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5. Europäische Sozialpolitik aus gewerkschaftlicher Sicht

Die europäische Integration ist nicht nur ein wirtschaftliches Projekt. Gerade vor dem Hintergrund der kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa noch in der ersten Hälfte des zu Ende gehenden Jahrhunderts zeigt sich die immense politische Bedeutung des Zusammenwachsens der europäischen Staaten auf einer friedlichen Grundlage. Die deutschen Gewerkschaften haben diese friedensstiftende, der Geschichte geschuldete Dimension der europäischen Integration immer betont und sich deshalb als wichtiger Förderer europäischer Reformprojekte - auch wenn diese im Kern nur der wirtschaftlichen Integration dienten - verstanden. Die deutschen Gewerkschaften haben aber eben die europäische Integration nicht nur als 'Binnenmarktprojekt' oder 'Europäische Wirtschafts-und Währungsunion' verstanden, sondern als den Prozeß der Schaffung einer "Wertegemeinschaft, die auf der Anerkennung grundlegender Menschenrechte, bürgerlicher Freiheiten und sozialer Rechte beruht und die das europäische Gesellschafts- und Sozialmodell begründen" (DGB 1996a: 1).

An die europäische Integration ist die Hoffnung einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in Europa geknüpft - sie ist deshalb kein Selbstzweck und darf also auch nicht nur auf die wirtschaftliche Dimension beschränkt bleiben. Die deutschen Gewerkschaften haben bereits früh auf die Einbeziehung einer 'sozialen Dimension' - insbesondere in die Projekte der achtziger Jahre (also den gemeinsamen Binnenmarkt und die Europäische Währungsunion) - gedrängt; auf europäischer Ebene ist die 'Europäische Sozialcharta' ganz wesentlich auf gewerkschaftlichen Druck zustandegekommen.

Die Probleme der europäischen Wohlfahrtsstaatlichkeit lassen sich nicht mehr auf nationaler Ebene lösen - die europäische Integration schafft die Möglichkeit europäischer Antworten auf vergleichbare Problemlagen und eine solidarisch-kooperative Strategie zu finden statt sich des zunehmenden Wettbewerbs auszuliefern.

Im folgenden sollen die Anforderungen skizziert werden, die die deutschen Gewerkschaften an eine europäische (Sozial-)Politik knüpfen, um dem Ziel des Erhalts und der Stärkung des europäischen Sozialmodells (vgl. DGB 1996a: 1) näherzukommen.

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5.1 Beschäftigungspolitik als zentrales europäisches Politikfeld in der EWU

Die deutschen Gewerkschaften erachten, ähnlich wie die Europäische Kommission, als Grundvoraussetzung für den Erhalt der europäischen Wohlfahrtsstaatlichkeit einen Abbau der Massenarbeitslosigkeit für unverzichtbar. Nur so können die Finanzierungsprobleme der Sozialpolitik eingegrenzt werden. Der DGB fordert deshalb zusammen mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) die Aufnahme der Beschäftigungspolitik in den Tätigkeitskatalog der Gemeinschaft, wie er im Maastrichter Vertrag (Art. 3) festgelegt ist. Unter einer Beschäftigungspolitik versteht der DGB dabei nicht die angebotspolitischen Maßnahmen wie eine weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes, eine Zunahme der Lohnspreizung oder den Abbau von Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechten (vgl. DGB 1995: 2), sondern die Koordination europäischer Finanzpolitik, die dem im EU-Weißbuch 'Wettbewerb, Wachstum, Beschäftigung' angemahnten 'Plädoyer für aktives Handeln' gerecht wird:

- Ausbau transeuropäischer Infrastrukturnetze,

- Förderung in Forschung und Entwicklung,

- Förderung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik,

- Verbesserung der Aus- und Weiterbildung (vgl. Adamy 1990; DGB 1995; DGB 1996b).

Es ist klar, daß die gegenwärtige Interpretation der Maastrichter Konvergenzkriterien und die Konzeption eines 'Stabilitäts- und Wachstumspaktes', wie er von Bundesfinanzminister Waigel vorgeschlagen und vom EU-Ministerrat im wesentlichen bestätigt wurde und der eine aktive Beschäftigungspolitik erheblich behindert, die Unterstützung der Europäischen Währungsunion durch die deutschen Gewerkschaften gefährdet. Dabei steht außer Zweifel, daß die deutschen Gewerkschaften die Schaffung eines einheitlichen Währungsraumes in der EU für alternativlos halten (vgl. Wehner 1992; DGB 1996b: 4) -dies gilt aber nicht für die Verwirklichung neoliberaler finanzpolitischer Träume im Gewand einer Europäischen Währungsunion. [ So berichtet das Handelsblatt am 6.3.1997: "Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Dieter Schulte, schließt eine Revision der positiven Haltung der Gewerkschaften zur Europäischen Wirtschafts - und Währungsunion nicht mehr aus. Zwar gelte noch der Satz, die EWWU berge mehr Chancen als Risiken. Der DGB könne jedoch nicht hinnehmen, daß die Maastricht - Kriterien bis 1999 mit einer Fiskal - und Sozialpolitik erfüllt würden, die allein zu Lasten der Arbeitnehmer gingen." Und der Vorsitzende der IG BAU, Klaus Wiesenhügel, fordert bereits offen eine Verschiebung der Währungsunion.]

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5.2. Gewerkschaftliche Vorstellungen zur europäischen Sozialpolitik

Die deutschen Gewerkschaften haben immer betont, daß die europäische Integration sich nicht nur auf die wirtschaftliche und monetäre Ausprägung beziehen darf, sondern auch einer sozialen Ergänzung bedarf. Die 'soziale Dimension' der europäischen Integration wird dann häufig (z.B. von Berthold (1993) und Siebert (1996)) als Forderung nach einer 'Sozialunion' interpretiert, um - mit guten ökonomischen Gründen - argumentieren zu können, "daß man den Erfolg selbst einer 'richtig' konstruierten Wirtschafts- und Währungsunion in Frage stellt" (Berthold 1993: 79). Tatsächlich aber wird man keinen Hinweis dafür finden, daß die deutschen Gewerkschaften, die großen institutionellen, historisch gewachsenen Differenzen in den nationalen Sozialsystemen und große realwirtschaftliche Leistungsunterschiede in der EU ignorierend, eine Vereinheitlichung der europäischen Sozialpolitik im Sinne einer Sozialversicherungsunion fordern. Man wird überhaupt wenig zur konkreten Ausgestaltung der normativen Zielvorstellung der Schaffung eines 'europäischen Sozialmodells' und der 'sozialen Konvergenz' (vgl. DGB 1996a: 2) finden. Klar allerdings ist: "Auch in Zukunft werden die zentralen Bereiche der sozialen Sicherheit in der Zuständigkeit der Nationalstaaten verbleiben" (Adamy 1990: 161). Die 'soziale Dimension' muß in Europa deshalb auf anderem Weg eingefordert werden: "Sehr unterschiedliche Sozialstrukturen haben sich herausgebildet, die eine Vereinheitlichung der sozialen Leistungen und Systeme weder machbar noch erstrebenswert machen. Wohl aber muß eine europäische Sozialgesetzgebung so ausgestaltet sein, daß sie gleichzeitig die sozialen Errungenschaften der sozial fortschrittlichsten Länder garantiert und den Arbeitnehmern der im Rückstand befindlichen Länder deutliche soziale Vorteile sichert" (Adamy 1990: 154f.).

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5.3 Soziale Grundrechte als Eckpfeiler des 'europäischen Sozialmodells'

Das Anerkenntnis der bestehenden Heterogenität der nationalen Sozialsysteme in der EU einerseits und die gleichzeitige Vermeidung einer sozialen Abwärtsspirale andererseits, ja die Forderung einer gemeinsamen politischen und sozialen Identität in der Europäischen Union wollen die deutschen Gewerkschaften durch die Verankerung sozialer Grundrechte im Maastrichter Vertrag und die Festlegung sozialer Mindeststandards miteinander verknüpfen: Mit der Übernahme der in der 'Europäischen Sozialcharta' rechtsunverbindlich deklarierten sozialen Grundrechte - Recht auf Berufs- und Weiterbildung, Wahrung der Persönlichkeitsrechte in der Arbeitswelt, Recht auf Bildung von Koalitionen und Kollektivverhandlungen, Gleichbehandlung atypischer Beschäftigter sowie Drittstaatenangehöriger und Wanderarbeitnehmer - in den Maastrichter Vertrag wird das "Ziel einer echten Gleichwertigkeit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" (DGB 1996c: 2f.) und damit eine Symbol- und Identifikationsfunktion (vgl. Däubler 1996: 154) verfolgt.

Diesem Zweck soll auch die vollständige Integration des 'Maastrichter Abkommens zur Sozialpolitik' in den Maastrichter Vertrag dienen, dessen Anerkenntnis damit zu einer Grundvoraussetzung für den Beitritt zur Europäischen Währungsunion gemacht werden könnte. Größeres praktisches Gewicht aber hat die weiter auszubauende 'Politik der Mindeststandards', die durch das 'Maastrichter Abkommen zur Sozialpolitik' weiter gestärkt wurde: "Soziale Mindeststandards sollen ein von allen Mitgliedstaaten erreichbares Niveau an arbeits- und sozialrechtlicher Absicherung europaweit festschreiben. Sie sind so auszugestalten, daß sie wirtschaftlich schwächere Länder nicht überfordern, jedoch in möglichst vielen Mitgliedsländern zu sozialem Fortschritt führen. Dabei muß gewährleistet sein, daß höhere soziale Standards in einzelnen Mitgliedstaaten nicht durch europäische Gesetze verschlechtert, vielmehr verbessert werden können" (DGB 1996a: 4, Hervorhebung im Original). Handlungsbedarf sieht der DGB im Bereich des Elternurlaubs, wo auf eine sozialpartnerschaftlich zustandegekommene Vereinbarung zurückgegriffen werden kann, der Verabschiedung einer Entsenderichtlinie, einer Richtlinie über atypische Arbeitsverhältnisse, der Ausweitung der Betriebsratsrichtlinie auf Unternehmen mit weniger als 100 Beschäftigten, der sozialen Gleichstellung von Drittstaatenangehörigen und der sozialen Absicherung von Telearbeit (vgl. DGB 1995: 7ff.; DGB 1996c: 5).

Giandomenico Majone (1996: 244f.) konstatiert: "Es ist nicht zu ersehen, wie sozial akzeptable Niveaus der Umverteilung von Einkommen und der Bereitstellung meritorischer Güter in der Gemeinschaft zentral bestimmt werden können, in der das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung und die politischen, administrativen und rechtlichen Traditionen sich noch derartig stark unterscheiden.... Aus den diskutierten Gründen erscheint ein europäischer Wohlfahrtsstaat weder politisch noch wirtschaftlich machbar.... Das 'soziale Europa' der Zukunft sollte sich auf sozialregulative Politik konzentrieren und die redistributive Sozialpolitik der nationalen oder subnationalen Ebene überlassen." Ganz in diesem Sinne ist die gewerkschaftliche 'Politik der Mindeststandards' und die Forderung nach Übernahme von sozialen Grundrechten in die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union zu verstehen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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