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2. Die gegenwärtige sozialpolitische Entwicklung

Sozialpolitik ist (allzu) lange als eine rein nationale Domäne angesehen worden. Diese Betrachtungsweise ist heute überholt. Für eine Öffnung der sozialpolitischen Diskussion über die nationalen Grenzen hinaus sprechen mehrere Gründe: Zum einen führen die Globalisierung der wirtschaftlichen Märkte und die Mobilität der Menschen zu einer zunehmenden Internationalisierung auch der sozialpolitischen Fragestellungen. Bevölkerungswachstum und Migration, ökologische Risiken und Belastungen, Krankheiten und Seuchen (z.B. Aids und BSE) machen vor nationalen Grenzen nicht halt und lassen sich in vielen Fällen wirksam nur transnational bewältigen. Die vom Prinzip der Souveränität vorausgesetzte Trennung von "innen" und "außen" löst sich in zunehmendem Maße auch im sozialpolitischen Bereich auf. Dem entspricht die Zunahme intenationaler und - in der Europäischen Union - supranationaler Rechtsnormen in diesem Bereich. Sowohl dieses gemeinsame Band des inter- und supranationalen Rechts als insbesondere auch die Ähnlichkeit der Herausforderungen und Probleme in den modernen Industriestaaten legen es nahe, daß man sich auch im Zusammenhang mit der Diskussion um die Zukunft des Sozialstaates mit ausländischen Lösungsansätzen und Lösungswegen befaßt und versucht, daraus Anregungen für eigene Reformen zu gewinnen.

Was die vorstehend (siehe oben 1.) benannten Herausforderungen des Sozialstaates anbelangt, so ist nicht nur in Europa, sondern im Hinblick auf eine Vielzahl von Gesichtspunkten sogar weltweit ein hohes Maß an Vergleichbarkeit festzustellen: Arbeitslosigkeit, neue Formen der Erwerbstätigkeit, Änderungen der Familienstrukturen, größer werdende Sozialetats bei tendenziell defizitären Staatshaushalten sowie in demographischer Hinsicht eine alternde Bevölkerung führen nahezu allenthalben kurz- oder aber mittelfristig zu Schwierigkeiten für die Sozialsysteme. Dazu trägt auch die heute allenthalben vielfältig diskutierte, ja Geschworene "Globalisierung" bei. Allerdings bestehen über den Anteil, den die Globalisierung an der Verursachung dieser Probleme - namentlich der Arbeitslosigkeit - hat, keine einheitlichen Vorstellungen. Immerhin zeigen sich Auswirkungen in Gestalt der Verlagerung von Produktionsstätten in Staaten mit niedrigeren Lohnkosten selbst in Ländern, die im europäischen Vergleich nicht zu den Hochlohnländern zählen. Tendenziell gilt zudem der Befund, daß sich die Sozialsysteme schwerwiegenden Herausforderungen gegenüber sehen, auch für Staaten, die - wie die USA und Japan - bislang nicht nur eine deutlich niedrigere Staats- und auch Sozialleistungsquote, sondern auch einen deutlich höheren Beschäftigungsgrad aufweisen mit der Folge, daß die Arbeitslosenrate in diesen Staaten (soweit die Statistik ein realistisches Bild vermittelt) relativ niedrig ist.

Deutschland weist insofern eine Besonderheit auf, als die vereinigungsbedingten Lasten zu den sonstigen Herausforderungen für das Sozialsystem hinzutreten. Soweit die höheren Sozialabgaben in den letzten Jahren durch die Vereinigung bedingt sind, müssen sie deshalb bei der Bewertung der Fähigkeit des deutschen Sozialleistungssystems, die anstehenden Probleme zu lösen, außer Betracht bleiben, da es sich insoweit um "politische" Lasten handelt, die von der staatlichen Gemeinschaft insgesamt und nicht von einzelnen Sozialleistungssystemen zu tragen sind. Unabhängig davon werfen die Erwerbsarbeitsbezogenheit wie im übrigen in gewisser Weise auch die ausgeprägte Ehezentrierung nicht nur etwa des Steuerrechts, sondern auch der deutschen Sozialversicherung sowie die starke Ausrichtung zumal der Sozialversicherungsleistungen auf die Lebensstandardsicherung und der weitgehende Verzicht auf wirksame mindestsichernde Mechanismen innerhalb der Sozialversicherung selbst spezifische Probleme auf. [ Vgl. dazu die Beiträge in: Döring, D./Hauser, R. (Hrsg.), Soziale Sicherheit in Gefahr, Frankfurt/M. 1995, sowie Döring, D./Hauser, R., Neue Akzente für die künftige Sozialpolitik, ebenda, S. 249ff.; auch Döring, D., Zentrale Reformprobleme des deutschen Sozialstaates, Frankfurt a.M./Tutzing (Ms.), 1997.]

Die einleitend stichwortartig aufgelisteten wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen wirken sich wiederum in ganz spezifischer Weise auf die sozialen Sicherungssysteme und damit auf die tragenden Säulen des Sozialstaates aus:

- Es stehen weniger finanzielle Mittel zur Verfügung, die verteilt werden können. Das zeigt sich bei den beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystemen ganz unmittelbar daran, daß bei steigender Arbeitslosigkeit und stagnierenden oder gar sinkenden Einkommen der Versicherten die Beitragseinnahmen zurückgehen; die Wirkung ist bei steuerfinanzierten Systemen, bei denen sie durch den Staatshaushalt vermittelt wird, letztlich dieselbe.

- Es entstehen zusätzliche neue soziale Bedarfslagen, die ein Eingreifen der Solidargemeinschaft erfordern, und zwar vor allem infolge steigender Arbeitslosigkeit und daraus resultierenden Mehrausgaben für Leistungen an Arbeitslose und für die Sozialhilfe sowie aufgrund der Alterung der Bevölkerung mit der Folge wachsender Belastungen durch Altersrenten und erhöhten Sozialausgaben für Leistungen bei Pflegebedürftigkeit und Gesundheitsleistungen.

- Die Verknappung der finanziellen Mittel zeigt überdies zum einen auch Fehlentwicklungen der Sozialsysteme auf - z.B. ausweislich hoher Zahlen von Invalidenrentnern, eines unverhältnismäßig hohen Krankenstandes u.a.-, ist allerdings auch das Ergebnis der Schwächung des Steuerstaates durch Globalisierung und Europäisierung, die es (wie bereits erwähnt) Unternehmen nicht nur gestatten, Kapital ins Ausland zu transferieren und im Ausland zu investieren, sondern auch Gewinne ins Ausland zu verlagern und dadurch deren Besteuerung im Inland zu vermeiden.

Zwischen 1980 und 1994 ist denn auch die kalkulatorische steuerliche Belastung der abhängigen Erwerbstätigkeit in den EU-Staaten von 34,7% auf 40,5% gestiegen, während die Belastung der Produktionsfaktoren Kapital, selbständige Erwerbstätigkeit, Energie und natürliche Ressourcen von 44,1% auf 35,2% gesunken ist. [ Vgl. Europäische Kommission, a.a.O. (Fn. 7 = Europäische Kommission, Mitteilung: Die Zukunft des Sozialschutzes. Ein Rahmen für eine europäische Debatte (KOM (95) 466 endg.), Brüssel 1995), S. 9.]

Was die Reaktion der Staaten auf diese Entwicklungen angeht, so sind in allen betroffenen Ländern - z.T. gravierende - gesetzgeberische Eingriffe in das Sozialsystem erfolgt. Dabei sind in bezug auf Zielsetzung, Umfang und Vorgehensweise durchaus Unterschiede festzustellen:

In bezug auf die Zielsetzungen der vorgenommenen Änderungen werden die Eingriffe in ein Sozialleistungssystem zum einen mit volkswirtschaftlichen Erwägungen - schlagwortartig: "Leistungsfähigkeit der Wirtschaft", "Wettbewerb", "Standort" - und mit fiskalischen Notwendigkeiten begründet, zum anderen wird sozialpolitisch argumentiert, wenn etwa soziale Vergünstigungen, die als nicht mehr tragbar oder gar als nicht mehr notwendig angesehen werden, eingeschränkt werden. Solche Maßnahmen haben nicht nur Einspareffekte zur Folge, sondern können dadurch auch zur Stabilisierung des sozialstaatlichen Systems beitragen, daß die Sozialleistungen durch "better targeting" stärker auf die spezifischen Bedarfslagen Betroffener konzentriert werden.

Das Ausmaß der Eingriffe ist in den meisten Staaten erheblich, vergleicht man es mit der Entwicklung der vorangehenden Jahrzehnte, wobei der Abbau teilweise bereits während der 80er Jahre erfolgt ist (so etwa im Vereinigten Königreich).

Gerade dieses Land ist ein Beispiel dafür, wie durch eine sehr rigorose Senkung der Sozialausgaben bisher auch international anerkannte Sozialleistungsstandards - etwa die Gewährleistung eines ausreichenden Alterseinkommens - in Frage gestellt werden mit der Folge, daß dadurch die Gesellschaft insgesamt destabilisiert wird. Auf diesem Hintergrund sind die Fragen danach, "was die Gesellschaft auseinandertreibt" und "was sie zusammenhält" [ Zu den Desintegrationserscheinungen und Integrationsmöglichkeiten aus soziologischer und politikwissenschaftlicher Sicht jüngst die Beiträge in: Heitmeyer, W. (Hrsg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt/Main 1997, sowie ders. (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt/Main 1997.] , in der Tat von höchster Aktualität.

Die Absenkung von Sozialleistungen wirft verschärft die Frage nach einer sozialen Mindestabsicherung auf. In manchen Staaten findet sich ein Nebeneinander von Arbeitnehmerversicherungen und Volksversicherungen (z.B. in Belgien, Dänemark, Japan, den Niederlanden), wobei letzteren bei der Gewährleistung einer Mindestsicherung eine besondere Bedeutung zukommt. Anderswo - so in Deutschland - ist die Mindestsicherung Aufgabe der subsidiären Sozialhilfe als des Ausfallnetzes des Gesamtsystems der sozialen Sicherheit.

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß eine Privatisierung der sozialen Sicherheit im Sinne eines Rückzugs des Staates aus seiner traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Rolle in der Vergangenheit partiell zwar vereinzelt (so zunächst im Vereinigten Königreich) stattgefunden hat und heute verstärkt stattfindet (so jüngst für den Gesundheitsbereich etwa in den Niederlanden), gemeinschaftsweit aber bislang noch kein einheitlicher Trend in diese Richtung festgestellt werden kann, ist es doch in einzelnen Staaten -so insbesondere im wohlfahrtsstaatlich "nachholenden" Süden Europas auch noch in den 90er Jahren - zu einem Ausbau der öffentlichen Sozialschutzsysteme gekommen. Auch die 1995 erfolgte Einführung der sozialen Pflegeversicherung in Deutschland zeigt, daß die Sozialschutzsysteme der Mitgliedstaaten trotz aller Tendenzen zur "Verschlankung" auch heute noch auf neue soziale Herausforderungen ggf. durch den Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit reagieren. Überdies ist anzumerken, daß eine Privatisierung der sozialen Sicherheit nicht notwendigerweise mit einem völligen Verzicht auf staatliche Mindestgarantien verbunden ist; dafür kann das vorstehend angesprochene niederländische Beispiel als Beleg dienen.

Zu beobachten ist allerdings allenthalben eine Hinwendung zu einem Wohlfahrtspluralismus und zur vermehrten Einschaltung privater - sowohl privat-gemeinnützig wie privat–gewerblich orientierter - Träger in die Erbringung sozialer Dienstleistungen.

Die staatliche Verantwortung für den sozialen Schutz gehört somit nach wie vor zu den Kernelementen der europäischen Staats- und Gesellschaftsordnungen. In ihren Anfängen in das vorige Jahrhundert zurückreichend hat es die Sozialpolitik der europäischen Länder vermocht, umfassende soziale Schutzsysteme aufzubauen. Entstehung, Entwicklung und Fortbestand dieser Systeme konnten sich dabei zumeist auf einen relativ breiten Konsens zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Kräften stützen, die das Solidarprinzip in der sozialen Sicherung als ein Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ergänzendes Strukturprinzip von Staat und Gesellschaft im Grundsatz anerkannt, etabliert und durchgesetzt haben.

Im übrigen haben unterschiedliche Faktoren zur historischen Entwicklung der modernen Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa beigetragen, die als Jahrhundertentwicklung eine große Vielfalt nationaler Ausprägungen aufweist, zugleich jedoch auch gewisse Gemeinsamkeiten erfahren hat, an welche die Europäische Sozialpolitik anknüpfen kann, wie etwa

- die Ergänzung des Konzepts von Staatsbürgerschaft ('citizenship '), das zunächst freiheitsrechtlich, ökonomisch und politisch definiert worden ist, um die soziale Dimension in Gestalt sozialer Rechte, welche einen Anspruch auf das Existenzminimum und eine elementare soziale Sicherung verbriefen, und denen im Laufe der Zeit ein Anspruch auf die Schaffung von Möglichkeiten der Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, d.h. auf "lnklusion" an die Seite gestellt worden ist;

- die Überzeugung, daß die Staatstätigkeit in industriellen Gesellschaften, die auf einer weitgehenden Arbeitsteilung beruhen, die hoch komplex sind, und in denen der einzelne seine Lebensrisiken nicht individuell abzusichern vermag, kollektive soziale Sicherung einschließen muß; sowie

- das Bewußtsein, daß die gesellschaftliche Solidarität ein Kernbestandteil, ja eine Grundvoraussetzung moderner, demokratisch verfaßter Gesellschaften darstellt.

Die Finanzierung der Sozialschutzsysteme beruht in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten zum überwiegenden Teil auf Beiträgen, die von Versicherten und Arbeitgebern aufgebracht werden. In den skandinavischen Ländern dominieren allerdings nach wie vor steuerfinanzierte Systeme, und auch Irland und das Vereinigte Königreich weisen einen deutlich über dem EG-Durchschnitt (EUR 12 im Jahre 1993: 29,9%) [ Eurostat Statistics 1995; vgl. im übrigen zu weiteren Nachweisen Europäische Kommission (Fn. 8 = Europäische Kommission, Soziale Sicherheit in Europa 1995, Brüssel 1996, S. 25).] liegenden Steueranteil an der Finanzierung der Sozialschutzsysteme auf. Allerdings nimmt die Beitragsfinanzierung - wie als jüngstes Beispiel die in Aussicht genommene Reform der Alterssicherung in Schweden zeigt - insgesamt zu.

Unterschiede gibt es diesbezüglich auch zwischen den einzelnen Sozialleistungszweigen in den Mitgliedstaaten. So ist die Steuerfinanzierung im Gesundheitswesen sowie im Hinblick auf die soziale Mindestsicherung besonders verbreitet und finden sich häufig auch gemischte Systeme, die sowohl beitrags- wie steuerbezogene Finanzierungselemente enthalten (z.B. Alterssicherungssysteme, die im Grundsatz auf Beiträgen beruhen, deren Mindestsicherungskomponente beispielsweise aber durch eine Staatszuschuß finanziert wird).

Bemerkenswert ist ferner, daß die Arbeitgeberbeiträge in jüngster Zeit allgemein zu Lasten der Arbeitnehmerbeiträge sowie des steuerlichen Finanzierungsanteils sinken. (Die Diskussion um die soziale Pflegeversicherung in Deutschland und die bei ihrer Einführung vorgenommene Kompensation für den Arbeitgeberbeitrag illustriert ebenfalls diese Entwicklung.)

Eine genaue Analyse und differenzierte Betrachtung der jeweiligen Finanzierung des sozialen Schutze in den Mitgliedstaaten ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil ein Hauptpunkt der Kritik an den Sozialschutzsystemen die Höhe der von ihnen verursachten Kosten, insbesondere die Höhe der aus der Beitragsfinanzierung erwachsenden Lohnnebenkosten darstellt. An dem Umfang der Beitragsfinanzierung kann jeweils auch der Grad der Bindung des jeweiligen Sicherungssystems an den "Faktor Arbeit" als Kriterium für die Bestimmung des personellen Anwendungsbereichs und damit des Geltungsumfangs des jeweiligen Systems abgelesen werden. Gerade dieser enge Zusammenhang von Erwerbsarbeit und Recht auf Leistungen der sozialen Sicherheit wird nämlich durch die strukturellen Entwicklungen der jüngsten Jahre, die einen Bedeutungsrückgang der Erwerbsarbeit zur Folge haben, in Frage gestellt.

In diesem Zusammenhang sei allerdings auch daran erinnert, daß gleichwohl in der gesamten Europäischen Gemeinschaft zwischen 1980 und 1993 die steuerliche Belastung der Arbeit um rund 20% gestiegen ist, während sie für alle anderen Produktionsfaktoren um rund 10% gesunken ist. (siehe dazu bereits oben.)

Ausgaben- und Leistungsstruktur sind gleichsam komplementär zur Finanzierung. Zwischen 1980 und 1993 stieg der Anteil der Sozialausgaben in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft in Vomhundertsätzen des Bruttoinlandsprodukts von 23,2% auf 26,6% (27,5% bei Einschluß der neuen deutschen Länder), d.h. er erhöhte sich um durchschnittlich 3,4%.

Diese Ausgabenentwicklung war geographisch, zeitlich und auch gegenständlich, d.h. im Hinblick auf die ihr zugrunde liegenden Leistungsarten sehr unterschiedlich.

Hinzuweisen ist dabei insbesondere auf den Ausgabenanstieg im Zusammenhang mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit: Die Ausgaben für die Funktion "Arbeitslosigkeit/Beschäftigung" wuchsen im Zeitraum 1990-1993 in den damals 12 Mitgliedstaaten um 13,9%, während der Anstieg der Aufwendungen für alle Funktionen des Sozialschutzes und ihre Leistungen bei lediglich 4,4% lag.

Im übrigen reichte das Spektrum der den Ausgabenanstieg verursachenden Leistungsausweitungen in den einzelnen Mitgliedstaaten von einem arbeitslosigkeitsinduzierten und armutspolitisch motivierten Ausbau der Grundsicherung bis hin zu einer Verbesserung des Leistungsniveaus der lohnbezogenen Lebensstandardsicherung.

Diese beiden damit angesprochenen unterschiedlichen sozialpolitischen Zielorientierungen entsprechen nach wie vor spezifischen Grundkonzeptionen der Politiken des sozialen Schutzes, die sich eben zum einen als grundsichernd, historisch vom Bestreben der Armutsbekämpfung getragen - so besonders ausgeprägt im Vereinigten Königreich -sowie zum anderen als lebensstandardsichernd und arbeitnehmer- bzw. erwerbspersonenorientiert- so besonders ausgeprägt in Deutschland, aber auch in den anderen kontinental-europäischen Ländern - auf den Begriff bringen lassen. Beide sozialpolitischen Optionen sind zentrale Elemente des vorstehend bereits angesprochenen "europäischen Gesellschaftsmodells" (Europäische Kommission), welches sich im Bereich der sozialen Sicherheit in den Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Ziel setzt, diese beiden unterschiedlichen Optionen miteinander zu verbinden: Zum einen soll jedermann ein sozio-kulturelles Existenzminimum gewährleistet werden, [ Vgl. dazu die Empfehlung des Rates 92/441/EWG vom 24. Juni 1992 über die Gewährleistung ausreichender Leistungen und Hilfen in den Systemen des sozialen Schutzes, in: ABI. EG (= Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften) 1992 Nr. L 245/46 v. 26. August 1992.] zum anderen sollen erwerbstätigen Personen, namentlich Arbeitnehmern bei Eintritt der klassischen sozialen Risiken - Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Alter - neuerdings auch Pflegebedürftigkeit als neuem eigenständigen sozialen Risiko oder als Annex-Risiko zu Krankheit, Invalidität oder Alter-, Arbeitslosigkeit - einheitliche, d.h. pauschale ("flat rate") oder aber (zumeist) einkommensbezogene Einkommensersatzleistungen bereitgestellt werden, um ihnen bei Eintritt sozialer Risiken - z.B. im altersbedingten Ruhestand - die Fortführung der bisherigen Lebensweise zu ermöglichen. [ Vgl. dazu die Empfehlung des Rates 92/442/EWG vom 27. Juli 1992 über die Annäherung der Ziele und der Politiken im Bereich des sozialen Schutzes, ABI. EG 1992 Nr. L 245/49 v. 26. August 1992.]

Die rechtliche Ausgestaltung der sozialen Absicherung geschieht in erster Linie über indi viduelle Rechtsansprüche auf Leistungen in einer bestimmten Höhe. Dabei hängt die Leistungsgewährung in bezug auf die - i.d.R. steuerfinanzierten - Mindestleistungen der sozialen Sicherung und namentlich im Hinblick auf die Sozialhilfe zumeist von einer Bedarfsprüfung ("means-test") ab. Einkommensersatzleistungen, die aufgrund von Vorleistungen in Gestalt von Beiträgen gewährt werden, verzichten demgegenüber in der Regel auf jegliche Bedarfsprüfung, einschließlich einer Einkommensprüfung.

Soweit die Beiträge in den Sozialversicherungssystemen der Mitgliedstaaten i.d.R. vom Arbeitseinkommen der versicherten Arbeitnehmer erhoben werden, besteht ein enger Zusammenhang zwischen Beschäftigung einerseits und sozialer Sicherung andererseits dergestalt, daß die Zugehörigkeit zu den "gehobenen", d.h. zu den zumeist beitragsbezogenen sozialen Sicherungssystemen (Sozialversicherungssystemen) in erster Linie über den Arbeitsmarkt erfolgt. Dementsprechend ist insbesondere das deutsche System der sozialen Sicherheit erwerbsarbeitszentriert (mit einer bemerkenswerten Ausnahme für gering Beschäftigte einerseits und bestimmte Gruppen Selbständiger andererseits).

Die fortbestehenden Unterschiede im Hinblick auf die Strukturen der Systeme des sozialen Schutzes in den Mitgliedstaaten sorgen zugleich dafür, daß vor deren Hintergrund wiederum unterschiedliche Lösungen für einschlägige sozialpolitische Probleme entwickelt werden. Dies eröffnet im Rahmen der Europäischen Union die Gelegenheit, nicht nur die Ähnlichkeit bestimmter sozialer Probleme - z.B. derjenigen der demographischen Entwicklung ("Alterung" der Bevölkerung), der Beschäftigung ("Arbeitslosigkeit"), der Dämpfung des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen, dem Wandel der Familienstrukturen u.a. - wahrzunehmen, sondern auch in einzelnen Mitgliedstaaten realisierte oder diskutierte Lösungen - z.B. für die aktuelle Problematik der sozialen Absicherung bei Pflegebedürftigkeit - gemeinschaftsweit bekannt zu machen und auf diese Weise aus der Vielfalt der in der gesamten Union entwickelten Problemlösungsstrategien und gewonnenen Erfahrungen Lehren für die künftig einzuschlagende Politik zu ziehen.

Zu dieser insofern konvergenten Entwicklung in den Europäischen Wohlfahrtsstaaten tragen eine Reihe weiterer Faktoren bei, die diesen Staaten (in mehr oder weniger großem Umfang) gemeinsam sind:

- die Globalisierung der Lebensverhältnisse, insbesondere die als regionale Globalisierung zu begreifende Europäisierung als externe Herausforderung des Sozialstaats;

- die zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft, die sich nach außen u.a. in der Zunahme der Zahl von Ein-Personen-Haushalten sowie in der Schrumpfung der Größe von Mehr-Personen-Haushalten und insbesondere der Familiengröße niederschlägt und die zu einer Schwächung der Einbindung des einzelnen in auf Dauer angelegte soziale Zusammenhänge und Bindungen führt;

- die veränderte Stellung der Frau in Ehe, Familie, Erwerbsleben und Gesellschaft, die mit einer Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit sowie einem Bewußtseinswandel im Hinblick auf Selbstverständnis und individuellen, autonomen Lebensentwurf einhergeht, zugleich aber zwangsläufig auch mit einer Abnahme des Potentials und der Bereitschaft zur Erbringung informeller Hilfe im sozialen Sektor (in bezug auf Kindererziehung, häusliche Krankenpflege, Langzeitpflege u.a.) verbunden ist;

- die Alterung der Bevölkerung, d.h. der Umstand, daß die Menschen im Durchschnitt immer älter werden, zugleich aber die Geburtenzahlen rückläufig sind und immer weniger aktiv Erwerbstätige (und Steuer- und Beitragszahler) für immer mehr ökonomisch Inaktive - vor allem alte Menschen (und Rentenbezieher) - aufzukommen haben (wobei die - aufgrund der Fortschritte der Medizin erfreulicherweise immer älter werdenden - "Alten" allerdings tendenziell immer häufiger und auch auf immer längere Zeit behandlungs-, pflege- und allgemein betreuungsbedürftig sind);

- die wachsenden ökologischen Herausforderungen;

- der Strukturwandel in der Wirtschaft, der durch einen Wandel der Erwerbsarbeit, einen Arbeitsplatzabbau im industriellen Bereich und eine Zunahme der Beschäftigung im Dienstleistungsbereich gekennzeichnet ist (wobei allerdings nicht alle Dienstleistungstätigkeiten, sondern vor allem die qualifikationsintensiveren Dienstleistungen in den Bereichen Organisation, Planung, Beratung, Forschung und Kreativität an Gewicht zunehmen);

- steigende und sich auch ständig wandelnde Qualifizierungsanforderungen an die Beschäftigten, wobei die technologische Entwicklung und der Übergang in die Informationsgesellschaft dafür zentrale Verantwortung tragen;

- ein Rückgang des Volumens und der prägenden Kraft der Erwerbstätigkeit für Staat und Gesellschaft im allgemeinen und für die Sozialisierung des einzelnen im besonderen bei einem Bedeutungszuwachs der Nicht-Erwerbsarbeit (einschließlich gesellschaftlich nützlicher Tätigkeiten).

- die vorstehend bereits angesprochene Erosion des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses, welches typischerweise durch eine auf Dauer angelegte Vollzeitbeschäftigung bei einem einzigen Arbeitgeber, eine 5-Tage- bzw. 38 - 40-Std.-Woche bei tariflich reguliertem Lohn und durch die Einbeziehung in die beschäftigungsbezogene Sozialversicherung gekennzeichnet (gewesen?) ist, zugunsten flexiblerer und individuellerer Formen der Erwerbstätigkeit sowohl in bezug auf Arbeitszeiten als auch im Hinblick auf Inhalt und Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse u.a., die in einem gewissen Maße der vorstehend bereits angesprochenen zunehmenden Individualisierung in der Gesellschaft und den damit einhergehenden Vorstellungen von individueller Selbstentfaltung entsprechen, die zum anderen - und vor allem - aber auch (unter dem Schlagwort der "Flexibilisierung") von der Bedarfs- und Angebotsseite des Arbeitsmarktes her verlangt werden.

Für die Zukunft ist angesichts dieser Entwicklung ein Szenario denkbar, demzufolge die Entwicklung der Sozialschutzsysteme in den Mitgliedstaaten stärker als in der Vergangenheit in ein und dieselbe Richtung gehen wird, sind doch die sozialen Probleme (z.B. Alterung der Bevölkerung, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung) weitgehend identisch und geht sowohl von den globalen Rahmenbedingungen als auch von der zunehmenden Integration innerhalb der Europäischen Union doch ein zunehmender, auf alle Mitgliedstaaten (wenn auch in unterschiedlichem Umfang) wirkender Druck aus, Lösungen für gleiche oder doch jedenfalls vergleichbare Probleme in derselben Richtung zu suchen. Beispielsweise stehen alle Mitgliedstaaten vor der zentralen Herausforderung, daß das von nationalen Bindungen mehr denn je befreite Kapital aufgrund seiner globalen Orientierung weniger denn je nationalstaatlich kontrolliert werden kann und zugleich auch weniger denn je auf den sozialen Konsens auf nationaler Ebene angewiesen zu sein scheint, der in der Vergangenheit insbesondere auch in Deutschland ein tragendes Element des überkommenen Sozialmodells gewesen ist.

Dies bedeutet u.a., daß ein neues, ausgewogenes Verhältnis zwischen verstärktem, weltweiten Wettbewerb einerseits und gesamtgesellschaftlich gebotener und national verankerter Solidarität andererseits zu suchen ist. In dem Umfang, in dem der Sozialstaat sich nicht nur außerstande sieht, neue auftretende soziale Bedürfnisse in der überkommenen Weise zu befriedigen, sondern auch den bisherigen sozialen Herausforderungen in gleicher Weise und in gleichem Umfang wie früher zu begegnen, stellt sich häufig die Aufgabe, die Balance zwischen gesellschaftlicher Solidarität einerseits und individueller Eigenverantwortung andererseits neu auszutarieren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 1998

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