FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




4. Arbeit und Sozialpolitik

Gegenüber den außereuropäischen Volkswirtschaften - etwa der USA und Japans - wie auch insbesondere gegenüber den asiatischen "Schwellenländern" und den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas zeichnen sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union durch sehr viel höhere Lohn- und Lohnzusatzkosten aus, die daraus erwachsen, daß sich - etwa im Vergleich zu den USA - vor allem das überkommene - allerdings gegenwärtig an Bedeutung abnehmende - "Normalarbeitsverhältnis" durch ein vergleichsweise hohes Lohnniveau, große individuelle Arbeitsplatzsicherheit, Berufsschutz bei Verlust des Arbeitsplatzes in Zusammenhang mit Leistungen bei Arbeitslosigkeit und überhaupt ein hohes Maß an flankierender sozialer Sicherheit auszeichnet.

Deshalb liegt die Abgabenbelastung der Beitrags- und Steuerzahler nicht zu letzt aus diesem Grund in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union um 13-15% höher als etwa in den USA oder Japan. Berücksichtigt man neben den öffentlichen Ausgaben für den Sozialschatz allerdings auch die Aufwendungen der privaten Haushalte für den Sozialschutz, so nähern sich die Gesamtaufwendungen in dieser Triade allerdings einander stark an, so daß die öffentliche Struktur des Sozialschutzes das Hauptunterscheidungskriterium zwischen Europa und den beiden anderen Mitgliedern der Triade - USA und Japan - ist.

Da die Arbeitslosigkeit in allen westlichen Industriestaaten in einem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht bekannten Ausmaße zugenommen hat - in der Europäischen Gemeinschaft ist die Gesamtbeschäftigung seit 1991 um 4% zurückgegangen bei gleichzeitiger Zunahme der Erwerbsbevölkerung - und ein Ende dieser Entwicklung nicht abzusehen ist, sieht sich diese überkommene Beschäftigungsstruktur in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in jüngster Zeit verstärkten Zweifeln ausgesetzt im Hinblick auf ihre Fähigkeit, das Beschäftigungsproblem auch nur mittelfristig zu lösen. (Zugenommen hat allerdings die Zahl der weiblichen Beschäftigten. Wahrend in den letzten 20 Jahren der Beschäftigungsstand für Männer mit 86 Mio. im wesentlichen konstant geblieben ist, ist die Zahl der erwerbstätigen Frauen von 46 Mio. auf 61 Mio. unionsweit gestiegen). [ Vgl. zu diesen Zahlen Europäische Kommission, a.a.O. (Fn. 9 = Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission: Modernisierung und Verbesserung des Sozialschutzes in der Europäischen Union (KOM (97) 102 endg. v. 12.3.1997), Brüssel 1997 ), S. 94.]

Dieses Europäische Beschäftigungsproblem resultiert aus der im Vergleich zum Arbeitsangebot schrumpfenden Arbeitsmarktnachfrage, aus den steigenden Anforderungen an Arbeitsinhalte und -formen, und an die Qualifikation und berufliche Flexibilität der Erwerbstätigen. Dies bedeutet zugleich, daß sich der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigung gelockert hat. (So führt heute in Deutschland erst ein Produktivitätszuwachs von nahezu 3% auch zu einer nachfragebedingten Erhöhung des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsvolumens.)

Die mangelnde Beschäftigungsintensität des wirtschaftlichen Wachstums, die zu der Persistenz des hohen Grades der Arbeitslosigkeit maßgeblich beiträgt, ist letztlich darauf zurückzuführen, daß die Produktivität der Wirtschaft tendenziell stärker wächst als das Sozialprodukt.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß das gegenüber den 60er Jahren um das 2 1/2-fache erhöhte Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zu damals heute mit weniger Arbeitsstunden erwirtschaftet wird.

Soweit im Zusammenhang mit der Beschäftigungsentwicklung in Europa auf das "Beschäftigungswunder" in den USA verwiesen wird (mit einer offiziellen Arbeitslosigkeit von unter 5%), welches vor allem darauf zurückgeführt wird, daß dort das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren in sehr viel höherem Maße als in Europa auch zur Schaffung neuer Arbeitsplätze geführt hat, ist anzumerken, daß diese Entwicklung dort mit einer Abnahme des Niveaus der Reallöhne und auch mit einer Zunahme der Zahl der "working poor" verbundenen gewesen ist, die der vorstehend als für Europa in der Vergangenheit charakteristisch herausgestellten Beschäftigungspolitik und auch der überkommene der traditionellen Politik des zumal öffentlichen Sozialschutzes widerspricht, und die auch nach US-amerikanischem Sozialpolitikverständnis problematisch ist.

Für Deutschland ging die Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute für 1996 bei einem prognostizierten Zuwachs des realen Bruttoinlandsprodukts von rund 1,5% und einem gleichzeitigen Rückgang der Erwerbstätigenzahl um 1 % von einer jahresdurchschnittlichen registrierten Arbeitslosenzahl von rund 3,95 Mio. aus. Für 1997 wurde vor dem Hintergrund einer (recht optimistischen) Prognose eines Wirtschaftswachstums von ca. 2,5% mit einem Gleichstand der Beschäftigung und einer (mittlerweile bereits deutlich überschrittenen) Zahl von mindestens 4 Mio. registrierten Arbeitslosen gerechnet. (In dem Zusammenhang ist anzumerken, daß die registrierte Arbeitslosigkeit von über 12% Anfang 1998 nur einen Teil des Mangels an Arbeitsplätzen darstellt und - so das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit - die sogenannte "stille Reserve" auf dem Arbeitsmarkt für 1996 auf jahresdurchschnittlich 3 Mio. geschätzt worden ist. Dabei gilt es ferner zu beachten, daß Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, insbesondere in den neuen Bundesländern - u.a. in Gestalt von Maßnahmen der Fort- und Umbildung und der Arbeitsbeschaffung, von Vorruhestandsregelungen, von Regelungen im Zusammenhang mit Kurzarbeit und ähnlichen Maßnahmen - zu einer deutlichen Verringerung der registrierten Arbeitslosigkeit geführt haben, und daß man vor diesem Hintergrund für Deutschland deshalb bereits für das Jahr 1996 i.w.S. durchaus von einer Zahl von 5-6 Millionen Arbeitslosen sprechen konnte.)

Angesichts dieser Entwicklung erscheint es auf kurz- und mittelfristige Sicht ausgeschlossen, daß die Arbeitslosigkeit auf ein Ausmaß zurückgeführt wird, welches der zu Anfang der 60er Jahre als Vollbeschäftigung charakterisierten Beschäftigungssituation entspricht, zumal auch eine Rückkehr zu Wachstumsraten, wie sie in den 50er und 60er Jahren üblich waren, nicht zu erwarten steht (und vielleicht auch wegen einer damit verbundenen Verknappung natürlicher Ressourcen und zunehmenden Umweltbelastungen allgemein aus ökologischen Gründen überhaupt nicht erstrebenswert wäre).

Das verstärkte "going abroad" großer und häufig multinationaler Unternehmen, dem nationales Recht und nationale Politik unter dem Vorzeichen der Globalisierung und Europäisierung immer weniger Grenzen zu setzen vermögen, ermöglicht in großem Umfang nicht nur den Transfer von Kapital, sondern auch die Verlagerung der Gewinnerzielung in Länder, in denen geringere steuerliche Belastung anfällt als im Heimatstaat, mit dem Resultat, daß der Anteil auch gut florierender Unternehmen am Steueraufkommen ihres jeweiligen Sitzstaates rückläufig ist und insgesamt eine Verschiebung der steuerlichen Belastungsquote von den Selbständigen und Unternehmen hin zu den Arbeitnehmern stattfindet.

Auf die damit verbundenen steuerlichen Konsequenzen ist bereits hingewiesen worden. [ Siehe oben 4. und Fn. 23( = Europäische Kommission, Mitteilung: Die Zukunft des Sozialschutzes. Ein Rahmen für eine europäische Debatte (KOM (95) 466 endg.), Brüssel 1995, S. 9)] Diese Entwicklung führt zu einer Einbuße zwar nicht an rechtlicher Souveränität, so doch an politischer Autonomie der Nationalstaaten, und sie hat zugleich eine zunehmende Belastung insbesondere derjenigen sozialen Sicherungssysteme zur Folge, die wie dasjenige der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Anknüpfung an das sozialversicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis als Kernelement der sozialen Sicherung in entscheidendem Maße von der Erwerbsarbeit abhängen. Diese zunehmende Belastung der traditionellen Systeme der sozialen Sicherung bedeutet zugleich, daß auch das überkommene wohlfahrts- bzw. sozialstaatliche Modell in Frage gestellt wird, welches politisch wie ökonomisch das Gesicht Westeuropas seit Ende des Zweiten Weltkrieges prägt.

Dabei wird die Entwicklung der vergangenen fünf Jahrzehnten, d.h. der Periode seit Ende des Zweiten Weltkrieges dadurch charakterisiert, daß die soziale Sicherung gleichsam in eine dritte Phase eingetreten ist: (i) nach der vorindustriellen, durch private Wohlfahrt ("caritas") und öffentliche (früher Armen-)Fürsorge sowie Selbsthilfeeinrichtungen der Betroffenen zur Bekämpfung von Armut und zur Gewährleistung von Sicherheit in Notfällen geprägten Periode und (ii) der im Gefolge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Phase der sozialen Absicherung der großen Lebensrisiken für die Masse der abhängig Beschäftigten und später darüber hinaus auch für die sonstigen Erwerbstätigen (einschließlich der diesen gegenüber unterhaltsberechtigten Familienangehörigen) in der Folge der Ausbreitung und Ausweitung insbesondere der beitragsbezogenen Sozialleistungssysteme (Sozialversicherungssysteme) wird (iii) seit dem Ende des 2. Weltkrieges die soziale Sicherheit in zunehmendem Maße als Bürgerrecht begriffen und es zugleich zur Aufgabe des Staates - als Wohlfahrts- bzw. Sozialstaates - erklärt, allen Bürgern gleichermaßen den Zugang zur immer umfassender begriffenen sozialen Sicherung zu eröffnen (ohne dabei freilich - namentlich auch in Deutschland - auf eine Differenzierung in Gestalt einer unterschiedlichen Absicherung der Bürger in Hinblick Einbeziehung, Ausgestaltung und Niveau dieser Absicherung in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen sozioökonomischen bzw. professionellen Status zu verzichten).

In der aktuellen deutschen Diskussion um den Sozialstaat geht es in erster Linie um die Lohnkosten i.w.S., d.h. um Löhne und Lohnzusatzkosten, für deren Höhe die Sozialpolitik und insbesondere die soziale Sicherung mitverantwortlich zeichnet. Darüber hinaus geht es aber auch um vielfältige andere Aspekte, welche die soziale Sicherung als Kernbestandteil des Sozialstaats unmittelbar oder mittelbar beeinflussen, so um die allgemeine ökonomische Entwicklung im Hinblick auf Wirtschaftswachstum und Handelsströme, um Bevölkerungswanderungen wie überhaupt um die demographische Entwicklung, sowie um politische und rechtliche Entscheidungen auf nationaler, internationaler und supranationaler Ebene. [ Vgl. dazu instruktiv Schmähl, W., Engere ökonomische und politische Verflechtung als Herausforderung für die nationale Sozialpolitik, in: Schmähl W./Rische, H. (Hrsg.), Internationalisierung von Wirtschaft und Politik - Handlungsspielräume der nationalen Sozialpolitik, Baden - Baden 1995, S. 9ff., sowie die weiteren Beiträge in diesem sehr instruktiven Tagungsband.] Das System der sozialen Sicherung stellt sich dabei als eine Vielzahl sowohl öffentlich-rechtlicher als auch privatrechtlicher (einschließlich kollektivvertraglich geregelter) Maßnahmen und Institutionen dar.

Dies läßt sich anschaulich an der gerade heute in vielfältiger Hinsicht in der Diskussion befindlichen Alterssicherung illustrieren, die sich i.d.R. zusammensetzt aus

- Regelsicherungssystemen (in Deutschland: gesetzlicher Rentenversicherung, Beamtenversorgung, berufsständischen Versorgungswerken),

- ergänzenden Einrichtungen der Alterssicherung im öffentlichen wie im privaten und insbesondere betrieblichen Bereich, sowie aus

- unterschiedlichen Formen freiwilliger zusätzlicher Vorsorge für das Alter, z.B. in Gestalt privater Lebensversicherungen. [ Zu einem aktuellen Oberblick mit weiteren Nachweisen vgl. z.B. Hauser, R., Stand und Entwicklungstendenzen der Annäherung der sozialen Sicherung in der Europäischen Union: Das Beispiel Alterssicherung, in: Schmähl, W., Rische, H. (Hrsg.), op. cit., S. 139ff. (ausführlich ASEG - Projekt 'Alterssicherung in der EG', Diskussionspapier Nr. 33, Frankfurt/Main: Johann - Wolfgang - Goethe Universität, 1995).]

Der öffentliche und private Anteil an der sozialen Sicherung ist von Land zu Land - auch in der Europäischen Union - durchaus unterschiedlich. Gegenüber Drittstaaten liegt dabei in den Mitgliedstaaten der EU der öffentliche Anteil durchweg deutlich höher (siehe dazu bereits oben 1.). Berücksichtigt man allerdings sowohl die öffentlichen Sozialausgaben wie die gesamten Aufwendungen der privaten Haushalte für den Sozialschatz, so nähern sich die Gesamtaufwendungen in den entwickelnden Industriestaaten, wie vorstehend bereits betont, einander hingegen stark an. Zugunsten der öffentlichen sozialen Sicherung läßt sich in diesem Zusammenhang vorbringen, daß sie i.d.R. in stärkerem Maße auf Gleichbehandlung aller Bürger angelegt ist und in höherem Maße geeignet ist, bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen zum Durchbruch zu verhelfen.

Die demographische und gesellschaftliche Entwicklung, die zu einer zunehmenden Vereinzelung (mit der Folge, daß in einzelnen deutschen Großstädten schon über 50% aller Haushalte Ein-Personen-Haushalte sind) und auch zu einer Individualisierung der Lebensstile führt, erhöht tendenziell die Abhängigkeit der Bürger- zumal im Alter - von durch (öffentliche wie private) Dritte bereitgestellte Sicherungen in dem Maße, in dem entsprechende Hilfe im familiären und sonstigen Umfeld nicht mehr erbracht und erwartet werden kann.

Diese vielfältige und vielschichtige - öffentliche und private - soziale Sicherung ist den Konsequenzen der vorstehend angesprochenen internationalen Verflechtung ausgesetzt, die sich auf sehr unterschiedliche Weise in folgenden Dimensionen zeigt:

- der wachsenden Kapitalabhängigkeit der Produktion und in ihrem Gefolge einer immer stärkeren Konzentrationsbewegung in Industrie und Handel,

- der vorstehend bereits angesprochenen (siehe oben 3.) zunehmenden Globalisierung von Produktion (allerdings in geringerem Umfang), Handel und Finanzmärkten, ausweislich der Intensivierung des weltweiten Austausches und auch der steigenden Bedeutung multinationaler Unternehmen;

- der wachsenden Abhängigkeit politischer Akteure und der Staaten selbst von den Trägern wirtschaftlicher Macht;

- der daraus resultierenden zunehmenden Weltmarktkonkurrenz, die nicht zuletzt eine (auch Arbeits-)Kostenkonkurrenz ist;

- den seit den 80er Jahren eingetretenen Veränderungen der Beziehungen zu den Ländern Mittel- und Osteuropas, die sich durch neue Konkurrenzverhältnisse auf Güterund Faktormärkten sowie durch eine Verstärkung des Standortwattbewerbs auszeichnen;

- der verstärkten Migration- Erwerbstätiger wie Nichterwerbstätiger - aus Drittstaaten in die Staaten der Europäischen Union, zum einen von Ost nach West und zum anderen von Süd nach Nord;

- der Erwartung verstärkter Wanderungsbewegungen auch innerhalb der Europäischen Union selbst, und zwar nicht allein (wie in der Vergangenheit zumeist) von eher gering qualifizierten Arbeitnehmern, sondern in verstärktem Maße von höher qualifizierten Arbeitnehmern und Selbständigen sowie auch von Nichterwerbstätigen, und zwar nicht mehr eher einseitig von Süd nach Nord, sondern auch in umgekehrter Richtung;

- der Verstärkung der Europäischen Integration zum einen durch die Assoziierung von Drittstaaten (ausweichlich des Assoziierungsabkommens der EWG mit der Türkei; der Kooperationsabkommen mit den Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien, dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum der 15 EU-Staaten mit (heute) Island, Liechtenstein und Norwegen, sowie jüngst den Europa-Abkommen der Europäischen Gemeinschaft mit den mittel- und osteuropäischen (MOE-)Ländern) sowie der geplanten Erweiterung der Europäischen Union aufgrund des Beitritts neuer Länder und zum anderen durch die Vertiefung dieser Europäischen Integration - ökonomisch und politisch durch die geplante Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, institutionell, rechtlich und politisch durch die Reform der "Verfassung" oder des "Grundstatuts" [ Vgl. zu diesem Begriff und seinen Implikationen in Abgrenzung zum als unzulänglich apostrophierten Begriff "Unionsverfassung" Koenig, Ch., Anmerkungen zur Grundordnung der Europäischen Union und ihrem fehlenden "Verfassungsbedarf", in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 1996, S. 549ff.; krit. zu einer "Verfassung" der Europäischen Union auch Grimm, D., Braucht Europa eine Verfassung?, in: Rack, R. (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, Graz 1995, S. 11ff.] der Europäischen Union im Gefolge der Regierungskonferenz 1996/97 und jüngst des Vertrages von Amsterdam.

Diese Entwicklungen, welche die ökonomischen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen der Sozialpolitik in Deutschland in vielfältiger Weise prägen, führen in ihrer Summe zu einer noch stärkeren Einschränkung der nationalstaatlichen Steuerungskapazität auch im Bereich der Sozialpolitik und begründen einen Bedarf zum einen an Systemanpassung und zum anderen an Systemintegration vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz mit anderen Staaten, so insbesondere den USA und Japan, und zugleich gleichsam parallel zu dem sich gegenwärtig vollziehenden Systemaufbau in den mittel- und osteuropäischen Ländern. [ Vgl. zu diesen "System - Kontexten" des Sozialstaats Flora, P., Europa als Sozialstaat?, in: Schäfers, B. (Hrsg.), Lebensverhältnisse und soziale Konflikte im neuen Europa (Verhandlungen des 26. Deutschen Soziologentages in Düsseldorf 1992), Frankfurt/Main 1992, S. 754ff.] Während die Wirtschaftspolitik bereits weitgehend "in Europa" integriert worden ist, ist die Verantwortung für die Sozialpolitik allerdings bei den Mitgliedstaaten verblieben, die damit ihren Bürgern gegenüber auf der nationalen Ebene "in der Pflicht" bleiben, obwohl ihr entsprechender Handlungsspielraum in zunehmenden Maße Einschränkungen unterliegt; dies gilt auch und gerade für die Beschäftigungspolitik, die bislang in besonders ausgeprägter Weise noch eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten ist. Allerdings hat "Amsterdam" hier eine - rechtlich noch nicht wirksame, sich aber politisch bereits bemerkbar machende - Mitverantwortung der Europäischen Gemeinschaft gebracht (siehe unten S.5.2).

Bestrebungen auf internationaler Ebene - z.B. im Rahmen von Handelsabkommen -, durch sogenannte Sozialklauseln bestimmte Sozialschutznormen festzuschreiben, die zum einen mit Erwägungen eines übergreifenden "Völker-Sozialrechts" gerechtfertigt werden, welche auf Rechtsinstrumenten insbesondere der Vereinten Nationen, der Internationalen Arbeitsorganisation, des Europarats und der Europäischen Gemeinschaft gründen, und die auf eine weltweite Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen abzielen, [ Vgl. zu einem aktuellen Oberblick Schulte, B., Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte: Stand und Trends der Entwicklung, in: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V., Die internationale Durchsetzung der Menschenrechte: Zielvorstellungen - Erfolge - Hindernisse, Bonn 1997.] denen aber zugleich auch (und vielleicht sogar vor allem) ein Interesse der sozial höher entwickelten Länder zugrunde liegt, eine auf niedrigeren Arbeits- und Sozialstandards in Drittländern beruhende und damit sozialpolitisch induzierte Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu verhindern, und die sich in jüngster Zeit vor allem bei der Aushandlung und dem Abschluß internationaler Handelsverträge manifestieren, [ Vgl. dazu etwa Scheurer, Ch., Sozialklauseln in Handelsverträgen. Ein Instrument zur sozialen Abfederung globalisierter Märkte?, in: WSI Mitteilungen 49 (1996), S. 245.] ist bis heute (etwa ausweislich der der WTO-Verhandlungen vom Dezember 1996) nur ein höchst begrenzter Erfolg beschieden gewesen, beruhen doch die Wettbewerbsfähigkeit und damit zugleich die Möglichkeit, Erwerbseinkommen zu erzielen, in den sozial weniger entwickelten Ländern angesichts des Vorhandenseins vielfältiger sonstiger Standortnachteile vor allem auf den sehr viel geringeren Produktionskosten, zu denen neben dem geringen Lohnniveau nicht zuletzt eben niedrigere Sozialstandards beitragen. Es nimmt nicht wunder, daß die betreffenden Staaten wenig Bereitschaft zeigen, diesen spezifischen Wettbewerbsvorteil aus der Hand zu geben. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß insbesondere in Entwicklungs- und sogenannten Schwellenländern, aber auch etwa in den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas (sogenannte MOE–Staaten) aufgrund des geringeren Entwicklungs- und Wohlstandsniveaus die Frage nach sozialen Standards bzw. der Sozialstaatlichkeit überhaupt insgesamt einen anderen -und zwar i.d.R. sehr viel geringeren - Stellenwert hat. (Zugleich lehrt freilich das Beispiel der wirtschaftlich erfolgreichen Staaten Südostasiens - Hongkong, Südkorea, Singapur, Taiwan u.a.-, daß dem ökonomischen Erfolg insbesondere im Verbund mit fortschreitender Demokratisierung i.d.R. alsbald der Ruf nach einem Mehr an Wohlfahrtsstaatlichkeit folgt, für das heute im übrigen wiederum in erster Linie das Europa der Europäischen Union als Vorbild dient und dessen Befolgung dann rasch auch zu einem Anstieg der Lohnkosten in diesen Ländern geführt hat mit dem Resultat, daß der auf fehlender oder jedenfalls geringer sozialer Absicherung der Arbeitnehmer fußende Wettbewerbsvorteil schwindet und eine Annäherung an Europäische Lebensmuster auch im Hinblick auf Sozialstandards eintritt.)

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch die jüngste sozialstaatliche Entwicklung in Japan, dessen "einholende" Sozialpolitik z.B. dazu geführt hat, daß das Parlament jüngst den Entwurf einer - übrigens stark von der deutschen sozialen Pflegeversicherung inspirierten - Pflegeversicherung verabschiedet hat. [ Vgl. dazu etwa näher Matsumoto, K., Entwicklungen im sozialen Sicherungssystem in Japan, in: Sozialer Fortschritt (SF) 1997, S. 37ff.; ders., Zur Einführung der Pflegeversicherung in Japan, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS) 5 (1996), S. 99ff.]

Auf diesem Hintergrund stehen alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor der Frage, inwiefern unter diesen veränderten Wettbewerbsbedingungen die jeweiligen - auch in der Europäischen Union heute und auf absehbare Zeit grundsätzlich nicht zuletzt unter Gesichtspunkten der Subsidiarität [ Siehe dazu unten 5.3; vgl. jüngst Kleinhenz, G., Subsidiarität und Solidarität bei der sozialen Integration in Europa. Ein erweitertes Vorbild, in: ders. (Hrsg.), Soziale Integration in Europa II, Berlin 1996, S. 7ff.] nach wie vor nationalen - Sozialleistungssysteme bzw. - umfassender - die jeweilige nationale Wohlfahrts- bzw. Sozialstaatlichkeit den veränderten Rahmenbedingungen angepaßt werden müssen.

Unter ökonomischen Vorzeichen stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob und inwieweit die Sozialpolitik Handel, Investitionstätigkeit, Beschäftigung und Mobilität von Arbeitskräften negativ beeinflußt mit der Folge, daß sich die Aufgabe stellt, die Sozialpolitik so zu gestalten, daß solche negativen Einflüsse vermieden und statt dessen beschäftigungsfördernde Effekte möglichst verstärkt werden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß in den EG-Staaten die modernen Sozialschutzsysteme vor allem in den 50er - 70er Jahren vor dem Hintergrund verhältnismäßig niedriger Erwerbsquoten - insbesondere von Frauen - und zugleich geringer Arbeitslosigkeit auf- und ausgebaut worden sind. Seinerzeit brauchte deshalb wenig Aufmerksamkeit der sich heute eindringlich stellenden Frage geschenkt werden, wie man mit einem Ungleichgewicht zwischen Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot fertig werden kann. Heute hat demgegenüber die Belastung der erwerbstätigen Bevölkerung durch Einkommenstransfers zugunsten nichterwerbstätiger Personen - Kinder und Jugendlicher, Kranker, Erwerbsunfähiger, Invaliditäts- und Altersrentner, Arbeitsloser - erheblich zugenommen (mit der Perspektive einer weiteren Zunahme in den nächsten Jahren), sind damit zugleich die wettbewerbsrelevanten Lohnnebenkosten gestiegen, und wird deshalb allenthalben die Notwendigkeit erkannt, die Sozialleistungssysteme dem raschen Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen, sie beschäftigungsfreundlicher auszugestalten, Kosten einzudämmen und die in vielerlei Hinsicht bestehende Starrheit der überkommenen Sozialschutzsysteme durch ein Mehr an Flexibilität zu ersetzen, ohne aber das Ziel der nationalen Solidarität im Bereich des Sozialen aufzugeben.

Die Europäische Kommission hatte bereits in ihrem Weißbuch " Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung" von 1993 [ Europäische Kommission, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung - Weißbuch, Brüssel 1993.] eine Senkung der Lohnnebenkosten in einer Größenordnung von 1% bis 2% des Bruttoinlandsprodukts für die Europäische Union insgesamt empfohlen. Dieser Empfehlung, die vom Europäischen Rat in Essen 1994 bekräftigt worden ist, wurde bislang von den Mitgliedstaaten nicht entsprochen, offenkundig weil man keinen geeigneten und ausreichenden Haushaltsausgleich für die mit einem solchen Schritt zwangsläufig verbundenen Einnahmeausfälle zu finden vermochte.

Deutschland ist diesbezüglich deshalb in einer besonderen Lage, als die deutsche Vereinigung und der damit verbundene Aufhau eines demjenigen in den alten Bundesländern entsprechenden Systems der sozialen Sicherung in den neuen Ländern der Sozialpolitik zusätzliche, insbesondere auch finanzielle Belastungen auferlegt hat, die als Aufgabe zu dem aus anderen Gründen notwendigen "Umbau des Sozialstaats" hinzutreten. Die aus der ökonomischen Globalisierung, der demographischen Entwicklung, dem Wandel der Erwerbsarbeit und der Lage auf dem Arbeitsmarkt sowie auch dem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel wachsenden Herausforderungen der Sozialpolitik treffen überdies ohnehin den deutschen Sozialstaat deshalb in spezifischer Weise, weil sich dieser Wohlfahrtsstaatstyp auch als Erwerbspersonen-Sozialstaat [ So Schmidt, M., Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1988; zu einem Überblick über die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung in Europa vgl. im übrigen jüngst Schulte, B., Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung in Europa, in: Zeitschrift für Sozialreform (ZSR) 43 (1997), S. 729ff.] charakterisieren läßt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß das deutsche Sozialleistungssystem als Kernbestandteil des Sozialstaats auf dem spezifischen kontinental-europäischen, aus der Bismarck'schen Arbeiterversicherung hervorgegangenen Sozialversicherungsmodell fußt, welches an die Erwerbstätigkeit und hier insbesondere an die abhängige Beschäftigung anknüpft.

Soweit allerdings ein (wirkliches oder vermeintliches) überhöhtes Lohnniveau und das (zu?) hohe Ausmaß der sozialen Sicherung und die sich daraus ergebenden Lohnkosten für das geringe Beschäftigungsvolumen in Deutschland verantwortlich gemacht werden, ist darauf hinzuweisen, daß die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht von den Lohnkosten als solche, sondern von den sogenannten Lohnstückkosten abhängt, d.h. vom Verhältnis von Produktivitätsentwicklung und Lohnhöhe. Diesbezüglich bewegt sich Deutschland allerdings durchaus im Mittelfeld der EG, und auch die Exportbilanz weist aus, daß die deutsche Wirtschaft auf dem Weltmarkt bestehen kann. Im übrigen trägt auch die hohe Bewertung der Deutschen Mark Mitverantwortung für die Kostenentwicklung. Schließlich haben die Konsolidierungsmaßnahmen der letzten Jahre zu einer erheblichen Senkung der Lohnnebenkosten beigetragen.

Das Arbeitskostenproblem läßt sich wohl auch nicht allein durch eine Absenkung des Lohnniveaus und Einschnitte in das soziale Netz lösen, da solche Maßnahmen nicht ohne negative Begleiterscheinungen "zu haben sind"; zu diesen zählt nicht nur der mit derartigen Maßnahmen zwangsläufig verbundene Verlust an Kaufkraft auf Seiten der Betroffenen, sondern auch der Umstand, daß der Sozialstaat eben nicht einseitig allein als Last für Unternehmen, die Wirtschaft insgesamt sowie Staat und Gesellschaft betrachtet werden darf, sondern einen wichtigen Beitrag zum Funktionieren von Staat, Gesellschaft und auch Wirtschaft leistet, u.a. durch die Bereitstellung qualifizierten "human capitals", die Gewährleistung sozialen Friedens, sowie die Herstellung eines Mindestmaßes an gleichen Entfaltungschancen und Lebensbedingungen.

Beobachter der Entwicklung des britischen Wohlfahrtsstaats seit der dortigen "Wende" unter Margaret Thatcher und John Major sind für die Zeit seit 1979 zu dem Schluß gekommen, daß der dort betriebene Abbau des Wohlfahrtsstaats zu einer Zunahme sozialer Ungleichheit geführt hat, daß aber "Ungleichheit nicht funktioniert" [ So Lawson, R., Eine konservative Revolution? Thatcher, Major und der britische Wohlfahrtsstaat, in: WSI - Mitteilungen 1996, S. 263ff. (im Anschluß an Hutton, W., The State We're In, London 1995); auch Schulte, B., Großbritannien - Das Ende des Wohlfahrtsstaats?, in: Sozialer Fortschritt (SF) 1993, S. 30ff.] hat, weil nämlich soziale Ungleichheiten und öffentliche Verarmung hohe gesellschaftliche Folgekosten haben, die letztlich auch das private Wohlergehen aller negativ beeinflussen. Allerdings wird es auch im Vereinigten Königreich keine Rückkehr zum "alten" Wohlfahrtsstaat geben, spricht sich dort doch auch die neue Labour-Regierung unter Tony Blair für die Schaffung eines neuen "intelligenten" Wohlfahrtsstaats der Zukunft aus, der insbesondere darauf ausgerichtet sein soll, die Autonomie des einzelnen zu stärken, ihm zu ermöglichen, sich unter den obwaltenden Bedingungen am Erwerbsleben zu beteiligen, und der den Tendenzen zur anfälligen Individualisierung dadurch Rechnung trägt, daß dem einzelnen "Optionen" eingeräumt werden sollen. [ Vgl. dazu etwa Commission on Social Justice, Social Justice. Strategies for National Renewal, London 1994.] Die Schaffung von mehr Beschäftigung, Wahlfreiheit, Wettbewerb und private Leistungserbringung werden allerdings überhaupt und überall - auch in Deutschland - prägende Merkmale des gewandelten Sozialstaats der Zukunft sein. In liberalen Wohlfahrtsstaaten wie den USA und heute auch dem Vereinigten Königreich (siehe oben 1.) lassen sich einige dieser Entwicklungen und ihrer Auswirkungen gleichsam als Ausprägungen eines "distanzierten Sozialstaates " (Pitschas) studieren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 1998

Previous Page TOC Next Page