espelkamp bei dem 16- bis 17-fachen des Landesdurchschnitts.

Die Bevölkerung Espelkamps besteht nunmehr zum größten Teil aus Zugewanderten. Hier sind Menschen mit unterschiedlichster Herkunft, Geschichte und Tradition, mit unterschiedlichem sozialen und kulturellen Hintergrund aufeinandergetroffen. Alt-Espelkamper trafen auf Schlesier und Sudetendeutsche, auf Posener und Brandenburger. Später trafen Türken auf Rußlanddeutsche, Aussiedler aus der Sowjetunion auf jene aus Südamerika sowie Aussiedler der siebziger Jahre auf jene der achtziger Jahre. Dies hat zu einer Vielzahl von Problemen und Abwehrreaktionen geführt, auch unter den verschiedenen Zuwanderergruppen selbst. Diese Abwehrhaltung hat sich vor dem Hintergrund verschlechterter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und hoher Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren wesentlich verschärft.

Die Bevölkerung der Stadt Espelkamp ist heute im wesentlichen von drei Gruppierungen geprägt. Dies sind die sogenannte eingesessene Bevölkerung, die Aussiedler und die Ausländer. Die Lebenssituation dieser drei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen möchte ich im folgenden kurz skizzieren:

Die sogenannte alteingesessene Bevölkerung teilt sich in die Bevölkerung der Kernstadt und die der ländlichen Ortschaften, die in den siebziger Jahren eingemeindet wurden. Sie lebt in der Regel unter gesicherten Lebensbedingungen. Sie stellt den überwiegenden Teil der Repräsentanten in den relevanten Institutionen wie Politik, Parlament, Verwaltung, Vereinen und Verbänden sowie innerhalb der herkömmlichen kirchlichen Strukturen. Sie dominiert somit auch die gesellschaftsrelevanten Entscheidungen. Als problematisch sieht diese Bevölkerungsgruppe immer mehr die Auseinandersetzung mit der großen Gruppe der Aussiedler an, da sich diese aufgrund ihrer Größe nicht ohne weiteres mit der Stadtbevölkerung assimiliert. Bei vielen Vertretern der sogenannten alteingesessenen Bevölkerung besteht sicherlich die Erwartung, daß die „neuen Bevölkerungsgruppen" sich an die bestehenden Lebensverhältnisse zumindest mittelfristig anpassen.

Als zweite Gruppe ist die der Aussiedler zu nennen. Sie zogen in den unterschiedlichen Zuzugswellen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sowie bis zur Wende zum Teil auch aus Polen in nennenswerter Größenordnung nach Espelkamp. Darüber hinaus kamen auch Aussiedler aus Paraguay in die Stadt. Dadurch, daß die Aussiedlerfamilien häufig über eine hohe Kinderzahl verfügen, liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen in dieser Gruppe sehr hoch. Deshalb sollen hier auch kurz die Probleme der jugendlichen Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion dargestellt werden.

Die Jugendlichen leiden unter mangelnder Orientierung. Ihre zum Teil nur unzureichenden Sprachkenntnisse, ihre Prägung durch eine meist stark religiös und gegenüber den hier vorherrschenden Verhaltensregeln konservativ ausgerichtete Großfamilie sowie durch ein Gesellschaftssystem, in dem der Staat als übermächtig erlebt wurde, führt zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Integration dieser Gruppe. Junge Frauen sind häufig sehr unauffällig. Doch insbesondere junge Männer im Alter von 16 bis 23 Jahren zeigen eine hohe Gewaltbereitschaft. Sie schließen sich in Cliquen zusammen und versuchen eine sogenannte männergerechte Freizeitgestaltung bis hin zu Männlichkeitsriten und kriminellen Handlungen. Gegenüber den ihnen bekannten Lebensentwürfen einer männlichen Biographie, nämlich kurzer Jugendzeit und schneller Familiengründung, sehen sie sich hier einer Zwangsverlängerung ihrer Jugend ausgesetzt. Sie gehören auch hier in ihrer neuen Heimat wieder zu einer Randgruppe. Den Staat erleben sie gegenüber dem ihnen bekannten System als schwächlich oder ohnmächtig. Jugendgerichtshilfe oder Auflagen der Jugendgerichte sind für sie keine spürbaren Strafen.

Ausländer bilden die dritte relevante Bevölkerungsgruppe. Zum Ende des Jahres 1996 waren von den fast 28.000 Einwohnern der Stadt Espelkamp 1.891 Ausländer. Davon hatten wiederum 1.048 die türkische Staatsangehörigkeit. Bei den heute in Espelkamp lebenden jungen Ausländern handelt es sich in erster Linie um die Nachkommen der in den sechziger und siebziger Jahren aufgrund des Arbeitskräftemangels insbesondere in weniger qualifizierten Bereichen zugezogenen sogenannten Gastarbeiter. In dieser Gruppe tauchen die üblichen Schwierigkeiten, wie sie Ausländer anderenorts auch erleben, auf. Den Jugendlichen fällt es schwer, die an sie gestellten Anforderungen aus dem Herkunftskulturkreis ihrer Eltern und der hiesigen sozialen Wirklichkeit zu vereinbaren.

In den letzten Jahren erhöhten sich in der Stadt Espelkamp die Problemsituationen, die sich aus dem Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ergeben. Verschärfend wirkte sich hier eine hohe Arbeitslosigkeit aus. Gerade im gewerblich-technischen Bereich brechen in der Stadt Espelkamp überproportional viele Arbeitsplätze weg, die vorher häufig von Aussiedlern besetzt waren. Bei den angesprochenen Problemen fallen folgende besonders auf:

– Vandalismus und aggressives Verhalten von Jugendlichen im Stadtgebiet;

– zum Teil Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen;

– große Vorbehalte gegenüber Andersdenkenden, vor allem gegenüber den sehr dogmatisch orientierten mennonitischen und baptistischen Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion;

– offene, sichtbare Drogenszene im Innenstadtbereich.

Als Reaktion auf die geschilderten Probleme hat das Jugendamt des Landkreises Minden-Lübbecke die Projektskizze, die ich Ihnen hier vorstellen möchte, entwickelt. Sie steht unter dem Titel: „Zusammenleben in Espelkamp – Verbesserung des Verständnisses und der Akzeptanz zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Stadtgebiet". Leider ist noch nicht sicher, ob dieses Projekt überhaupt – und wenn, dann wann – verwirklicht werden wird. Trotzdem möchte ich Ihnen die wesentlichen Eckpunkte der Skizze darstellen:

Ziel des Projektes ist es, das Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Fraglich ist jedoch, ob dies auch von allen Bevölkerungsgruppen gewünscht wird. Fraglich ist dies insbesondere aus folgenden – zum Teil bereits erwähnten – Erwägungen: In der Gruppe der alteingesessenen Bevölkerung herrscht größtenteils die Erwartung vor, daß gelungene Integration und somit eine Voraussetzung des Zusammenlebens gleichzusetzen ist mit vollendeter Anpassung. Bei den Aussiedlern scheint es so zu sein, daß das Verbleiben in einer Gruppe mit gleichen Lebenserfahrungen die Sicherheit vermittelt, die sie benötigen, um den Wechsel der Kulturkreise zu verkraften. Dies trifft insbesondere auf die in ihren Kirchengemeinden verwurzelten Personen zu, die sich dabei sehr bewußt von den in ihrer neuen Umgebung vorherrschenden Normen und Werten abgrenzen, da diese mit ihren Vorstellungen vom Leben als Christ nicht übereinstimmen. In der Gruppe der Ausländer stellt sich besonders in der älteren Generation das Problem, das auch sie Halt in mitgebrachten Traditionen sucht, während die nächste Generation zwischen den durch ihre Eltern vermittelten Erwartungen und den Erwartungen des sozialen Umfeldes steht.

Bisher ist noch keine Abstimmung unter den unterschiedlichen Gruppen im Sinne einer gemeinsamen Zielentwicklung erfolgt, wobei die genannten unterschiedlichen Erwartungen Berücksichtigung erfahren hätten.

Das Jugendamt schlägt in seiner Projektskizze unter der Voraussetzung, daß alle Bevölkerungsgruppen an der Verbesserung des Zusammenlebens ein starkes Interesse haben, zur Erreichung dieses Zieles eine Bündelung aller betroffenen Bevölkerungsgruppen und aller bisher mit der Thematik befaßten Gruppierungen in der Stadt Espelkamp vor. Diese Bündelung soll auf der Leitungsebene erfolgen.

Bei dem angestrebten Ziel, der Verbesserung des Zusammenlebens in Espelkamp, handelt es sich um eine umfassende Querschnittsaufgabe. Zwar haben bisher verschiedene Gruppierungen, jede an ihrer Stelle, an dieser Thematik gearbeitet und vereinzelt gab es auch schon Absprachen und Kontakte zwischen den Gruppen, doch fehlt eine organisierte Abstimmung auf der Leitungsebene zwischen den prozeßbestimmenden Organisationen. Eine Verbesserung der Lebenssituation der gesamten Stadtbevölkerung setzt aber eine Abstimmung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen voraus, und zwar auf der Leitungsebene in Form einer Projektlenkungsgruppe. Eine solche Gruppe soll sich nach Vorstellung des Jugendamtes aus den aus der Übersicht ersichtlichen Gruppen zusammensetzen.

Um das Gremium in einer arbeitsfähigen und überschaubaren Größe zu halten, sollten Gruppen, die vergleichbare Aufgaben wahrnehmen, gemeinsame Vertreter entsenden. Aufgabe der Projektlenkungsgruppe soll es sein, einen abgestimmten Zielekatalog zu formulieren und daraus für alle Akteure die notwendigen Maßnahmen abzuleiten. Nach Ansicht des Jugendamtes macht es die Tatsache, daß die Gruppe durch Vertreter bestückt wird, die bestimmte Interessen vertreten, notwendig, sowohl den Zielfindungsprozeß als auch die Aufstellung der daraus abzuleitenden Maßnahmen und die Aufgabenverteilung von einer neutralen Stelle, d.h. von außen moderieren zu lassen. Jede der an der Projektgruppe beteiligten Gruppen ist jeweils im eigenen Zuständigkeitsbereich für die Umsetzung und die Einbeziehung der entsprechenden Mitarbeiter und Betroffenen verantwortlich. Nach Ansicht des Jugendamtes sollten sich alle an der Projektgruppe beteiligten Gruppierungen für die Phase der Zielfindung bis hin zu der Verteilung der einzelnen Aufgaben auf den jeweiligen Ausführenden einen Zeitrahmen von maximal sechs Monaten setzen. Die sich daran anschließende Umsetzung dürfte weitere zwei Jahre in Anspruch nehmen. Über den gesamten Prozeß ist zur besseren Transparenz und zur Übertragbarkeit auf vergleichbare Problemkonstellationen eine Dokumentation anzufertigen.

Organigramm eines Projektes
„Besseres Zusammenleben in Espelkamp"
[Organigramm - Bild 1]
[Organigramm - Bild 2]

Zusammenfassend möchte ich zu dem soeben vorgestellten Projekt sagen, daß insbesondere durch die Schilderung der momentanen Situation in Espelkamp deutlich geworden sein dürfte, daß entsprechend den Vorstellungen des Jugendamtes eine Verbesserung des Zusammenlebens der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wohl nur durch eine Zusammenarbeit aller dieser Gruppen erreicht werden kann. Allerdings ist Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit der feste Wille der Beteiligten, das Zusammenleben zu verbessern und zur Erreichung dieses Zieles von eigenen Vorstellungen abzurücken, das heißt Kompromißfähigkeit zu beweisen. Wenn ich mir an dieser Stelle die Ausgangssituation mit den zum Teil sehr gegensätzlichen Erwartungen insbesondere der Jugendlichen der einzelnen Bevölkerungsgruppen in Erinnerung rufe, denke ich, daß dies zwar nicht unmöglich sein muß, aber doch zumindest ein sehr schwieriges Unterfangen darstellt. Es gilt, einen gemeinsamen Weg zwischen der Erwartung der sogenannten alteingesessenen Bevölkerung an alle Zuwanderer, sich völlig anzupassen, und dem Wunsch der Zuwanderer, zumindest einen Teil ihrer bisherigen kulturellen Identität, auch wenn sie im Widerspruch zu in der neuen Umgebung vorherrschenden Überzeugungen stehen mag, zu bewahren. Dabei ist aus meiner Sicht noch die besondere Schwierigkeit zu berücksichtigen, daß sich ausländische Jugendliche, die bereits in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben, jugendlichen Spätaussiedlern gegenübersehen, die zwar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, denen das Leben in Deutschland aber sehr viel fremder ist als z.B. ihren türkischen Altersgenossen.

Als abschließende Information zur Situation in Espelkamp kann ich Ihnen noch mitteilen, daß am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück ein auf mehrere Jahre veranschlagtes Forschungsprojekt über Espelkamp angesiedelt ist. Das Projekt wird von Herrn Professor Dr. Klaus J. Bade geleitet. Es geht dabei um Anfänge, Aufbau und Entwicklung der Stadt Espelkamp unter besonderer Berücksichtigung der Zuwanderung und Eingliederung von Flüchtlingen, Vertriebenen und Aussiedlern. Ergebnisse des Projektes werden in diesem und im nächsten Jahr durch das Institut veröffentlicht.

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Jugendtreff/Jugendkontaktladen (JUKO) in Hannover, Stadtteil Vahrenheide

Bei dem zweiten Projekt, daß ich Ihnen vorstellen möchte, handelt es sich im Gegensatz zu dem umfassenden Ansatz in Espelkamp um die Reaktion der Stadt Hannover auf die aktuelle Entwicklung in einem sozialen Brennpunkt. Die Reaktion bestand in der Einrichtung eines Jugendtreffs sowie dem Einsatz von Streetworkern.

Angesiedelt ist diese Einrichtung im Stadtteil Vahrenheide-Ost im Bereich zweier Straßenzüge, die durch eine dichte Hochhausbebauung mit engen Wohnverhältnissen geprägt sind. Die Bewohner sind unterschiedlichster Herkunft. Es handelt sich vorwiegend um Deutsche, Kurden, Türken, Sinti und Roma sowie Italiener und Spätaussiedler aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Durch diese Zusammensetzung der Bewohnerstruktur ergeben sich erhebliche soziale Spannungen, von denen besonders Kinder und Jugendliche betroffen sind.

Die Beschreibung der Lebenssituation dieser Jugendlichen sowie ihre daraus resultierenden Verhaltensweisen entsprechen den Angaben, die ich Ihnen bereits hinsichtlich der Jugendlichen in Espelkamp vorgetragen habe. Die Jugendlichen verfügen über keine ausreichende Sprachkompetenz, haben nur eine ungenügende Schulausbildung, es fehlt ihnen die soziale Handlungskompetenz im Umgang mit Ämtern und Institutionen und außerdem haben sie aufgrund der erlebten Situation ein verändertes Rechtsempfinden. Der immer stärker nachlassende Rückhalt in der Familie oder der Nachbarschaft sowie Identitätsprobleme mit der Folge mangelnder Konfliktfähigkeit und mangelnder Frustrationstoleranz führen gerade bei ihnen zu einer Orientierungs- und Perspektivlosigkeit. Zur Stärkung der eigenen Identität bilden die Jugendlichen unterschiedliche Gruppierungen, die immer mehr Waffen tragen und sie auch benutzen. Die gesamte Lebenssituation führt oftmals zu Konflikten und gewalttätigen Auseinandersetzungen.

In dieser Situation setzte sich die Stadt Hannover das Ziel, für Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14 – 27 Jahren, d.h. für ca. 600 Personen aller Nationalitäten in dem genannten Bereich des Stadtteiles Vahrenheide, gezielte Freizeitaktivitäten anzubieten, einen reviernahen und damit dem Lebensraum und -stil der Zielgruppe entgegenkommenden Jugendkontaktladen aufzubauen und durch Streetworker Hilfe bei der Lebensorientierung anzubieten.

Hilfe bei der Lebensorientierung umfaßt sowohl die Bereitstellung des fachlichen Wissens als auch des professionellen Handelns der Streetworker bei Notlagen und Krisensituationen des einzelnen wie z.B. Schul-, Berufs- und Wohnungsproblemen und bei der Entwicklung und Einübung sozialer Kompetenzen. Durch die genannten Maßnahmen sollten die Perspektiven des einzelnen und der unterschiedlichen Gruppen verbessert werden, so daß Konfrontationen als Reaktion auf die bestehende Perspektivlosigkeit abgebaut werden können.

Hierfür eignet sich der Einsatz von Streetworkern besonders, da sich diese nicht ausschließlich in einer Institution in ihrem Büro befinden, sondern die Jugendlichen an ihren Treffpunkten wie z.B. Parks oder Fußgängerzonen aufsuchen. Der Streetworker ist dadurch für die Jugendlichen direkt ohne die Hemmschwelle des Besuches einer Institution ansprechbar. Erforderlich für den Streetworker ist allerdings, daß er von den Jugendlichen akzeptiert wird. Er muß sich ihr Vertrauen erarbeiten und flexibel auf wechselnde Situationen reagieren. Streetwork ist daher eher langfristig angelegt. Die Kontaktaufnahme muß durch die Jugendlichen freiwillig erfolgen. Der Streetworker kann sich nicht aufdrängen. Hilfe im Einzelfall kann er nur leisten, wenn sich der Jugendliche ihm mit seinem Problem offenbart. Nach außen ist der Streetworker Sprachrohr der Jugendlichen und deshalb in gewissem Masse parteilich.

Als Gegenpol zur mobilen Arbeit der Streetworker auf der Straße ist die Einrichtung eines Jugendkontaktladens gedacht. Dieser hat nicht die Funktion eines Jugendzentrums. Hier werden sowohl gemeinsame Aktivitäten in der Gruppe wie sportliche Aktivitäten oder Fotokurse angeboten als auch die Möglichkeit der Wahrnehmung von Beratungen z.B. im Bereich Migration oder Schularbeiten gegeben. Darüber hinaus ist der Kontaktladen für die Jugendlichen auch ein Stück privater Raum, in den sie sich zurückziehen können, eine Art verlängertes Wohnzimmer. Und er bietet den Streetworkern die geeignete Atmosphäre, erste Kontakte, die sie zu den Jugendlichen auf der Straße aufgenommen haben, zu vertiefen.

Für den Erfolg des Projektes in Hannover spricht, daß es sich inzwischen zu einer festen Institution in dem Stadtteil entwickelt hat, die durch die Jugendlichen angenommen wird. Und dies, obwohl es zunächst nur für eine begrenzte Zeit als ABM-Projekt geplant war.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 1998

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