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TEILDOKUMENT:




III. Die ökonomischen Bestimmungsfaktoren



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1. Theoretische Grundlagen



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1.1. Hypothesen der normativen und positiven Theorie der Wirtschaftspolitik

Auf welche Weise kann die Gemeinschaft der 15 europäischen Staaten die gesteckten sozialen Ziele am besten verwirklichen? Auf welche Weise werden die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sie erreichen wollen? Beide Fragen haben jeweils ihre Berechtigung. Auf die erste Frage kann eine Antwort mit Hilfe der normativen Theorie der Wirtschaftspolitik gesucht werden. Zur Antwort auf die zweite Frage muß auch die positive Theorie der Wirtschaftspolitik sowie die Theorie der Sozialpolitik herangezogen werden.

Die normative Theorie der Wirtschaftspolitik ist hilfreich für die selbstlosen Politiker, Verwalter (Bürokraten) und Interessenvertreter, die sich in den Dienst des Allgemeinwohls stellen und nach einem Instrumentarium zur Bewertung der Vorteilhaftigkeit internationaler institutioneller Arrangements suchen. Indem die EU internationale öffentliche Güter in größerem Umfang und mit niedrigeren Organisationskosten als die Nationalstaaten anbietet oder in Übereinstimmung mit spieltheoretischen Begründungen für internationale Organisationen Maßnahmen zum Durchbruch verhilft, die vom Wähler sonst nicht akzeptiert würden, obwohl sie im öffentlichen Interesse liegen, könnte die EU den größtmöglichen Beitrag zur Verbesserung der sozialen Lage in der Gemeinschaft leisten. So lauten die Kernthesen der normativen Theorie. [ Zu den normativen Begründungen für Aktivitäten internationaler Organisationen siehe: Roland Vaubel, 1985.]

Die Existenz der gemeinsamen Agrarpolitik mit ihren hohen Kosten für die Gesamtwirtschaft in der EU und Drittländer mag als ein Beleg dafür genügen, daß die selbstlosen Politiker, Verwalter und Interessenvertreter als Adressaten der normativen Theorie in Europa in die Minderheit geraten können. Die Entscheidungen im Ministerrat dürften Einflüssen unterliegen, wie sie von der positiven Theorie der Wirtschaftspolitik beschrieben werden. Diese Theorie geht von der Eigennutzmaximierung als Verhaltensnorm auch im politischen Bereich aus; Politiker, Verwalter, Interessenvertreter verfolgen an erster Stelle das Wohl ihrer eigenen Person und nicht das Gesamtwohl.

Die positive Theorie [ Roland Vaubel, 1985.] liefert drei Erklärungshypothesen des Verhaltens der europäischen Entscheidungsträger:

- Beschränkung des Politikwettbewerbs, [ Politikwettbewerb kommt in einem gemeinsamen Marktgebiet durch Ab - oder Zuwanderung von Personen und Kapital sowie durch Verlagerungen des Waren - und Dienstleistungshandels zustande; bei zu hohen Rechtsnormen und Standards gerät die Politik des betreffenden Landes unter den Zwang, die Rechtsnormen und Standards an die der Nachbarländer anzupassen oder auf eine Harmonisierung der Normen und Standards auf dem höchsten Niveau zu drängen. Dieser Zwang entsteht, weil einerseits Personen zuwandern, die öffentliche Dienste und Leistungen in Anspruch nehmen, die ohne Preis oder Verpflichtung zur Gegenleistung angeboten werden (Bildungsangebote, Gesundheitsdienste, Existenzsicherung/Sozialhilfe etc.) und andererseits Personen und Kapital abwandern, die mit Steuern und Abgaben (einschließlich nicht - fiskalischem Aufwand) belastet werden, die höher als im Ausland sind. Abwanderungen mögen auch durch unterschiedliche Qualitäten öffentlicher Güter verursacht werden. Beispielsweise ziehen Länder mit hoher Qualität der Güter innere und äußere Sicherheit und Rechtssicherheit bei effizienterer Produktion dieser Güter mobile produktive Personen und Kapital an. Harmonisierung auf höchstem Schutzniveau könnte eine Abschwächung des Wettbewerbs bewirken. Jedoch entsteht das Problem, wer die fiskalischen und volkswirtschaftlichen Kosten der Harmonisierung trägt, die in den Ländern auftreten, die ihre Rechtsnormen und Standards an das höhere Niveau anpassen müssen. Diese Länder werden sich bemühen, die Kosten - wie bei der Agrarpolitik - ganz oder teilweise auf die Gemeinschaft bzw. auf die Netto–Beitragszahler zum EU - Haushalt zu überwälzen.]

- Abwälzung schmutziger Arbeit und

- Eigeninitiative der Bürokratie.

Die positive Theorie kann erklären, daß es Maßnahmen auf europäischer Ebene gibt, die nicht im öffentlichen Interesse aller Länder liegen und auch nicht vom Wähler gewünscht werden (Vaubel, 1995; Klein, 1997, S. 214). Die Beweisführung hierfür mag nicht immer leicht sein. [ Als ein Beispiel mag die Diskussion um das deutsche Interesse an den EG - Finanzhilfen dienen. Diese Finanzhilfen werden durch die hohen deutschen Nettobeiträge zum Haushalt der EU ermöglicht; Deutschland, d.h. seine Steuerzahler, finanziert rund 60% des Nettohaushalts der EU. Eine Mehrheit der Wähler würde bei einer Abstim mung niedrigere Nettobeiträge befürworten. Liegt die derzeitige Höhe der Nettobeiträge gleichwohl im öffentlichen Interesse? Die Nettozahlungen werden verschiedentlich in Deutschland damit gerechtfertigt, daß "... ein großer Teil der von Deutschland mitfinanzierten Maßnahmen der EU zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in Form von Aufträgen an deutsche Unternehmen nach Deutschland zurückfließt... So wird der Bau des neuen Athener Flughafens zu nahezu 80% aus dem Kohäsionsfonds finanziert, aber von der deutschen Firma Hochtief gebaut" (Peter Hort, 1997). Im Kern besagt das Argument, daß aus einer DM zwei DM gemacht werden können: Der Empfänger der Finanzhilfen erhält eine DM und der Geber, der eine Finanzhilfe in Höhe von einer DM gewährt hat, bekommt eine DM und zwar vom Empfänger. Diese "Logik" würde auch im Falle von Finanzhilfen zwischen einzelnen Staaten und innerhalb eines Staates anwendbar sein. Sie rechtfertigte für sich genommen noch nicht ein Tätigwerden der EG.]

In der bisherigen europäischen Politik lassen sich Beispiele für die Relevanz der normativen und der positiven Theorie finden. Neben Maßnahmen zur Intensivierung des Wettbewerbs (Programm zur Vollendung des Binnenmarkts) gibt es Maßnahmen, die den Wettbewerb zwischen den politischen Systemen durch Politikabsprachen einschränken, z.B. vermehrte Umverteilung im Rahmen der Europäischen Fonds und Rechtsangleichung an das Recht des Landes mit dem höchsten Schutzniveau. [ Siehe hierzu auch Winfried Schmähl, 1996. Schmähl meint: "Beide Tendenzen scheinen sich jedoch verstärkt zu haben, zum einen der Wettbewerb (auch zwischen den Systemen, zumindest was die nationalen und internatio nalen Diskussionen betrifft), aber zum anderen auch - trotz "Subsidiaritäts - Philosophie" - die Möglichkeiten zur politischen Gestaltung auf europäischer Ebene, wenn man die durch den Maastrichter Vertrag erweiterten Hand lungsmöglichkeiten auf sozialpolitischem Gebiet - insbesondere zur Schaffung von Mindestbedingungen - berücksichtigt. "] Es gibt wohl auch Aktionen, die aus der Eigeninitiative der Bürokratie heraus zustande gekommen sind. [ Diese Vermutung kann sich stützen auf den Subsidiaritätsbericht 1996 der Bundesregierung (von Borries, 1996). Hier heißt es: "Als bedenklich wird allerdings die fortbestehende Tendenz der Kommission angesehen, für ver schiedene Sachbereiche - vor allem im Sozialbereich - finanzwirksame vorzu schlagen, obwohl die entsprechenden Maßnahmen in ausreichender Weise von den Mitgliedstaaten getroffen werden können."]

Neben den Erklärungsansätzen der Ökonomen gibt es Thesen aus der Sozialwissenschaft zu den Bestimmungsgründen der Sozialpolitik, die im folgenden vorgestellt und auf ihre Anwendbarkeit im Rahmen dieser Arbeit überprüft werden sollen. Möglicherweise stimmen sie mit den vorgestellten Ansätzen der normativen und positiven Theorie überein oder ergänzen sie.

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1.2 Die Erklärungsansätze der Theorie der Sozialpolitik

Nach der Theorie der Sozialpolitik (Lampert, 1996) gibt es drei Größen, die die staatliche Sozialpolitik primär bestimmen: Problemlösungsdringlichkeit, Problemlösungsfähigkeit und Problemlösungsbereitschaft. Diese Begriffe sind nicht der in der Theorie der Wirtschaftspolitik üblichen Terminologie entlehnt. Ihre Inhalte sind erläuterungsbedürftig:

1. Problemlösungsdringlichkeit: Der Beschluß für eine sozialpolitische Maßnahme hängt davon ab, wie dringlich die Deckung des sozialpolitischen Bedarfs im Vergleich zu einem anderen Bedarf eingestuft wird; man kann daher auch vom relativen sozialen Nutzen einer Maßnahme als einer Bestimmungsgröße staatlicher Politik sprechen.

2. Problemlösungsfähigkeit: Der Beschluß einer Maßnahme hängt davon ab, ob Mittel für einen sozialpolitischen Bedarf bzw. für ein Ziel vorhanden sind. Das Dilemma ist, daß Mittel immer knapp sind. Mittel ohne konkurrierende Verwendungsmöglichkeiten gibt es nicht. Jedoch besteht im allgemeinen die Vermutung, daß Länder, deren Produktivkräfte bereits stärker entwickelt sind und die daher über ein höheres Bruttoinlandsprodukt je Einwohner verfügen, knappe Mittel mit geringeren Opportunitätskosten als weniger entwickelte Länder für soziale Ziele mobilisieren können.

3. Problemlösungsbereitschaft: Die Inhaber politischer Macht müssen bereit sein zu entscheiden, ob, in welchem Umfang und wie knappe Ressourcen zur Lösung von sozialen Problemen bereitgestellt werden; die Bereitschaft nationaler Regierungen und Parlamente zum Ressourcentransfer an die EU hängt bei nutzenmaximierendem Verhalten davon ab, wie dieser Transfer die Chancen zur Wiederwahl beeinflußt. Werden sie nicht verbessert oder sogar verringert, ist die Breitschaft gering.

Diese von Lampert als primär bezeichneten Bestimmungsfaktoren werden wiederum von einer Vielzahl sekundärer Determinanten beeinflußt, beispielsweise das Wirtschaftssystem, das gesellschaftliche Wertesystem, das Problembewußtsein gesellschaftlicher Gruppen und Träger der Politik, der Reichtum an natürlichen Ressourcen, das Niveau wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.

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1.3. Thesen zu den künftigen Bestimmungsfaktoren der europäischen Sozialpolitik

Im Hinblick auf das zukünftige Entscheidungsverhalten der Organe der EU wird hier die These vertreten, daß es mehr als bisher in Übereinstimmung mit den Kriterien der normativen Theorie der Wirtschaftspolitik stehen wird. Die Bereitschaft der Entscheidungsträger, vermehrt Maßnahmen zu beschließen, die vom nationalen Wähler nicht akzeptiert werden, obwohl sie im öffentlichen Interesse liegen, wird wachsen. Im einzelnen wird behauptet und in den folgenden Kapiteln versucht zu belegen:

- Finanztransfers durch die europäischen Fonds werden stagnieren oder sogar sinken.

- Eine Harmonisierung des Sozialrechts auf höchstem Niveau als ein mögliches Instrument der europäischen Sozialpolitik wird gemieden werden. Statt dessen wird den Marktkräften mehr Spielraum dafür gegeben, die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede durch privaten Ressourcentransfer und durch Imitation des überlegenen Rechts anzugleichen. In den Ländern mit den höchsten Sozialrechtsnormen bedeutet diese Imitation, daß das durch Normen angestrebte Niveau des sozialen Schutzes gesenkt wird.

Diese Thesen über die künftige Mittelwahl in der Sozialpolitik stützen sich nicht auf die Annahme, daß künftig die Adressaten der normativen Theorie in Politik, Verwaltung und Verbänden die Überhand gewinnen. Vielmehr wird im folgenden argumentiert werden, daß diese Wahl vor allem durch ökonomische Faktoren erzwungen wird und Deutschland unter den Befürwortern dieser Wahl aus ökonomischen Gründen an vorderer Stelle stehen wird.

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2. Zur Evidenz der ökonomischen Bestimmungsfaktoren in der europäischen Sozialpolitik



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2.1. Zum Vorrang der ökonomischen Faktoren

Die Bereitschaft der nationalen Regierungen im Ministerrat, soziale Probleme auf europäischer Ebene zu lösen, hängt davon ab, ob sich die Entscheidungen für gemeinsame Sozialmaßnahmen national in Wählerstimmen ummünzen lassen. Die Aussichten hierfür hängen nicht zuletzt davon ab, wer die Kosten für die Sozialmaßnahmen der EU trägt jedes Mitgliedsland für sich oder die Gemeinschaft.

Müssen die Kosten einer europäischen Entscheidung im eigenen Land und nicht von der Gemeinschaft aufgebracht werden, so ist die Neigung, einem solchen Beschluß zuzustimmen, gering. Solche Maßnahmen könnten auch in nationaler Verantwortung beschlossen werden. In repräsentativen Demokratien ist die individuelle Bereitschaft der Entscheidungsträger, nationale soziale Maßnahmen zu ergreifen, im allgemeinen groß. Denn die Angebots- und Nachfragebedingungen auf dem politischen Markt für Wählerstimmen sind so, daß Parteien und Kandidaten mit sozialer Ausrichtung tendenziell wettbewerbsfähiger sind als solche ohne soziale Programmatik - solange diese die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nicht erkennbar für alle zu überfordern scheint. Es dürfte kein Zufall sein, daß alle 15 Mitgliedstaaten der EU durch Regierungen geführt werden, die von sozialen Parteien - christlich soziale oder nicht-christlich soziale - gebildet oder mitgetragen werden. Die Bereitschaft von Repräsentanten der Mitgliedstaaten im Ministerrat, europäische soziale Probleme - unter sonst gleichbleibenden Bedingungen - zu lösen, würde die Chance der Wiederwahl durch den nationalen Wähler kaum verbessern, weil bei diesem nationale Interessen Priorität genießen (Klein, 1997, S. 228).

Stehen aber gemeinsame soziale Maßnahmen zur Abstimmung im Ministerrat, die mit einer Umverteilung von den wohlhabenderen Ländern zu den weniger wohlhabenden einhergehen, oder die Produktionskosten eines oder mehrerer Länder aufgrund einer Anhebung von Rechtsnormen und Standards erhöhen, so wird die Zustimmung der Vertreter derjenigen Länder gewiß sein, die durch die Umverteilung gewinnen oder deren Kostenwettbewerbsfähigkeit steigt. Die Bereitschaft der anderen Länder, einer solchen gemeinsamen Sozialpolitik zuzustimmen, wird entsprechend gering sein. Es ist daher kein Zufall, daß es keinen originär europäischen Katalog sozialer Ziele gibt, der den auf nationaler Ebene einschlägigen Zielkatalogen übergeordnet ist. [ Vgl. Lampert, 1996. Ein solcher europäischer Katalog würde folgende Ziele umfassen: die Sicherung eines euro paweiten sozialen (inneren) Friedens, die Sicherung minimaler Existenzbedingungen für alle, die Erhaltung der Arbeitskraft, die Erhaltung der sozialen Gerechtigkeit (Startgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit).] Es gibt nur wenige durch das Vertragsrecht definierte Kompetenzen, und zwar für folgende Ziel-Mittel Systeme:

- die Verbesserung der Arbeitsumwelt, um die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer (Ziel) durch Harmonisierung der in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt (Mittel) zu schützen,

- die Steigerung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten (Ziel) und den Einsatz von Mitteln aus dem Struktur- und Kohäsionsfonds (Mittel) und

- die Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte im Binnenmarkt (Ziel) durch den Europäischen Sozialfonds (Mittel).

Der Entwurf des Amsterdamer Vertrags definiert zwar neue sozialpolitischen Ziele der Gemeinschaft- darunter Förderung der Beschäftigung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, einen angemessenen sozialen Schutz, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau -, grenzt sie jedoch wiederum durch Definition von Gebieten, auf denen diese verfolgt werden sollen, ein. Nach dem vorliegenden Vertragstext ist es den Organen überlassen, künftig unter Beachtung der einzelstaatlichen Gepflogenheiten, der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und anderer Bedingungen, ein oder mehrere der im Vertrag vorgeschlagenen Instrumente auszuwählen, mit denen die definierten Ziele realisiert werden sollen. Wiederum dürfte es kein Zufall sein, daß auf Feldern der Sozialpolitik, die die Kostenwettbewerbsfähigkeit oder die Beitragslasten tangieren, das Prinzip der Einstimmigkeit vorgesehen ist, z.B. auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, des Arbeitnehmerschutzes, der Kollektivvereinbarungen und der Finanzierungsschlüssel.

Nur eine Übertragung von Gesetzgebungskompetenzen an einen Unionstag, ein von den Bürgern der Union direkt gewähltes Parlament, könnte das Anreizsystems des politischen Marktes ändern und die Bereitschaft erhöhen, eine Sozialpolitik mit einer eigenständigen europäischen Dimension voranzutreiben. Einen solchen Unionstag gibt es aber nicht.

Aus Geist und Buchstaben des Vertragsrechts läßt sich das Gebot ableiten, die knappen Mittel in der EU so zu verwenden, daß sie den größtmöglichen Nutzen zu den Vertragszielen liefern, nämlich einen ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern (EU-Vertrag, Art. B). Die Entscheidungsregel "Maximierung des Nutzens knapper Mittel" ist leicht aufzustellen. Die Schwierigkeit beginnt schon bei dem Versuch, den Nutzen zu identifizieren.

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2.2. Nicht-Additivität von nationalen Sozialnormen

Bei Entscheidungen von Individuen oder staatlichen Organisationen über soziale Aktivitäten handelt es sich um eine Optimierungsaufgabe: Bedürfnisse (Nachfrage), die letztlich unbegrenzt sind, müssen mit der Knappheit von Ressourcen (Angebot) vereinbart werden. Einen Preismechanismus, der auf Märkten Angebot und Nachfrage koordiniert, gibt es im sozialen Bereich nicht, weil die "Nachfrager" über keine Kaufkraft verfügen. Die "Nachfrager" nach sozialen Leistungen sind darauf angewiesen, daß die Geber aus ihrer Handlung einen immateriellen Nutzen ziehen, der sie für ihren Konsumverzicht (Minderung ihres Vermögens/Einkommens) entschädigt. Da Menschen auch soziale Wesen sind und durch Geben (ohne zu Nehmen) ein höheres Nutzenniveau erreichen können, kommt es freiwillig zu einem Transfer knapper Mittel von Reichen zu Armen. In einem großen Bereich des sozialen Bedarfs sind Spontaneität, Freiwilligkeit typisch und werden als ausreichend angesehen. Private Hilfsaktionen bei Naturkatastrophen sind hier als Beispiel zu nennen. In einem weiteren Bereich sozialer Problemlagen sind private Organisationen tätig, die das freiwillige Leistungsangebot mit dem Bedarf von Hilfe- und Schutzbedürftigen koordinieren. Pflege von Kranken und Gebrechlichen, Linderung von existentiellen Notlagen durch kirchliche und andere Organisationen sind Beispiele für Aktivitäten privater Organisationen. Jedoch dürfte aufgrund der Unbegrenztheit der menschlichen Bedürinisse eine Sättigung des sozialen Bedarfs nicht zustande kommen. Es wird eine Bedarfslücke bleiben. Diese allein rechtfertigt noch nicht ein Eingreifen des Staates.

Auch eine staatliche Sozialpolitik hat es mit dem Gesetz von der Unbegrenztheit der Bedürfnisse und der Begrenztheit der Ressourcen zu tun. Es müßte gezeigt werden, daß die staatliche Sozialpolitik bessere Ergebnisse hervorbringt als der "Markt" durch die spontanen sozialen Handlungen der vielen "Marktteilnehmer". Im Falle der staatlichen Sozialpolitik ist es das Entscheidungsmodell der repräsentativen Demokratie, das in den Staaten der EU die Koordinationsaufgabe löst. Aus Wahlen hervorgegangene Repräsentanten entscheiden in Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip über soziale Maßnahmen. Die Entscheidungen implizieren Zwang zur Hergabe knapper Mittel (Steuern, Abgaben, betriebliche Aufwendungen aufgrund von Rechtsnormen etc.) und Rechtsanspruch auf soziale Leistungen. Auch wenn die Mehrheit als Legitimation der Maßnahmen völlig ausreicht, sind Rechtfertigungen prinzipieller Art erforderlich und willkommen. Sozialen Frieden oder soziale Gerechtigkeit durch Solidarität mit den Schwächeren herzustellen oder zu wahren, sind Begründungen für soziale Maßnahmen, die einschlägig sind. Sie lassen sich heranziehen für die Sicherung eines Existenzminimums oder den Unterhalt eines staatlichen Bildungswesens, Gesundheitssystems, Alterssicherungssystems, etc. Die Sicherung des sozialen Friedens durch die staatliche Sozialpolitik wird von vielen Politikern als ein Gut betrachtet, das anderen öffentlichen Gütern - wie äußere und innere Sicherheit - gleichrangig ist. Der Staat kann das Angebot dieses Gutes auf imperative, Inzentive oder Indikative Weise sicherstellen.

Bei dem Gut sozialer Frieden sowie bei den sogenannten meritorischen Gütern, z.B. Sicherheits- und Gesundheitsstandards am Arbeitsplatz (Fels, 1989), wird die Überlegenheit des Staates über den Markt mit den Eigenschaften dieser Güter begründet. Diese Eigenschaften bestünden in positiven externen Effekten für die Gesamtwirtschaft, die der einzelne Anbieter nicht oder nicht vollständig in sein Entscheidungskalkül einbezieht. Deshalb versage hier der spontane Koordinationsmechanismus. Positive externe Effekte können beispielsweise eine höhere Produktivität der Arbeitskräfte, eine höhere Wachstumsrate, aber auch eine längere Lebenserwartung, geringere Sterblichkeit Neugeborener oder eine niedrigere Analphabetenrate bedeuten. Eine höhere Arbeitsproduktivität und höheres Wirtschaftswachstum könnten beispielsweise durch eine stärkere Identifikation mit dem Staat und seinem Wirtschaftssystem (Ausbleiben von Revolten) oder ein längeres gesundes Arbeitsleben hervorgerufen werden. Jedoch hat das staatliche Angebot solcher und anderer sozialer Güter einen Preis, der für die positiven externen Effekte zu bezahlen ist.

Der Preis der staatlichen Sozialpolitik besteht nur zu einem Teil aus dem Entzug knapper Mittel von privaten Haushalten und Unternehmen (Arbeitgebern und Arbeitnehmern) im Wege der Erhebung von Steuern und Abgaben einschließlich Mittelverwendungen, die durch Rechtsvorschriften veranlagt werden [ Beispielsweise Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und andere betriebliche Aufwendungen für durch Rechtsnormen definierte soziale Zwecke.] . Darüber hinaus besteht der Preis aus volkswirtschaftlichen Verlusten (dead weight losses), die durch Steuern und Abgaben (einschließlich sonstigen Aufwands für soziale Zwecke) verursacht werden. Sozialer Frieden - als Überbegriff für die staatlich angebotenen Güter im Sozialbereich - muß in einem Verhältnis zum Prinzip der Subsidiarität stehen, das auf Dauer wirtschaftlich tragbar ist (Hax, 1997). Mit anderen Worten: Bei einem Ungleichgewicht zwischen Erträgen und Kosten der Sozialpolitik können neben statischen Allokationsverzerrungen negative dynamische Effekte - Verminderung der Wachstumsrate - auftreten. Ein Rückgang der Wachstumsrate kann durch Verzerrungen der Struktur der Anreize für Sparen, Investieren und Arbeiten verursacht werden, die sich aus der Interaktion von Mittelentzug einerseits und sozialen Leistungen bzw. Leistungsansprüchen andererseits ergeben (Sachverständigenrat, 1996).

Bei der Harmonisierung von nationalen Sozialnormen durch Absprachen auf europäischer Ebene gibt es nun ein Informationsproblem, das nicht lösbar erscheint. Es besteht darin, daß der soziale Nutzen der verschiedenen durch Normen festgelegten Leistungsansprüche (sowie auch die Ausgaben und volkswirtschaftlichen Kosten) nicht beobachtbar und nicht meßbar ist. Der Nutzen ergibt sich jeweils subjektiv aus der Interaktion von Steuern und Abgaben, privaten Spenden und unentgeltlichen Leistungen einerseits und empfangenen Leistungen und Leistungsansprüchen andererseits. Die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede in der EU sind - wie unten gezeigt wird - noch so groß, daß die national differenzierten staatlichen Sozialsysteme eine Existenznotwendigkeit sind. Sie können auch als ein europäisches Erbe aufgefaßt werden, das Reichtum bedeutet und, richtig genutzt, soziale Erträge für die Bürger in den Mitgliedstaaten liefern kann.

Alle Mitgliedstaaten der EU sind Sozialstaaten: Sie verwenden ohne Ausnahme knappe Ressourcen, um nationale soziale Ziele zu verfolgen. Eine große Vielfalt besteht hinsichtlich der Gewichtung der Ziele, der Instrumente und des Umfangs knapper Mittel, die zur Erreichung der Ziele eingesetzt werden. Für den Bereich der sozialen Sicherung gibt es eine aktuelle Bestandsaufnahme, [ Die Bestandsaufnahme der sozialen Sicherungssysteme in den Mitgliedstaaten der Union umfaßt 629 Seiten. Euro päische Kommission, MISSOC, 1996.] die als ein Beleg für den Sozialstaatscharakter der Mitgliedstaaten herangezogen werden kann. Eine große Vielfalt gibt es im Hinblick auf Organisation, Finanzierung, Art der Leistung, Gegenstand der Sicherung etc. In bezug auf das nationale Ziel einer Mindestsicherung, d.h. der Sicherung eines allgemeinen beitragsunabhängigen Existenzminimums, ist dem Bericht der EU-Kommission zu entnehmen, daß nur Griechenland keinen individuellen Rechtsanspruch auf Mindestsicherung gewährt. Das Fehlen einer allgemeinen beitragsunabhängigen Mindestsicherung in Griechenland muß kein soziales Defizit bedeuten, wenn es eine Marktlösung gibt.

Die Vielfalt der sozialen Ordnungen in Europa spiegelt ökonomische Einflüsse, aber auch soziale Faktoren wider, die landesspezifisch und interdependent sind. Was die ökonomischen Faktoren anbetrifft, so sind hier vor allem die gesellschaftlichen Nutzenkalküle und Opportunitätskosten von Sozialmaßnahmen zu nennen.

Schaubild 1 zeigt einige Indikatoren der wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten der EG. Das Pro-Kopf-Einkommen, das als ein Maß für den Wohlstand dient, ist in Dänemark am höchsten. Es ist fast viermal so hoch wie in den Ländern Griechenland und Portugal, die die unteren Plätze in der Einkommenshierarchie einnehmen. Die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen, die - bei gleicher Ausstattung - mit der Bevölkerungsdichte tendenziell abnimmt, ist ein anderer Wohlstandsindikator. Die geringste Bevölkerungsdichte bzw. tendenziell die größte Verfügbarkeit von natürlichen Ressourcen weisen Finnland, Schweden und Irland auf. Mit der Rangfolge der Pro-Kopf-Einkommen korrespondiert die Erwerbsquote. Diese ist wiederum in Dänemark am höchsten. Je höher die Erwerbsquote ist, um so höher ist ceteris paribus die Menge von Gütern und Dienstleistungen, die auf dem Markt verkauft wird und um so geringer ist die Haushaltsproduktion, die bekanntlich in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) nicht erfaßt wird. [ Vgl. Antje Becker (1995). In Abhängigkeit von der Familiengröße und dem Erwerbsstatus der Haushaltsmitglieder kann die Wertschöpfung der privaten Haushalte in Deutschland zwischen 43 und 152% der Wertschöpfung am Markt erreichen (J. Althammer, S. Wenzler, 1996, S. 410).] Die im Haushalt produzierten Güter (Waren und Dienstleistungen), die ganz überwiegend nicht gegen Entgelt verkauft, sondern von den Haushaltsmitgliedern konsumiert werden, haben in Ländern mit niedrigeren Erwerbsquoten und niedrigeren (Marktlichen) Pro-Kopf-Einkommen eine größere Bedeutung als in den nach der VGR wohlhabenderen Ländern. Die tatsächlichen Unterschiede in den Einkommens- und Konsumniveaus der Mitgliedstaaten der EU fallen somit geringer aus als die, die von der Statistik angezeigt werden.

Schaubild 1:
Indikatoren der wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede in der EU

Fortsetzung Schaubild 1

Die hohe Beteiligung von Erwachsenen an der marktwirtschaftlichen Produktion in Dänemark oder Deutschland zeigt an, daß die Arbeitsteilung dieser Volkswirtschaften sehr stark vorangeschritten ist. Hierzu paßt, daß ein sehr viel höherer Anteil der Erwerbstätigen in Dänemark, Deutschland und anderen Ländern mit einer entwickelten Arbeitsteilung Lohn- und Gehaltsempfänger sind. In Griechenland (Portugal, Italien, Irland und Spanien) dagegen gibt es mehr selbständige Existenzen. Kleine Unternehmen, von Familien betrieben, herrschen vor. Neben Griechenland hat Portugal den höchsten Anteil von Beschäftigten in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei an den Erwerbstätigen. Vergleichsweise hoch sind in Griechenland und Portugal - und noch höher in Irland - die Anteile der Haushalte mit fünf Personen und mehr (an den Haushalten insgesamt) sowie die Zahl der Kinder unter 15 Jahren (in Prozent der Bevölkerung). Die Stärke der Institution Familie in diesen Ländern mag weiterhin durch die Kennziffer Ehescheidungen je 1.000 Einwohner unterstrichen werden. Die Häufigkeit der Ehescheidungen wie auch der Eheschließungen ist am niedrigsten in Irland, gefolgt von Italien, Spanien und Griechenland.

Die Ausstattung mit Personenkraftwagen und Telefonen ist in Portugal, Griechenland oder Irland niedriger als in den Ländern mit den höchsten Pro-Kopf-Einkommen wie Dänemark, Deutschland oder Luxemburg. Hinsichtlich Arztdichte und Versorgung mit Krankenhausbetten ist ein Zusammenhang mit dem Pro-Kopf-Einkommen weniger klar (Schaubild 1). Dänemark beispielsweise hat nicht die höchste Arztdichte, sondern Italien; Dänemark liegt erst an sechster Stelle. Die Lebenserwartung von Dänen ist (deshalb oder trotzdem) höher als die von Italienern.

In Tabelle 1 sind Indikatoren der makroökonomischen Konvergenz der Mitgliedstaaten für das Jahr 1997 dargestellt. Diese Indikatoren sollen bei der Entscheidung über die Qualifikation der Staaten für die Mitgliedschaft in der Währungsunion als Kriterium herangezogen werden; es handelt sich um Prognosewerte, die von den tatsächlichen Werten nach oben oder unten abweichen können.

Tabelle 1:
Indikatoren der gesamtwirtschaftlichen Konvergenz in der EU im Jahr 1997 - Prognosewerte

- Budgetdefizit: Schweden, Finnland, Niederlande, Luxemburg und Dänemark werden im Jahr 1997 voraussichtlich ein Defizit des Staatshaushaltes aufweisen, das kleiner als 3% des Bruttoinlandsprodukts ist.

- Staatsschuld: Luxemburg, Großbritannien, Frankreich und Finnland haben Staatsschulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt von weniger als 60%.

- Preisstabilität: Nur für Griechenland wird eine Inflationsrate erwartet, die mit 6% den Schwellenwert für das Kriterium der Preisstabilität in Höhe von 3% übersteigt.

- Langfristiger Zins: Griechenland wird mit einem langfristigen Zinssatz in Höhe von 11% den Schwellenwert in Höhe von 8% verfehlen.

In den vergangenen Jahren haben sich die Indikatoren der gesamtwirtschaftlichen Konvergenz in den Mitgliedstaaten einander angenähert. Dies gilt auch für Griechenland, wenngleich dieses Land die Beitrittskriterien voraussichtlich im Jahr 1997 (noch) nicht erfüllen wird.

Im folgenden sollen Kennziffern dargestellt werden, die ein Schlaglicht auf den Sozialstaatscharakter der EG-Länder werfen können (Schaubild 2). Um mehr als nur einen ersten Eindruck zu gewinnen, wären Vergleiche der gesellschaftlichen Leitbilder und deren Verbindlichkeit oder auch Vergleiche der Rechtsordnungen und Rechtsprechungen sowie der Verwaltungspraxis in den Mitgliedsländern der EU nötig. Sie sind in konzeptioneller sowie in technischer Hinsicht jedoch schwer durchführbar. Der Anteil der staatlichen Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt kann als Anhaltspunkt dienen, wie stark die Staaten das Prinzip der Subsidiarität beachten und insoweit die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen und der Familien respektieren und ihnen die Fähigkeit zur Selbsthilfe zutrauen. Eigentlich wäre zu erwarten, daß mit steigendem Einkommens- und Bildungsniveau die Notwendigkeit von staatlicher Fürsorge zurückgeht und die Hilfe zur Selbsthilfe an Boden gewinnt. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Am höchsten sind die Anteile der Sozialausgaben (in Relation zum Sozialprodukt) in den relativ reichen Ländern mit einer höheren Anzahl tertiärer Bildungsabschlüsse je 1.000 Erwerbstätiger: Finnland, Dänemark, Niederlande und Deutschland nehmen die ersten Plätze ein (Schaubild 2).

Hinsichtlich der Verwendung der Sozialausgaben für verschiedene Zwecke zeigt sich eine große Variation. Die Anteile der Ausgaben für die Unterstützung alter Menschen und Hinterbliebener oder für Mutterschaft und Familie (in Prozent der Sozialausgaben insgesamt) variieren stark. Die Anteile scheinen in keiner Beziehung zum Wohlstand der Länder, gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, zu stehen. Italien verwendet den höchsten Anteil seiner Sozialausgaben für die Unterstützung Alter und Hinterbliebener (56,7%) und zugleich (neben Irland) den höchsten Anteil für Hilfen für Mutterschaft und Familie. Irland hat von allen EG-Ländern den niedrigsten Anteil der Sozialausgaben für die Unterstützung Alter und Hinterbliebener, aber neben Dänemark den höchsten Anteil für die Hilfen für Mutterschaft und Familie. Offensichtlich divergieren die Perzeptionen des sozialen Nutzens der verschiedenen Leistungen noch erheblich.

Es zeigt sich an diesen wenigen Beispielen, daß die staatlichen Sozialsysteme in Europa sehr heterogen sind. Sie spiegeln historisch gewachsene Institutionen und Sozialordnungen wider und nur zum Teil die Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Sie stellen einen Reichtum dar. Im folgenden Kapitel ist zu prüfen, ob er zur Korrektur gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte in den Ländern genutzt werden kann, in denen das Verhältnis von Solidarität und Subsidiarität aus der Balance geraten ist, wie das für Deutschland behauptet wird. [ Sachverständigenrat, 1996] Dazu ist es allerdings erforderlich, daß die Gemeinschaft von der vertraglichen Option Gebrauch macht, in der gemeinsamen Sozialpolitik auf die Marktkräfte als Mittel zur Angleichung der nationalen Sozialnormen zu setzen.

Schaubild 2:
Höhe und funktionale Struktur der Sozialausgaben in der EU



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2.3 Volkswirtschaftliche Kosten von Sozialnormen

Die unerwünschten (statischen) Effekte von staatlichen Sozialmaßnahmen lassen sich grafisch anhand eines einfachen Angebot-Nachfrage-Diagramms darstellen, wie es für Zwecke der Analyse von Zolleffekten (H.G. Johnson, 1960) oder Steuereffekten (Harberger, 1964) verwendet wird. Dazu wird der Mittelentzug als eine Steuer dargestellt; diese umfaßt sowohl die Zahlungen an Fiskus und Parafiski in Form von Steuern und Abgaben als auch sonstige Aufwendungen, die durch Rechtsnormen verursacht werden (z.B. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Errichtung und Unterhalt von Sozialräumen etc.).

In Schaubild 3 wird das (tendenzielle) Ergebnis eines Marktprozesses- sei es auf einem Gütermarkt, Arbeitsmarkt oder Kapitalmarkt einer geschlossenen Wirtschaft - vor und nach Erhebung einer Sozialsteuer dargestellt. Vor Einführung der Sozialsteuer erzielen alle Nachfrager, die bereit wären, Preise oberhalb von P0 zu zahlen, eine sogenannte Konsumentenrente (KR) und alle Produzenten, die bereit und - aufgrund ihrer niedrigeren Grenzkosten - fähig wären, zu einem niedrigeren Preis als P anzubieten, eine Produzentenrente (PR). Die nachgefragte und angebotene Menge ist XO. Die Einführung der Sozialsteuer verändert die Preise für Anbieter und Nachfrager. Die Frage, ob die Steuer überwiegend von den Anbietern oder den Nachfragern getragen wird, die Steuerinzidenz also, wird hier nicht weiter beachtet. [ Die Inzidenz hängt von verschiedenen Faktoren ab, z.B. von der Art der Steuer, von dem Grad an Offenheit einer Volkswirtschaft und ihrer Größe, der Handelbarkeit der Güter oder der Mobilität der Produktionsfaktoren.] Es scheint plausibel anzunehmen, daß sich der Preis (P) sowohl für die Anbieter als auch für die Nachfrager verändert. Gemäß Schaubild 3 b) ändert sich das Marktergebnis nach Einführung der Sozialsteuer, deren Verwendung mit einem Produktivitätsgewinn und einem Anstieg der Realeinkommen verbunden ist, in folgender Hinsicht:

- Der Staat erhält Einnahmen in Höhe der Fläche E (Differenz aus PN,2 und PA,2 multipliziert mit der Menge X2).

- Die angebotene und nachgefragte Menge steigt, X2 ist größer als XO

Kommt es zu einer Anhebung der Sozialsteuer und stellt sich kein positiver externer Effekt der Sozialmaßnahmen in Form eines Produktivitätsgewinns ein - weder verschieben sich die Angebotskurve noch die Nachfragekurve-, so verändern sich die Marktergebnisse (Schaubild 3 c):

- Die Konsumenten haben eine Einbuße an Konsumentenrente, die neue Konsumentenrente KR3 ist kleiner als KR2.

- Die Produzenten verlieren Produzentenrente; die neue Produzentenrente PR3 ist kleiner als PR2.

- Die angebotene und nachgefragte Menge schrumpft von X2 auf X3.

- Es entsteht ein Dreieck K3. Die Fläche K3 ist nicht mehr Teil der Konsumenten- und Produzentenrente und wird auch nicht zu Staatseinnahmen. Es handelt sich um Verluste (volkswirtschaftliche Kosten oder dead weight loss) für die gesamte Wirtschaft.

Schaubild 3: Wohlfahrtseffekte einer Sozialsteuer

a) Marktergebnis vor Steuern

b) Marktergebnis nach Einführung einer Sozialsteuer mit Produktivitätseffekt

c) Marktergebnis nach Einführung einer Sozialsteuer ohne Produktivitätseffekt

Die volkswirtschaftlichen Kosten (das Dreieck K) sind unvermeidlich, wenn der Staat Sozialmaßnahmen ergreift, die nicht produktivitätswirksam sind. Konsumenten und Produzenten (Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Falle einer Sozialsteuer auf Arbeit oder Kapital) tragen also außer der Steuer immer auch noch die volkswirtschaftlichen Kosten.

Die Art der Steuerverwendung mag weitere Allokationsverzerrungen verursachen. Werden die Einnahmen beispielsweise zur Finanzierung von Dienstleistungen verwendet, die der Staat oder Unternehmen im Staatseigentum kostenfrei abgeben, so entstehen folgende unerwünschte Effekte:

- Potentielle private Anbieter kommen nicht zum Zug, auch wenn sie die Dienstleistungen wirtschaftlicher produzieren könnten und ihre Innovationskraft höher wäre.

- Kostenfreie Dienstleistungen werden auch von solchen Personen nachgefragt, deren Wertschätzung für die Dienstleistung unter dem Kostenpreis liegt. Es tritt ein internationales Trittbrettfahrerproblem auf; Personen aus EU-Nachbarstaaten können das Recht auf Freizügigkeit im Binnenmarkt in Anspruch nehmen, nicht um mehr Lohn für ihre Arbeit zu erzielen, sondern um Unterschiede in den Rechtsansprüchen auf staatliche Leistungen wahrzunehmen; insoweit kommt es zu einer vermutlich unerwünschten Internationalisierung des nationalen Gutes sozialer Frieden.

- Die Information über die Wertschätzung, die Konsumenten der Dienstleistung entgegenbringen, wird nicht signalisiert.

Den Allokationsverzerrungen auf der Aufbringungs- und Verwendungsseite stehen die behaupteten positiven Effekte der staatlichen Sozialpolitik gegenüber. Nur soweit es zu einem Anstieg der Arbeitsproduktivität kommt, werden die Einbußen der Sozialsteuerzahler (Anbieter und Nachfrager) abgemildert. Aus dem Schaubild 3 folgt andererseits auch, daß die volkswirtschaftlichen Kosten in Abhängigkeit von der Höhe der Sozialsteuer bei einer Erhöhung der Sozialsteuer - ohne Produktivitätseffekt - überproportional zu dem Anstieg der Sozialsteuer zunehmen.

Die Schwierigkeit der Bewertung der Sozialpolitik in den Mitgliedstaaten der EU ist, daß es an Transparenz über wichtige Größen fehlt; so ist beispielsweise unbekannt,

- wie hoch die Sozialsteuer insgesamt ist; insbesondere die Belastungswirkung der Sozialregulierungen liegt weitgehend im Dunkeln.

- wie hoch die positiven externen Effekte, z.B. in Form von Produktivitätsgewinnen, sind und

- wie hoch die volkswirtschaftlichen Verluste auf der Aufbringungs- und Verwendungsseite sind.

Es ist aber zu vermuten, daß die staatliche Sozialpolitik in den Ländern mit der höchsten Sozialausgabenquote den Punkt überschritten hat, von dem an der sozialsteuerinduzierte Produktionsrückgang größer ist als der Produktionsanstieg einer durch die Sozialpolitik induzierten höheren Arbeitsproduktivität. Die Zusammenhänge zwischen einer Ausweitung der Sozialsteuern/Sozialausgaben und der gesamtwirtschaftlichen Produktion lassen sich grafisch darstellen (Schaubild 4) [ Die grafische Darstellung entspricht der von Heitger (1996) über den Zusammenhang von Steuer - und Abgabenquote und gesamtwirtschaftlicher Produktion und Staatseinnahmen.] . In dem Schaubild werden diese Zusammenhänge vereinfachend dargestellt. Auf der unteren Achse ist die Ausgabenquote, d.h. die Sozialausgaben in Prozent der gesamtwirtschaftlichen Produktion sowie die Sozialsteuer– und Abgabenquote, abgetragen. Ausgehend von einer Situation ohne Sozialsteuer steigt zunächst mit zunehmender Sozialsteuerquote die gesamtwirtschaftliche Produktion aufgrund steigender Arbeitsproduktivität, bis sie ein Optimum überschreitet. Danach gehen von einem weiteren Anstieg negative Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Produktion aus. Die gesamtwirtschaftliche Produktion, die ihr Maximum in Punkt B erreicht hat, sinkt und die Gesamtkosten der Sozialstaatstätigkeit, die ihr Minimum in Punkt E erreicht hat, steigen. Bei einer Sozialstaatsquote von 75% nähert sich die gesamtwirtschaftliche private Produktion der Nullinie, und die Gesamtkosten der Sozialstaatstätigkeit erreichen ihr Maximum.

Zu dieser Entwicklung kommt es aus einer Vielzahl von Gründen. Festzuhalten ist hier, daß es dieser Theorie zufolge eine Höhe der Sozialsteuer- und Abgabenbelastung in einer Volkswirtschaft (Punkt D) gibt, von der an die Einnahmen sinken, weil die Bemessungsgrundlage der Sozialsteuern, die gesamtwirtschaftliche private Produktion, abnimmt. Wie hoch genau die Sozialsteuer- und Abgabenquote ist, von der an in einem Land die gesamtwirtschaftliche Produktion sinkt, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich ist, daß dieser Punkt in jedem Land bei einer anderen Quote liegt, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Kontraktionswirkungen von der Höhe der Belastung mit Steuern und Abgaben für die Finanzierung des Staatsverbrauchs und anderer Staatsausgaben beeinflußt werden.

Schaubild 4:

Zur längerfristigen Beziehung zwischen Sozialausgabenquote und gesamtwirtschaftlicher Produktion

Es läßt sich belegen, daß die Länder mit den höchsten Sozialausgabenquoten auch einen höheren Staatsverbrauch und höhere Zinszahlungen jeweils in Relation zu ihrem Bruttoinlandsprodukt aufweisen (vgl. Tabelle 1). Für die Staatsausgabenquote insgesamt läßt sich die Feststellung treffen, daß ihre Höhe in einer negativen Beziehung zu wichtigen gesamtwirtschaftlichen Indikatoren, z.B. Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts, Arbeitslosenquote und Größe des Marktes für Schwarzarbeit, steht (vgl. Tabelle 2). Von Heitger (1996) ist der Zusammenhang zwischen Staatsausgabenquote und Wirtschaftswachstum regressionsanalytisch mit Daten der OECD-Länder für die Jahre 1960 bis 1990 überprüft worden. Seine Tests ergeben einen statistisch signifikanten negativen Zusammenhang zwischen den konsumptiven Staatsausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts und der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts je Erwerbsperson, der Regressionskoeffizient beträgt -0,368 mit einen t-Wert von -5,20, der bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 1 % signifikant ist.

Eine Harmonisierung der Sozialsysteme auf dem Niveau des Landes mit der höchsten Sozialsteuer- und Abgabenquote wäre fatal, wenn in diesem Land - oder weiteren Ländern - die Staatsquote bereits das Optimum überschritten hätte und es in den anderen Ländern zu einer Ausdehnung der Staatsquote über das Optimum hinaus käme. Dagegen würde eine Harmonisierung durch die Marktkräfte die soziale Lage in Europa verbessern, da diese eine Rückführung der Sozialsteuerquote in den Ländern erzwingen würde, in denen die Quote jenseits des Optimums liegt. Eine solche europäische Sozialpolitik ist eine Möglichkeit, die im gegenwärtigen Vertragsrecht und auch im Amsterdamer Vertragsentwurf angelegt ist.

Der Befund (Heitger, 1996), daß in Deutschland die Staatsquote eine Höhe erreicht hat (50,2% in 1996), auf der Kürzungen gesamtwirtschaftliche Staatsausgaben und Transfers zu einer Erhöhung der Wachstumsrate führen, hat Konsequenzen für die Diskussion über die Höhe des Beitrags Deutschlands zum EU-Haushalt. Der deutsche Beitrag zur Finanzierung des EU-Haushalts beträgt bei einer Bruttobetrachtung rund 31% des Gesamthaushalts. [ Europäischer Rechnungshof, 1996.] Bei einer Nettobetrachtung - von den Brutto-Beitragszahlungen werden die an Mitgliedstaaten im Rahmen der verschiedenen EU- Politikmaßnahmen fließenden Mittel abgezogen - beläuft sich der Nettobeitrag Deutschlands mit DM 27 Mrd. (1996) [ Vgl. Deutsche Bundesbank, 1997, S. 54.] auf rund 60% des Nettohaushalts der EU. Die Berechnungen dieser Beitragssätze sind nicht unumstritten. Die wahren Sätze mögen nach oben oder unten abweichen. Nach dem Positionspapier der Bundesregierung für die Amsterdamer Vertragsverhandlungen [ Europäische Kommission, White Paper of the 1996 Intergovernmental Conference, Vol. Il, Germany. An diesem Standpunkt hält die Bundesregierung auch nach der Amsterdamer Konferenz am 16./17. Juni 1997 fest, obwohl sie dort für ihren Standpunkt keine Unterstützung fand.] ist der Beitrag Deutschlands zum Haushalt der EU zu hoch und muß gesenkt werden. Diese Forderung zu akzeptieren, läge im europäischen Interesse, wie sich aus folgender Überlegung ergibt: Würden die Nettoübertragungen Deutschlands an die EU in Höhe von derzeit rund 0,8% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf künftig 0,4 des BIP Deutschlands gesenkt und dadurch die deutsche Staatsausgabenquote entsprechend gekürzt, so würde die Wirtschaft wieder stärker wachsen können, und zwar um rund 0,04% pro Jahr. Eine höhere Zuwachsrate des BIP ginge einher mit einem Anstieg des privaten Verbrauchs und mit höheren Einfuhren auch aus Partnerstaaten. Es würden in Deutschland auch die Sparquote und die Fähigkeit zum Kapitalexport steigen, kurz: Die Lokomotive Deutschland nähme wieder mehr Fahrt auf. Wachstum und Beschäftigung in den übrigen Volkswirtschaften in der EU würden stimuliert. Die EU würde wieder größere wirtschaftliche und soziale Fortschritte erreichen. Die Ausfälle deutscher Zahlungen an die EU würden mittel- und langfristig durch steigende Einnahmen aufgrund eines europaweiten Anstiegs der Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Haushaltsbeiträge kompensiert. Auf kurze Sicht wäre jedoch als Konsequenz der Rückführung des deutschen Nettobeitrages zu erwarten, daß die Mittelausstattung der Struktur-, Kohäsions– und Sozialfonds aufgrund niedrigerer Einnahmen im EU-Haushalt reduziert werden muß.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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