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1. Einführung in die Problematik

Ausgebaute Sozialsysteme sind ein Charakteristikum hochentwickelter Industrieländer. Die sozialen Leistungen in den Kategorien der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung machen heute zwischen 13,5% (UK) und 26% (Deutschland) des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts aus (Seidel 1996: 638). Doch die Leistungssysteme sind äußerst komplex und von Land zu Land so differenziert, daß ein Vergleich auf Abgrenzungsprobleme stößt und somit äußerst schwer fällt. So ergibt die OECD-Datenbasis zu den Sozialausgaben der Mitgliedstaaten ein ganz anderes Bild. Danach werden in Großbritannien gut 21% und in Deutschland knapp 24% (1993) des Bruttoinlandsprodukts netto für soziale Zwecke öffentlich ausgegeben, und die Spanne reicht bis zu gut 29% in Schweden (OECD 1997: 34). Fest steht indes, daß die Sozialsysteme allenthalben unter Druck geraten. Vor allem in den kontinentaleuropäischen Ländern, wo die verbrieften Ansprüche im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern und zu Japan ein besonders hohes Niveau erreicht haben, gelten sie als nicht mehr finanzierbar.

Dies hat mehrere Ursachen. In der Altersversicherung hat sich als Folge zunehmender Lebenserwartung, verkürzter Lebensarbeitszeit und sinkender Geburtenrate das Verhältnis von Aufbringung zu Leistung der finanziellen Mittel drastisch verschlechtert. Im Gesundheitswesen haben die Entwicklung teurer Pharmaprodukte, der technische Fortschritt in der Apparatemedizin und die hohe Lohnkostenintensität vieler Dienstleistungen bei gleichzeitiger Vernachlässigung marktmäßiger Steuerungsmechanismen zu einer Kostenexplosion geführt. In der Arbeitslosenversicherung schlägt ähnlich wie bei der Alterssicherung die relative Schrumpfung der Aufbringungsbasis bei gleichzeitig stark gestiegener Zahl der Arbeitslosen negativ zu Buche. Bei Langzeitarbeitslosigkeit wird die Lohnersatzleistung als Sozialhilfe gezahlt; in Deutschland belastet sie die Haushalte der Kommunen. Hinzu kommt in Deutschland, daß Renten- wie Arbeitslosenversicherungssystem mit "versicherungsfremden Leistungen" betrachtet sind, die u.a. im Zusammenhang mit der sozialen Abfederung des wirtschaftlichen Kollapses in den neuen Bundesländern stehen und nach weitverbreiteter Auffassung aus dem Steueraufkommen finanziert werden müßten.

Doch Sozialversicherung und Steuersystem sind im Zusammenhang zu sehen. Gesamtwirtschaftlich, das heißt von Struktureffekten und unterschiedlichen Anreizmechanismen auf der Aufbringungsseite abgesehen, macht es keinen großen Unterschied, ob die Sozialleistungen aus Steuern oder Beiträgen finanziert werden. In der Tat haben die einzelnen Länder die Grenze zwischen Steuer- und Versicherungssystem unterschiedlich gezogen. Während Dänemark, Großbritannien und Irland fast alles über das Steuersystem regeln, ist etwa in Deutschland und Frankreich das Aufkommen aus Beiträgen fast so hoch wie das aus Steuern (Schaubild 1). Entscheidend ist letztlich die Gesamtbelastung. Sie hat vor allem in den skandinavischen Ländern, aber auch in Deutschland, Frankreich, den Benelux-Ländern und Österreich mit 54% bis 44% des jeweiligen BIP Werte erreicht, die den Aufbringern, also den Erwerbstätigen und den privaten Kapitaleignern, als nicht mehr zumutbar gelten.

Schaubild 1:
Steuern und Sozialbeiträge in % des BIP
1996 und Veränderung 1990 - 1996

Vor allem den Kapitaleignern. Denn es wird befürchtet und in der Tat zunehmend beobachtet, daß sie ihr Geld durch Investition und Gewinnerzielung in Niedrigsteuerländern dem Zugriff des inländischen Fiskus entziehen. Dies um so mehr, als Investition an vielen ausländischen Standorten im Vergleich zu inländischen selbst vor Abzug der Steuern die höhere Rendite verspricht. Möglich wird dies durch die europaweite (Europäische Union, Abkommen mit ostmitteleuropäischen Transformationsländern) und weltweite (Welthandelsorganisation, OECD) Liberalisierung des Kapitalverkehrs und Technologietransfers bei gleichzeitigem Bemühen vieler aufholender Länder um ein hohes Qualifikationsniveau ihrer Erwerbsbevölkerung. Im europäischen Kontext ist dieser Prozeß mit dem Stichwort "Binnenmarkt", im weltweiten Kontext mit dem Stichwort "Globalisierung" umschrieben. Da Kapital als "scheu" und "flüchtig" gilt, während Arbeitskräfte zahlreichen Mobilitätshemmnissen unterliegen, haben die Regierungen der Industrieländer die Neigung entwickelt, die Steuerlast mehr und mehr dem "Faktor Arbeit" aufzubürden und das Kapital relativ zu entlasten. Der bis vor wenigen Jahren der Gütersphäre vorbehaltene internationale Wettbewerb wird damit auf die Systemsphäre ausgedehnt; die Länder sind in einen "Steuersenkungswettlauf" eingetreten. Doch dies nicht allein. Da soziale Leistungen aus Arbeitgeberbeiträgen oder Steuern finanziert werden, gilt der Systemwettbewerb gleichermaßen für die erreichten Sozialstandards.

Der Umschichtung der Abgabenbelastung auf den Faktor Arbeit sind damit ebenfalls Grenzen gesetzt. Der Staat ist gezwungen, seine Ausgaben insgesamt zu senken, will er sich nicht zunehmend verschulden und damit als Folge zunehmender Zinsbelastung - sie ist bezogen auf das BIP trotz sinkenden Zinsniveaus in kaum einem vergleichbaren Industrieland so stark gestiegen wie in Deutschland (Franzmeyer u.a. 1996: 133) - seinen laufenden finanzpolitischen Handlungsspielraum auf längere Sicht noch weiter einengen. Abgesehen von diesem wohlverstandenen Eigeninteresse an soliden Staatsfinanzen haben sich die europäischen Staaten im Rahmen des Maastrichter Vertrages und im Zusammenhang mit der geplanten Europäischen Währungsunion verpflichtet, ihre Verschuldung in engen Grenzen zu halten.

In dieser Lage haben die Staaten zwei Optionen, die auch kombiniert werden können. Sie können einmal dafür sorgen, daß das Steueraufkommen auch ohne Anhebung oder sogar bei Senkung der Steuersätze weiter steigt. Dies ist gleichbedeutend mit einer nachhaltigen Beschleunigung des Wirtschaftswachstums. Sie können zweitens die Ausgaben senken und damit Spielraum auch für eine Senkung der Abgabensätze schaffen.

Den ersten Weg haben seit mehr als einem Jahrzehnt die USA und seit einigen Jahren auch Großbritannien und die Niederlande mit Erfolg beschritten. Die übrigen europäischen Länder waren überwiegend auf den zweiten Weg angewiesen. Doch dies kann langfristig nicht ohne Folgen für die Chancen bleiben, den ersten Weg überhaupt wieder zu beschreiten. Denn es sind vor allem die "weichen", nicht auf Rechtsansprüchen basierenden Ausgabeposten, bei denen der Rotstift angesetzt wird: Forschung und Entwicklung, Bildung, Infrastruktur. Gerade diese bestimmen indes die Höhe des künftigen Wirtschaftswachstums und das Maß an internationaler Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Mit der Beschneidung der Investitionen in Infrastruktur und Humankapital wird das in der Theorie der öffentlichen Güter zentrale Äquivalenzprinzip ausgehöhlt, wonach hohe Steuern ihre Rechtfertigung darin finden, daß diese vom Fiskus produktivitätsfördernd verwendet werden. Kann den Unternehmen, die ihre Gewinne (über konzerninterne Transferpreise und Konditionen für Finanztransfers) ins Ausland verlagern, jetzt noch „Freeridertum" bei der Inanspruchnahme produktivitätsfördernder öffentlicher Güter entgegengehalten werden, so wird dem Kapital durch den zunehmenden Verzicht auf die Bereitstellung solcher Güter schließlich ein wirklicher, handfester Grund dafür geliefert, das Inland zu meiden.

Dies sehen natürlich auch die Regierungen. Sie bemühen sich daher, Ausgaben durch Eingriff in die Leistungsgesetze einzusparen, um auf diese Weise den Zwang zur Investitionskürzung zu mildern oder ganz zu beseitigen. Damit steht auch die gesamte Palette der sozialen Leistungen auf dem Prüfstand. Sicher leiden die in Jahrzehnten guter wirtschaftlicher Entwicklung gewachsenen Systeme sozialer Sicherheit unter partieller Ineffizienz und Mißbrauchsmöglichkeit, die nicht nur ohne Schaden, sondern zum Nutzen der Leistungskraft der Systeme insgesamt ausgeräumt werden sollten. Doch besteht die Gefahr, daß mit dem wohlfeilen Hinweis auf den Globalisierungsdruck und den Europäischen Binnenmarkt auch Bewährtes in Frage gestellt wird. Für die Politik wird damit die Reform des Sozialsystems zu einer Gratwanderung zwischen Anpassung an die Erfordernisse des internationalen Wettbewerbs und Bewahrung des europäischen Sozialstaatsmodells. Auf der einen Seite des Grates, so wird argumentiert, lauere die "Armutsfalle", auf der anderen die "Arbeitslosigkeitsfalle" (Kommission der EG 1995: 73).

Die Sozialpolitik der Gemeinschaft ist seit den Tagen der Aushandlung des EWG-Vertrages durch diesen dualistischen Charakter geprägt. Er markierte zunächst einen deutsch-französischen Gegensatz (Jansen 1986: 10), später aber, nach Errichtung des Europäischen Binnenmarktes und der Erweiterung der EU auf 15 Mitgliedstaaten, mündete er in eine äußerst asymmetrische Interessenrepräsentation: eine durch elf (später 14) Länder vertretene Mehrheits- und eine durch Großbritannien vertretene Minderheitsmeinung.

Der Gegensatz der Auffassungen ist so stark, daß er wesentlich dazu beitrug, daß im Vertrag von Maastricht die Rechtseinheit der Union in wichtigen Teilbereichen aufgelöst wurde.

In diesem Spannungsfeld betonen die Briten den Kostencharakter der Sozialpolitik. Diese Kosten erschöpfen sich nicht in den Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung. Wenn Arbeitgeber Löhne und Gehälter auch an Krankgeschriebene und Schwangere fortzahlen müssen, wenn sie bei schwacher Kapazitätsauslastung ihren Personalbestand nach Stärke und Zusammensetzung nicht durch Kündigung ihrem jeweiligen Bedarf anpassen können, wenn sie gesetzlich vorgeschriebene Mindestlöhne an wenig Qualifizierte zahlen müssen oder wenn sie hohe Investitionen in die Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz leisten müssen, wenn die Gewerkschaften Sondervergütungen für Feiertagsarbeit und Überstunden durchgesetzt haben, wenn Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld besteht, wenn zudem die Arbeiter und Angestellten lange Urlaubsansprüche haben: In all diesen, nicht erschöpfend aufgezählten Fällen werden die Produktionskosten erhöht mit der möglichen Folge, daß die Unternehmen jener Länder preisliche Wettbewerbsvorteile haben, bei denen die tariflichen oder gesetzlichen Standards im internationalen Vergleich relativ niedrig sind.

Dieses Kostenargument für niedrige Sozialstandards ist jedoch an zwei Voraussetzungen geknüpft. Zum einen impliziert es, daß die Arbeitsproduktivität vom Niveau der Sozialstandards unberührt bleibt, so daß bei hohen Sozialkosten, die die Produktion belasten, auch die Stückkosten steigen. In Deutschland, aber auch etwa den Niederlanden, ist stets der motivations- und produktivitätsfördernde Charakter hoher Sozialstandards betont worden. Zudem konnte darauf verwiesen werden, daß als Folge des sozialen Friedens erheblich weniger streikbedingte Produktionsausfälle zu verzeichnen waren als gerade in einem Land wie Großbritannien, in dem die industriellen Beziehungen weitgehend durch einen Gegensatz von Arbeit und Kapital gekennzeichnet sind.

Zum anderen greift das Kostenargument nur bei offenen Märkten. Erst wenn potentielle Importe das Inlandspreisniveau bestimmen und eine starke Exportorientierung die heimische Wirtschaft zu dem Bestreben zwingt, das vorgegebene Preisniveau auf den Auslandsmärkten zu unterbieten, bestimmen die Stückkosten ihrerseits die Gewinnspannen und damit die Ertragskraft der Unternehmen, von der wiederum deren Investitions- und Innovationspotential abhängt mit möglichen, weitreichenden Folgen für das allgemeine Einkommens- und Beschäftigungsniveau des Landes.

Doch selbst im Falle von Produktivitätsneutralität des Sozialsystems und bei offenen Märkten sind hohe Sozialstandards keineswegs automatisch mit Einkommens- und Beschäftigungseinbußen verbunden. Einmal besteht die Möglichkeit, die Unterschiedlichkeit von Sozialstandards als Faktor im internationalen Wettbewerb um Marktanteile und Kapital auszuschalten, indem durch Harmonisierung ein "level playing field" geschaffen wird. In der EU wären dazu die rechtlichen Möglichkeiten vorhanden. Da die EU-Länder über 60% ihres Handels untereinander abwickeln und da zugleich das Gros ihrer Direktinvestitionen in Partnerländer fließt bzw. aus diesen stammt, könnte damit ein erheblicher makroökonomischer Neutralisierungseffekt erzielt werden. Zum anderen besteht die Möglichkeit, dem Preisdruck, der bei offenen Märkten von relativ niedrigen Sozialstandards im Ausland ausgeht, durch Strukturwandel zu begegnen. Dabei ist entscheidend, sich auf solche Produktionen zu spezialisieren, die aufgrund ihrer Neuheit, ihrer Qualität oder eines attraktiven after-sale-Service keinem oder nur geringem Preiswettbewerb unterliegen. Freilich wird ein forcierter Strukturwandel seinerseits zu sozialen Härten führen, die das Sozialsystem fordern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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